- Die Hohenzollern: gemeineuropäisch
Erfrischend, wenn ein Historiker aus Cambridge die Geschichte Preußens schreibt. Jens Bisky freut sich über den weiten, freien Blick des Engländers, über sein Erzähltalent und seine Unverbissenheit. Clarks größte Tugend: klärende Skepsis.
Ob von links oder rechts, aus liberaler, nationaler oder marxistischer Perspektive – die Geschichte Preußens ist oft von ihrem Ende her geschrieben worden, als habe sich in der Reichsgründung des Jahres 1871 oder in der Auflösung Preußens durch die Alliierten 1947 die Wahrheit des vergleichsweise kurzlebigen Staatsgebildes offenbart. Dabei wurde das «Preußische» zu einer Art überhistorischer Substanz: zu einem Tugendkern, auf den man sich berufen konnte, oder zu einer finsteren Macht, die demokratische Exorzisten auf den Plan rief.
Christopher Clark, der in Cambridge Neuere Europäische Geschichte lehrt, hat am Aufrechnen, Notenverteilen, am Verdammen oder Feiern wenig Vergnügen. In seiner Geschichte Preußens, 2006 unter dem Titel «The Iron Kingdom» zuerst veröffentlicht, betreibt er mit großer Menschenfreundlichkeit und Erzählfreude das Geschäft historischer Aufklärung. Er fragt also gut historistisch nach Kräften, Konstellationen, Möglichkeiten.
Treffender als mit dem Wort «trostlos» kann man den preußischen Beginn nicht bezeichnen. Zwar war die Mark ein Kurfürstentum des Heiligen Römischen Reiches, aber es handelte sich überwiegend um Kolonistenland. Die Böden gaben nicht viel her, die Städte waren von ansehnlicher Mickrigkeit. «Natürliche Grenzen» gab es nicht. Man lag geografisch ungünstig und blieb lange auf das Wohlwollen der entfernten Nachbarn, der Großmächte, angewiesen. Was dies heißen konnte, erlebten die Märker während des Dreißigjährigen Krieges, der das Land verwüstete und ein Gefühl anhaltender Bedrohung zurückließ.
Militär, Untertanen, Expansion?
Das Forcierte der späteren Entwicklung, auch die gewaltigen Rüstungsanstrengungen, haben hier eine Ursache. Aus diesen spezifischen Bedingungen erklärt Clark die Besonderheiten, ohne zur Hilfskonstruktion eines «Sonderwegs» greifen zu müssen. Vielmehr zeigt er mit polemischer Lust, wie zeitgebunden, konventionell, gemeineuropäisch üblich vieles von dem war, was die Hohenzollern unternahmen, um ihre Macht zu sichern und auszubauen.
Militarisierung der Gesellschaft? Keineswegs – oder doch nicht so, wie man es sich gemeinhin vorstellt. Zum einen gab es im 18. Jahrhundert zahlreiche Befreiungen vom Militärdienst, der überdies auf wenige Wochen im Jahr beschränkt war. Zum anderen spielten Soldaten im Wirtschaftsleben der Städte und Dörfer wohl eine Rolle, aber im Ganzen folgte dieses einer eigenen Logik.
Untertanengeist? Clark führt den Leser in die St.-Gotthardt-Kirche in Brandenburg und weist ihn auf die großen steinernen Epitaphe hin, Denkmäler bürgerlichen Stolzes. Und von 61.000 Höfen in Ostpreußen wurden Ende des 18. Jahrhunderts 13.000 von Freibauern bewirtschaftet.
Aggressivität, Eroberungsdrang? Als Beleg dafür wurden gern der Überfall Friedrichs II. auf Schlesien und die dreimalige Teilung Polens angeführt. Der Angriff auf die geschwächten Habsburger im Jahr 1740, den Friedrich II. unternahm, scheint Clark im «Kontext der zeitgenössischen Machtpolitik» keineswegs außergewöhnlich. Die Einverleibung Polens hingegen konnte mit aufklärerischen, von Franzosen und Engländern gern genutzten Gemeinplätzen gerechtfertigt werden. Diesen zufolge durften Besitzer, die ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigten, durch neue ersetzt werden, die eine «Verbesserung der Sitten» versprachen. Wären, so meint Clark, die Polen im 19. Jahrhundert von einer Hungerkatastrophe heimgesucht worden wie die Iren unter britischer Herrschaft, «würden wir heute darin Vorboten der Naziherrschaft nach 1939 sehen».
Der weite, freie Blick gehört ebenso zu den Stärken des Buches wie Clarks Geschick, aufschlussreiche Details für die Darstellung zu nutzen – sei es die Gestalt des Forum Fridericianum in Berlin oder die Geschichte der Frau von Friedland, die ihre Rechte als Gutsbesitzerin energisch vertrat und die Landwirtschaft modernisierte, etwa indem sie Vieh aus ihren Stallungen ohne Pachtzahlungen an ihre Untertanen verlieh.
Klärende Skepsis: Stimmt denn das?
Glänzend werden die Aufklärung, überwiegend durch Beamte, und der frühe, ganz auf die Person Friedrichs II. zugeschnittene Patriotismus charakterisiert. Der Pietismus – neben Kant, Marx und Hegel einer der größten preußischen Exportschlager – findet ebenso seinen Platz, wie die «schwarze Legende» vom preußischen Junker entsorgt wird. Unter den zahlreichen Preußen-Büchern von Heinrich von Treitschke bis zu Sebastian Haffner besticht Clarks Geschichte dadurch, dass sie erzählt, was unsere Vorfahren über die Hohenzollern und ihr Werk dachten, und zugleich nach der Wahrheit der Klischees und Glaubenssätze fragt. Sie verlangt vom Leser Achtung vor dem Vergangenen und erzieht ihn zur Skepsis. Spätestens in der Mitte des unterhaltsam geschriebenen, leider spürbar rasch übersetzten Bandes hat man die Frage: «Stimmt denn das?» verinnerlicht. Diesen Gewinn kann man kaum hoch genug einschätzen.
Wo andere danach fragten, wie man Preußen loswurde, um in Europa anzukommen, schildert Clark ein europäisches Preußen: die Schicksale einer überspannten Mittelmacht, die durch gewaltige Kulturleistungen wie den Rechtsstaat, eine verlässliche Verwaltung, ein exzellentes Bildungssystem reüssierte. Es ist wohl der Preis für diese Entdramatisierung des Geschichtsbildes, dass eine der prominenten Episoden, die Reformzeit, auffallend blass bleibt. Von Hardenberg und Stein, von ihrem König, Friedrich Wilhelm III. (der Preußen mit zaghafter Hand und überfordertem Verstand in eine Glanzzeit führte), von der Schärfe der Debatten nach der Französischen Revolution und der Niederlage 1806, von der Romantik, zum großen Teil wiederum ein Werk der Beamten, bekommt man eine recht blutarme Vorstellung.
Die wissen, dass sie nichts taugen
Die These, Preußen sei 1871 in Deutschland auf- und untergegangen, ist weder neu, noch scheint sie ganz überzeugend. Zumindest blieb das Land der Hohenzollern in Zuneigung und Abwehr ein Fixpunkt für alle Deutschen – selbst für die künstlerischen und politischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Erst das «Dritte Reich», seine Verbrechen und Kriege, zerschnitten die Tradition und machten jedes direkte Anknüpfen unmöglich – schon weil Preußen wieder auf Brandenburg reduziert wurde. In der Durchführung ist Clark dann auch weit entfernt davon, eine andere Art der Zwangsläufigkeit zu konstruieren.
Man mag mit dem Historiker Joachim Fest daran zweifeln, dass Preußen jenseits der sittlichen Idee des Staates eine begeisternde Idee besaß. Man mag darauf hinweisen, welche geringe Rolle individuelles Glück in der preußischen Geschichte spielte. Man mag mit Theodor Fontane behaupten, dass die Preußen wenigstens wissen, dass sie nichts taugen und dass mit dieser Einsicht die Möglichkeit der Besserung gegeben ist. Wer wissen will, wie es gewesen ist, wird hier bestens informiert. Nach dem Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats vom 25. Februar 1947, das Preußen als «Träger des Militarismus und der Reaktion» auflöste, sind Erinnerung und Geschichtsschreibung lange von zeithistorischen und vergangenheitspolitischen Fragen bestimmt worden. Noch die Rehabilitierung der «progressiven Seiten» in der DDR oder die erkenntnisarme Floskel vom «Doppelgesicht» Preußens, die 1981 in der großen West-Berliner Ausstellung in Szene gesetzt wurde, folgten überwiegend aktuellen Interessen. Da hat die so genaue wie gelassene Perspektive des Historisten, der Christopher Clark ist, etwas Befreiendes.
Mit diesem Buch ist die Historisierung Preußens an ein sehr erfreuliches Ende gekommen. Und doch wird dies das letzte Wort nicht sein. Wenn eines Tages Idee und Wirklichkeit unserer Vorstellung von Freiheit einen Geschichtsschreiber finden, der nicht an «langen Wegen», sondern an inneren Widersprüchen interessiert ist, wird man auf Preußen zurückkommen.
Jens Bisky arbeitet als Feuilleton-Redakteur der «Süddeutschen Zeitung» in Berlin. 2005 erschien sein Essay «Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet».
Christopher
Clark
Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947
Aus dem Englischen von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas
Pfeiffer.
DVA, München 2007. 896 S., 39,95 €
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