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Verfassungsschutz - Das NSU-Versagen wurzelt in Bad Kleinen

Nicht erst beim NSU versagten die Behörden massiv. Schon vor 20 Jahren endete eine Mission gegen die letzten RAF-Kommandanten in Bad Kleinen in einem Fiasko. Die Parallelen sind immens: Bis heute hat der Verfassungsschutz nichts gelernt

Autoreninfo

Von Andreas Förster ist vor Kurzem das Buch Eidgenossen contra Genossen - Wie der Schweizer Nachrichtendienst DDR-Händler und Stasi-Agenten überwachte im Berliner Ch. Links Verlag erschienen.

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Am 4. Juli 1993 steht Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) auf den Stufen seines Bonner Ministeriums. Er trete von seinem Ministeramt zurück, sagt er in die Mikrofone der Journalisten. „Im Zusammenhang mit dem polizeilichen Einsatz vom 27. Juni in Bad Kleinen und seiner Aufarbeitung sind offensichtlich Fehler, Unzulänglichkeiten und Koordinationsmängel innerhalb von Bundesbehörden deutlich geworden“, sagt Seiters. Dafür übernehme er die politische Verantwortung.

Im November 2011 wird Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) in einem Zeitungsinterview die Frage gestellt, warum die deutschen Sicherheitsbehörden vor dem Auffliegen der Mörderbande „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) die Existenz von rechtem Terror in der Bundesrepublik jahrelang verneint hätten. „Die Sicherheitsbehörden hatten keine entsprechenden Erkenntnisse“, räumt der Minister ein. Wenige Tage später, vor dem Innenausschuss des Bundestages, wird Friedrich noch deutlicher: „Ich glaube, dass wir es mit einer Mischung aus subjektiven Fehleinschätzungen, aber auch strukturellen Mängeln in den Sicherheitssystemen zu tun haben“, sagte er am 21. November 2011. Innenminister Friedrich ist noch immer im Amt.

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Zwei Vorgänge aus zwanzig Jahren. Zwei historische Debakel deutscher Sicherheitsbehörden. Zweimal Versagen, Vertuschen, zweimal das Versprechen, dass man Konsequenzen ziehen werde und nun alles anders, besser wird. Lassen sich der missglückte Polizeieinsatz von Bad Kleinen, bei dem 1993 ein GSG-9-Beamter und ein mutmaßlicher RAF-Terrorist ums Leben kamen, und das Auffliegen einer rechten Terrorzelle, die jahrelang unerkannt mordend und raubend durch Deutschland zog, miteinander vergleichen?

Tatsächlich gibt es eine Reihe von Parallelen zwischen diesen Skandalen: das erschreckend unzulängliche Wissen der Sicherheitsbehörden über ein extremistisches Milieu; ein mangelnder Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz; selbstherrlich agierende Behörden; aus dem Ruder laufende V-Leute; die stillschweigende Billigung von Straftaten durch den Verfassungsschutz; Vertuschung von Verantwortlichkeiten; oberflächliche Umorganisation in den Behörden nach dem Skandal statt tiefgreifender Strukturreformen.

Dass sich all dies in der Aufarbeitung der Affären um Bad Kleinen und den NSU findet, zeigt auch, dass aus den Fehlern von vor zwanzig Jahren nie wirkliche Konsequenzen gezogen wurden. Andernfalls hätte man das Morden des NSU vielleicht verhindern können.

Am deutlichsten werden die Parallelen zwischen Bad Kleinen und der NSU-Affäre, wenn man sich das Agieren des Verfassungsschutzes und dessen Umgang mit V-Leuten betrachtet. Denn auch schon bei den Ereignissen vor zwanzig Jahren spielte ein Spitzel des Geheimdienstes eine zentrale Rolle.

Die Rede ist von Klaus Steinmetz alias VM 704. 1984 gelingt es dem rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz, den damals 24-Jährigen als V-Mann anzuwerben. Steinmetz ist ein typisches linkes Szenegewächs. Er ist bei der Friedensbewegung dabei, engagiert sich bei den Grünen. In Wiesbaden, wo er sich damals am häufigsten aufhält, gerät er in die Unterstützerszene der RAF. Regelmäßig berichtet er fortan dem Verfassungsschutz über Personen und Aktionen der autonomen Szene im Rhein/Main-Gebiet. Im Juli 1993 wird ihn der damalige Innenminister Walter Zuber (SPD) im Innenausschuss des Mainzer Landtages als „Spitzenquelle mit guten Arbeitsergebnissen“ loben.

Tatsächlich wurde VM 704 in „diffiziler Kleinarbeit“, wie sich das Landesamt für Verfassungsschutz später selbst lobt, über diverse linksextremistische Organisationen und RAF-Ebenen schließlich an die Kommandoebene der „Rote Armee Fraktion“ herangespielt. Ganz glatt geht das nicht – 1989 wird Steinmetz festgenommen, weil er an zwei Einbruchsdiebstählen beteiligt war. Das Verfahren geht durch mehrere Instanzen, am Ende kommt er mit einer Bewährungsstrafe davon. Ob der Verfassungsschutz daran gedreht hat, wird nie geklärt.

Im Februar 1992 trifft sich Steinmetz in Paris mit Birgit Hogefeld, die damals der Kommandoebene der sogenannten dritten RAF-Generation angehörte. Erstmals erreicht damit ein V-Mann des Verfassungsschutzes dieses Level. Der Mainzer Innenminister Zuber und seine Verfassungsschützer sind begeistert von ihrem Erfolg, weihen aber lediglich den damaligen BfV-Chef Eckart Werthebach ein. Die Fachabteilungen des Kölner Bundesamtes bleiben hingegen ahnungslos, und auch auf Bundesebene wird angeblich nur Innenstaatssekretär Hans Neusel in allgemeiner Form informiert.

Was das die Agenten nicht wissen – VM 704 offenbart längst nicht jede seiner RAF-Aktivitäten dem Dienst. So verschweigt er weitere Treffen mit RAF-Mitgliedern und Aufträge, die er für die Terroristen zu erledigen hat. In Notizbüchern, die man nach dem Einsatz von Bad Kleinen bei Hogefeld und Wolfgang Grams sicherstellte, fanden sich Vermerke, wonach Steinmetz fest in die Struktur der Terrorgruppe eingebunden war. In einem späteren Verfahren werfen ihm Ermittler daher vor, „tragendes Mitglied der RAF“ gewesen zu sein. Unter dem Decknamen „Bruno“ habe er „möglichst saubere Dokumente und eine Wohnung in Mainz beschaffen sollen“, heißt es in den Unterlagen. In seinem Auto finden sich später auch Spuren des Sprengstoffs, mit dem die RAF am 27. März 1993 den Neubau der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt in die Luft jagte.

Ob die Mainzer Verfassungsschützer von den Anschlagsplänen auf Weiterstadt wussten und die Füße still hielten, um ihre Quelle nicht auffliegen zu lassen, ist bis heute ungeklärt. Fakt ist, dass einen Monat nach dem Bombenattentat Steinmetz der Behörde von einem geplanten Treffen mit RAF-Führungskräften im Juni 1993 in Bad Kleinen berichtet. Nun endlich schalten die Verfassungsschützer die Exekutive ein: Anfang Mai 1993 werden Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt über die Verbindungen von VM 704 zur RAF-Kommandoebene in Kenntnis gesetzt.

Die damaligen Chefs der beiden Behörden, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl und BKA-Präsident Hans-Ludwig Zachert, sind völlig verblüfft. Seit Jahren ist die aktuelle RAF-Generation von ihrem Radar verschwunden, außer den Anschlägen hat man so gut wie keine Erkenntnisse über die Aktivisten und ihre Aufenthaltsorte gewinnen können. Und jetzt stellt sich heraus, dass der Verfassungsschutz offenbar seit Jahren dicht dran ist an der Terrortruppe.

Die Behörden verständigen sich auf den Zugriff. Bundesanwalt von Stahl gibt das Ziel vor: So viele RAF-Mitglieder wie möglich sollen bei dem Treffen in Bad Kleinen festgenommen werden. Doch die schlecht vorbereitete Polizeiaktion in dem unübersichtlichen Bahnhof von Bad Kleinen endet im Desaster. Der GSG-9-Beamte Michael Newrzella und der mutmaßliche RAF-Terrorist Wolfgang Grams sterben bei einem Schusswechsel. Hogefeld wird festgenommen und später zu lebenslanger Haft verurteilt. Klaus Steinmetz kann vorerst abtauchen.

Die Mainzer Landesregierung und die Bundesregierung unternehmen in den ersten Tagen nach Bad Kleinen alles, um die Verwicklung des V-Manns in das Geschehen von Bad Kleinen zu vertuschen. Der Generalbundesanwalt und das BKA, die die Anwesenheit von VM 704 schon einen Tag nach der Schießerei öffentlich machen wollen, werden zum Schweigen verdonnert.

Erst am 16. Juli 1993 räumt Mainz die Existenz von VM 704 ein. Gegen Steinmetz wird, nicht zuletzt wegen der Eintragungen in den Notizbüchern von Hogefeld und Grams, ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der möglichen Beteiligung am Sprengstoffanschlag von Weiterstadt eingeleitet, auch ein Haftbefehl wird erlassen.

Aber die Ermittlungen gestalten sich schwierig. Ex-BKA-Chef Zachert ist noch heute überzeugt davon, dass der Verfassungsschutz viel mehr gewusst habe, aber nur das Notwendigste davon übermittelte. „Wir haben viel nachgehakt, aber die Erwiderungen waren immer sehr knapp“, sagte er jüngst in einem Fernsehinterview. „Ich gehe davon aus, dass wir nur 60 Prozent des Gesamtwissens überstellt bekommen haben.“

Das Verfahren gegen Steinmetz wird schließlich eingestellt. Der V-Mann lebt heute mit neuer Identität im Ausland. Die Kosten für sein Schutzprogramm trägt der Steuerzahler.

Wer die Geschichten um den VM 704 von 1993 kannte, wird nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 ein Déjà-vu erlebt haben. Denn auch bei den Ermittlungen im Umfeld des NSU sind die Fahnder in den vergangenen anderthalb Jahren immer wieder auf V-Leute des Verfassungsschutzes gestoßen.

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Bundes- und Landesämter hatten insgesamt mehr als zwei Dutzend Spitzel im nahen und weiteren Umfeld des Terrortrios platziert. Die drei, vier Spitzenquellen darunter waren wie V-Mann Steinmetz vom Verfassungsschutz über Jahre hinweg aufgebaut und mit viel Geld bei ihrem Aufstieg in der extremistischen Szene unterstützt worden. Das alles geschah, obwohl man am Beispiel von Steinmetz schon 1993 erlebt hatte, wie ein V-Mann aus dem Ruder laufen kann, wie er seine Auftraggeber täuschte, wie er faktisch unter den Augen des Staates die RAF-Terroristen in der Illegalität und bei ihren Verbrechen unterstützte.

Zu einem Umdenken bei der Führung von V-Leuten im extremistischen Bereich haben die Ereignisse um Bad Kleinen aber offenbar nicht geführt. Neonazi-Spitzel aus dem NSU-Umfeld wie der Thüringer Tino Brandt, wie Thomas R. alias „Corelli“, Kai D. oder Carsten Sczepanski („Piatto“) in Brandenburg ließ man an der langen Leine laufen, nahm Straftaten von ihnen stillschweigend in Kauf, warnte sie vor Durchsuchungen und nahm dämpfenden Einfluss auf Ermittlungsverfahren gegen sie.

Über Tino Brandt, der anfangs am dichtesten dran war an dem im Januar 1998 abgetauchten Trio, ließ der Verfassungsschutz sogar Geld an die flüchtigen Neonazis Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe fließen – warum auch immer. Erkenntnisse über Helfer und mögliche Verstecke der Drei hielt der Dienst so lange zurück, bis es zu spät war und das Trio vom Radar verschwand. Und als die rechte Terrorgruppe im November 2011 aufflog, wurde wie zwei Jahrzehnte zuvor Verantwortung vertuscht, wurden Akten geschreddert und Informationen über V-Leute so lange wie möglich zurückgehalten.

Wenigstens eines aber haben die Verantwortlichen aus Bad Kleinen gelernt: Ein schneller Ministerrücktritt macht es nur schwieriger, die Aufklärung von Behördenversagen kontrolliert zu steuern. Ex-Bundesanwalt von Stahl brachte es jetzt in einem Fernsehinterview auf den Punkt: „Wenn Seiters 1993 nicht gegangen wäre, dann hätten wir das alles innerhalb eines Vierteljahres gut durchgestanden.“

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