- Europa hat keine Wurzeln, nicht einmal christliche
Der Historiker Paul Veyne erzählt, wie Griechen und Römer ihre Fötter verehrten und wie Kaiser Konstantin das Christentum etablierte
Gerade erst wurden Leben und Herrschaft Konstantins des Großen mit einer monumentalen Ausstellung in Trier gewürdigt: mit mehr als 1500 kostbaren Exponaten aus 160 Museen und 20 Ländern. Die Schau feierte Besucherrekorde, obwohl – oder gerade weil – Konstantin bis heute eine umstrittene Persönlichkeit ist: ein Heiliger oder ein Machtmensch? Ein Zyniker oder ein gläubiger Christ? An Quellen und archäologischen Zeugnissen lässt sich die Frage nicht leicht entscheiden; umso mehr Spielräume öffnen sich der Spekulation. Unzweifelhaft ist, dass mit der konstantinischen Wende das Christentum geschützt, vielleicht sogar gerettet wurde. Inwiefern aber hat Konstantin, der bis zu seinem Tod 337 n. Chr. drei Jahrzehnte lang als römischer Kaiser herrschte, als «Retter der Menschheit» gewirkt, wie Paul Veyne behauptet?
In diesen Tagen sind zwei Bücher dieses überragenden Gelehrten und Repräsentanten – gelegentlich auch Außenseiters – der französischen Altertumswissenschaften auf Deutsch erschienen. Das Buch über «Die griechisch-römische Religion» ist nur ein Kapitel aus dem knapp 900 Seiten umfassenden und bisher unübersetzten Hauptwerk «L’Empire gréco-romain» (2005); der andere Band, «Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht», kam im Original 2007 heraus. Zuvor hatte Veyne, Jahrgang 1930, über die erotischen Fresken in der «Villa der Mysterien» von Pompeji (1998) oder über Liebe, Ehe und Erotik im vorchristlichen Rom (2005) publiziert – unerschütterlich produktiv auch im fortgeschrittenen Alter.
In seinen Studien verfolgt Veyne – spätestens seit «Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike» (1976) – die Strategie, den vergangenen Lebenswelten wie ein Ethnologe zu begegnen: mit methodisch geübter Vorsicht und Aufmerksamkeit für das Fremde und Unbekannte. Von dieser Strategie – vergleichbar mit Michel Foucaults «Archäologie», aber auch mit Brechts Dramaturgie der «Verfremdung» – handelte schon seine Antrittsvorlesung am Collège de France: «Die Originalität des Unbekannten» (1976). Mit Hilfe dieses Verfahrens lässt sich immer wieder Neues entdecken. Das Risiko besteht jedoch in der Übertreibung: wenn das Fremde so fremd wird, dass es nur noch als Kuriosum bestaunt werden kann. Paul Veyne entzieht sich dieser Gefahr, und zwar, indem er einerseits noch besonders heiß umkämpfte Themen – wie den aktuellen Streit um die Gewaltneigung monotheistischer Religionen – mit geradezu demonstrativer Gelassenheit behandelt. Andererseits aber bewahrt er einen wachen Sinn für die widersprüchlichen Erscheinungsformen einer Wirklichkeit, die möglichst genau wahrgenommen, nicht bloß idealisiert oder abgewertet werden soll.
Die Götter kreisen um sich selbst
Paul Veyne stellt also Leitfragen – die Frage etwa nach den Unterschieden zwischen der griechisch-römischen und der jüdisch-christlichen Religion. Leitende Antworten aber gibt er nicht. Seine Antworten sind meist nicht populär, sondern überraschend, weil sich in ihnen keine erwartbaren Tendenzen spiegeln. Wer hat zuletzt – als erklärtermaßen ungläubiger Wissenschaftler – das Christentum als «Meisterwerk» charakterisiert? Oder gar die Kirche als das «andere Meisterwerk»? Was heißt hier überhaupt «Meisterwerk»? Wie können Religionen mit Hilfe ästhetischer Begriffe rezensiert werden? Wer hat je – nach Jacob Burckhardts vernichtendem Urteil in «Die Zeit Constantins des Großen» (1853) – den christlichen Kaiser als «Retter der Menschheit» vorgestellt? Wann wurde schon, außerhalb von Theologie oder Erbauungsliteratur, so inspiriert über die christliche Religion der Liebe geschrieben, ohne dabei die autoritären, sektiererischen Züge der Mission zu verschweigen? Veynes Portrait des vierten Jahrhunderts wirkt ähnlich plastisch, detailfreudig und zugleich konzentriert auf die großen Linien wie Alain Badious Interpretation des 20. Jahrhunderts (2005); in gewisser Hinsicht schreibt er über Konstantin wie Badiou über Mao.
Die Geschichte der konstantinischen Ära setzt ein vielschichtiges Bild der griechisch-römischen Religion voraus (die in den Übersetzungen der beiden Bücher bei Ursula Blank-Sangmeister als «Paganismus», bei Matthias Grässlin als «Heidentum» bezeichnet wird): eine Religion, die verschiedene Göttinnen und Götter verehrt, die, trotz aller Überlegenheit, den Menschen ähneln. Sie haben einen Körper, sie sprechen und handeln, lieben und hassen, erscheinen und verschwinden wie die Menschen. Sie bilden gleichsam «eine lebendige Spezies», vernunftbegabt und unsterblich – während die Menschen vernunftbegabt und sterblich, die Tiere sterblich und unvernünftig sind.
Die Götter sind, so Veyne, «mächtige Fremdlinge mit einem eigenen und auf sich selbst konzentrierten Leben, unabhängig von den Menschen, die ihrerseits ein eigenständiges Dasein führen». Sie werden zwar von den Menschen geliebt, interessieren sich aber umgekehrt für die Menschen nur in eingeschränktem Maße «und aus den gleichen sehr unterschiedlichen Gründen und Anlässen, aus denen die Menschen sich für ihresgleichen interessieren. In erster Linie sind sie an sich selbst interessiert, und ihre Hauptsorge kreist nicht um das Wohl der Menschheit».
Jubel für den Trickster Hermes
Die griechisch-römischen Götter begehrten nur ausnahmsweise menschliche Frauen oder Männer. Wie aber zeigten die Menschen der Antike ihre Liebe zu den Göttern? Durch eine Vielzahl von Praktiken, die sich weder als Rituale noch als Ausdrucksformen eines Glaubens zureichend fassen lassen. «Wenn man an Heiligtümern oder Götterbildern vorbeikam, versäumte man es nie, ihnen mit den Fingerspitzen einen Kuß zuzuwerfen. Diese Inbrunst ist auch in den Homerischen Hymnen spürbar: dankbare Anerkennung und Mitgefühl für Demeter, die Spenderin des Getreides, die überall nach ihrer vermißten Tochter sucht, Bewunderung für Apoll, der die Schlange tötet, sogar hymnischer Jubel für den Trickster Hermes.» Inbrunst und Jubel blieben ganz unpathetisch; sie verbanden sich mit kleinen Gesten, Konventionen des Opfers oder der Chorgesänge, nicht mit Orgien und Ekstasen. Religiosität entsprang keinem Spektakel. Selbst die antiken Mysterien fungierten weder als Heilslehren noch als Offenbarungen, sondern als Versicherungen: als «eine Art Freimaurertum des Jenseits und sonst nichts. Sie garantierten den Initiierten nicht das Heil, sondern ein privilegiertes Dasein im Jenseits, das dank der Protektion durch den Gott, in dessen Kult man eingeweiht war, substantiell glücklicher war als das der anderen».
Was sonst durfte im Austausch gegen die Praktiken einer «Gewohnheitsreligion» erwartet werden? Die alltäglichen Zeremonien sollten zur Vermeidung möglichen Unglücks beitragen, zur Besänftigung der Ungunst und des Zorns der Götter. Belehrt vom Umgang mit Herrschern und Mächtigen wurde keine Liebe erhofft, kein Mitleid, keine spezifische Aufmerksamkeit oder dauerhafte Unterstützung, sondern allenfalls eine Bevorzugung, eine spontan gewährte Vergünstigung. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit – dass irgendwann die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden – gehörte dagegen nicht zum Kanon religiöser Utopien. In solcher Sehnsucht repräsentierte sich vielmehr ein moralisches Bewusstsein, das die Götter mit den Menschen teilten, ganz unabhängig von den Ausdrucksformen der Religion.
Vor diesem Hintergrund skizziert Veyne die Geschichte des Christentums in der Spätantike; und erneut vermeidet er die schnellen, eindeutigen Antworten. Der Erfolg der christlichen Religion wird einerseits auf die Entscheidung des Kaisers zurückgeführt, auf seine «hohe Mission», in gewisser Hinsicht auf den «banalen Traum» Konstantins vor der Entscheidungsschlacht um Italien, gegen den Konkurrenten Maxentius an der Milvischen Brücke. Andererseits wird dieser Erfolg als Effekt einer innovativen, einer «leidenschaftlichen Liebesgeschichte» gewürdigt, «die sich zwischen Gottheit und Menschheit ereignet – oder vielmehr zwischen Gott und jedem von uns». Die Pointe der christlichen – und zuvor der jüdischen – Religion bestehe in einer symmetrischen Auffassung der Liebe zwischen Gott und Menschen: Nicht nur die Menschen lieben Gott, sondern auch umgekehrt. Den Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Religiosität erläutert Veyne an einem schlichten Beispiel: «Eine Frau aus dem Volk kann ihren Familien- oder Ehekummer der Jungfrau Maria erzählen; falls sie sich mit denselben Sorgen an Hera oder Aphrodite gewandt hätte, würde sich die Göttin wohl gefragt haben, was nur in diese dumme Bäuerin gefahren ist, die ihr da von Dingen erzählt, mit denen Götter nichts zu schaffen haben.»
Der Kaiser war ein Revolutionär
Wie aber wird die Einsicht, dass Gott die Menschen liebt, bewährt? Der Siegeszug der neuen Religion, dieser «Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht», kann jedenfalls nicht aus der Entdeckung einer neuen Wahrheit abgeleitet werden. Schon in seinen Studien zur Frage «Glaubten die Griechen an ihre Mythen?» (1983) hatte Veyne behauptet, die Wahrheitsfrage sei allemal «weniger zwingend als man glaubt». Denn «wir fragen uns nicht immer, bei jedem Thema, ob eine Sache wahr ist; gelegentlich vermeiden wir diese Fragestellung sogar aus Vorsicht oder Respekt». Mit dem Christentum triumphierte kein Prinzip, nicht einmal der Ein-Gott-Glaube: «Der Monotheismus als solcher ist keine besonders aufregende Sache», bemerkt Veyne. «Versehen mit drei übernatürlichen Liebesobjekten – Gott, Christus und später Maria – ist die christliche Religion eigentlich polytheistisch.»
Zwar war das Christentum aufgrund «seiner Originalität, seines Pathos, seines kraftvollen Auftretens und Sinns für Organisation» attraktiv für die römischen Eliten und die Bevölkerung des Imperiums; doch verdankte es seine Durchsetzung, daran lässt Veyne keinen Zweifel, ausschließlich dem Kaiser und dessen Bekehrung. Die oft kritisierte konstantinische Wende wird ernstgenommen als «aufrichtiger, uneigennütziger Schritt ohne ideologische Hintergedanken». Konstantin handelte aus «Frömmigkeit, für das Heil seiner Untertanen und des Menschengeschlechts, aber nicht, weil er glaubte, daß dadurch die Bürger seines Reiches leichter beherrschbar seien». Gegen verbreitete Vorurteile wiederholt Veyne, der ehemalige Schüler des Totalitarismus-Theoretikers Raymond Aron, mehrfach, Konstantin habe als visionärer Politiker, als «Revolutionär» gewirkt, als «novator et turbator rerum», Erneuerer und Unruhestifter. Ihm sei es beispielsweise nicht um die Etablierung der Sonnenfesttage – vom Sonntag bis zur Weihnachtsfeier – gegangen, sondern um die Abschaffung blutiger Tieropfer.
Respekt und Aufmerksamkeit, die Haltung des Ethnologen oder Archäologen, dominieren Veynes Darstellung der Religion. Nichts liegt ihm ferner als die Diagnosen der Soziologie, von Émile Durkheim bis Max Weber: daher die Rede vom «Meisterwerk», vom «Bestseller» der christlichen Religion. Diese Begriffe sind nicht beiläufig gewählt; sie setzen fort, was Veyne bereits zur Frage, ob die Griechen an ihre Mythen glaubten, programmatisch entwickelt hatte: eine ästhetische Theorie der Religionen, eine Geschichtsschreibung der konstitutiven Einbildungskraft.
Diese Position ermöglicht nicht nur eine positive Neubewertung der Regierung Konstantins, sondern auch einen skeptischen Schlusskommentar zur These von den christlichen Wurzeln Europas. Gewiss sind manche Traditionen Europas christlich; und nicht zufällig beeindru-cken sie gerade als ästhetische Erbschaften – von der Architektur der gotischen Kathedralen bis zu Bachs Matthäuspassion. Aber Europa ist kein Organismus, kein Baum. «Europa hat keine christlichen oder anderen Wurzeln, sondern es hat sich in Entwicklungsstufen, die nicht vorhersehbar waren, schrittweise herausgebildet; keiner seiner Bestandteile ist ursprünglicher als irgendein anderer. Europa war nicht im Christentum angelegt, es ist nicht die Entwicklung eines Keims, sondern das Ergebnis einer Epigenese (einer nachträglichen Entstehung). Das Christentum übrigens ebenfalls.»
Thomas Macho lehrt Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2007 erschien der von ihm mit Kristin Marek herausgegebene Band «Die neue Sichtbarkeit des Todes»
Paul
Veyne
Als unsere Welt christlich wurde.
Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht
Aus dem
Französischen von Matthias Grässlin.
C. H. Beck, München 2008. 223 S., 19,90 €
Die
griechisch-römische Religion. Kult, Frömmigkeit und
Moral
Aus dem Französischen von Ursula
Blank-Sangmeister (unter Mitarbeit von Anna Raupach). Mit einem
Geleitwort von Christian Meier.
Reclam, Stuttgart 2008. 198 S. 19,90 €
Glaubten
die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive
Einbildungskraft
Aus dem Französischen von
Markus May.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1987. 186 S. 7 €
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