
- Mit Musik gegen das Töten
Unser Kolumnist weilt in den Rocky Mountains und erinnert sich an den Jahrhundert-Violinisten Yehudi Menuhin, der auch sein Lehrer war – und außerdem ein überragender Humanist und Denker
Während ich diese Zeilen schreibe, befinde ich mich im sommerlichen Aspen, tief in den Rocky Mountains. Hier wurde 1949 das „Aspen Music Festival and School“ gegründet – es zählt heute zu den größten Musikfestivals der Welt. Heute Abend spiele ich ein besonderes Werk: „Unfinished Journey“ (Unvollendete Reise) für Violine und Orchester, vom libanesischen Komponisten Bechara el Khoury. Ich habe es 2009 in Auftrag gegeben, um den großen Geiger Yehudi Menuhin an dessen zehntem Todestag zu würdigen. El Khoury ist es meisterhaft gelungen, die Einflüsse von Ost und West miteinander zu verschmelzen und so den Geist Menuhins in traumhafte Musik zu verwandeln.
„Ich weiß nun, dass es einen Gott im Himmel gibt“, war Albert Einsteins Kommentar zu Yehudi Menuhins Konzertdebüt, das dieser mit sieben Jahren in Berlin gab. Bruno Walter, der Dirigent des Abends, nannte ihn „den kleinen Jungen mit der großen Seele“. Obwohl Menuhin schon lange tot ist, werde ich ständig an ihn erinnert. Wenn ich Aufnahmen von ihm höre, dann denke ich natürlich an sein Spiel und an seinen unverwechselbaren Klang. Die Intensität der Emotionen, die er an den Hörer weitergibt, ist atemberaubend.
Aber hinter dem Geiger Menuhin steckte auch ein großer Humanist und Denker, der einen Großteil seiner Einnahmen durch zahlreiche Kulturstiftungen den Menschen zukommen ließ. Manchmal wird heute vergessen, wie politisch aktiv Menuhin zu seiner Zeit war. So forderte er ein von Staat und Wirtschaft unabhängiges Kultur- und Geistesleben – mit einem eigenen Etat und einem eigenen Kulturparlament. Während des arabisch-israelischen Krieges von 1973 rief Menuhin einen Freund mitten in der Nacht an: „Wir müssen sofort nach Israel fliegen und uns zwischen die Fronten stellen – wenn wir Musik spielen, werden sie schon aufhören, sich gegenseitig umzubringen.“ Menuhin glaubte, durch die Musik Krieg und Hass verhindern zu können, Frieden zu stiften und den jüngeren Generationen einen Weg zu zeigen, um einander mit Achtung zu begegnen.
Sein gesellschaftliches Engagement begann bereits 1937. Robert Schumann hatte 1853 in nur 13 Tagen sein Violinkonzert für den Geiger Joseph Joachim geschrieben, doch es wurde zu dessen Lebzeiten nie aufgeführt. 20 Jahre nach Schumanns Tod entschloss sich seine Frau Clara, das Stück 100 Jahre lang vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Unter etwas mysteriösen Umständen wurde es dann doch früher veröffentlicht: Joachims Nichte, die Geigerin Jelly d’Arányi, behauptete 1933, Schumann habe sie aus dem Jenseits aufgefordert, das Konzert herauszubringen.
Die Welt horchte auf. Wilhelm Strecker, der Verleger des Schott-Verlags, schickte im April 1937 eine Kopie des Werkes an den damals 20-jährigen Yehudi Menuhin, mit der Bitte um sein Urteil. Menuhin war sofort begeistert. Aber auch die Nazis wurden auf das Konzert aufmerksam, die einen Gegenpol zu dem verbotenen jüdischen Komponisten Mendelssohn und seinem beliebten e-Moll-Violinkonzert suchten. Eine Uraufführung eines verschollenen Werkes des deutschen „Romantikers“ Schumann kam ihnen zu Propagandazwecken gerade recht. Unter Androhung der Firmenschließung wurde es dem Schott-Verlag verboten, das Werk durch Menuhin in den USA uraufführen zu lassen.
Stattdessen kam es am 26. November 1937 in Berlin in Anwesenheit Hitlers mit dem Geiger Georg Kulenkampff unter dem Dirigenten Karl Böhm zur Uraufführung im Rahmen der Jahrestagung der Reichskulturkammer und der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“. Robert Schumann wurde als „Arier“ gefeiert, aber Menuhin ließ sich nicht einschüchtern. Da die offizielle Uraufführung stattgefunden hatte, wurde das Notenmaterial aus Versehen freigegeben. Menuhins Vater ließ es schnell kopieren, und die beiden eilten nach New York. Dort wurde das Werk, zum Entsetzen Goebbels, erstmals auf Platte aufgenommen, zusammen mit dem New York Philharmonic unter Leitung von John Barbirolli. Wer Menuhin in seinem Element erleben möchte, sollte diese historische Aufnahme hören – vor allem den zweiten Satz, dessen Magie in jedem Ton Menuhins zu spüren ist.
1947 war Yehudi Menuhin der erste internationale und jüdische Künstler, welcher nach dem Krieg in Berlin auftrat. Zugunsten deutscher Vertriebener und Flüchtlingskinder verzichtete er auf das Honorar. Unter all den Zitaten Menuhins finde ich eines besonders treffend: „Musik ist die einzige Sprache, in der nicht gelogen werden kann.“
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband „Familienstücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi, Toi, Toi – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die CD „The Romantic Violinist“ (Deutsche Grammophon)
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