- Die Bäume in unseren Köpfen
Die Vereinten Nationen haben für 2011 das „Internationale Jahr der Wälder“ ausgerufen. Die Bundesregierung zog mit einer großen „Waldkulturerbe“-Kampagne nach. Die Bäume sind uns heilig seit Germaniens Zeiten.Was ist so deutsch am deutschen Wald?
In Stuttgart bestimmte ihr Schicksal einen Wahlausgang. Ob im dunklen Schwarzwald oder in den Armeen der strammstehenden Nutzholzkiefern links und rechts der Autobahnen: Im Gehölz wächst das Geheimnisvolle.
In keinem modernen Land der Welt, schreibt der Nobelpreisträger Elias Canetti in seinem Großessay „Masse und Macht“, sei das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfülle das Herz des Deutschen „mit tiefer und geheimnisvoller Freude“. Er suche den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und „fühlt sich eins mit Bäumen“.
Emphatisch besang im Jahre 1968 die im ostpreußischen Heydekrug geborene Schlagersängerin Alexandra, „meinen Freund, den Baum“. Das war lange vor dem Auftritt der Grünen und der Erfindung des Wortes „Waldsterben“, lange auch, bevor Schwaben damit begannen, sich an Kastanien zu ketten. Bei Alexandra allerdings, anders als bei Canetti, wiegt der Baum sich im Wind; für sie ist er von sehr beweglicher Anmut und besitzt nicht das Starr-Rigide und „Reckenhafte“, das der Nobelpreisträger den Bäumen unterstellt.
Canetti geht in seiner Engführung von deutschem Geist und deutscher Waldverbundenheit, 15 Jahre nach der endgültigen Niederlage der Wehrmacht, sogar noch weiter: „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer“, schreibt er, „aber das Heer war mehr als das Heer: es war der marschierende Wald.“ So könnte man mit Canetti vermuten, dass der deutsche Wald auf den deutschen Geist einen ganz schlechten Einfluss ausgeübt hat, ja dass durch den Anblick des Waldes der Deutsche überhaupt erst auf die Idee kam, sich in Reih’ und Glied aufzustellen und alles niederzumachen, was sich nicht in seine Ordnung fügte: „Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte, zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die Aufnahme ins Heer im voraus. Im Wald standen schon die anderen bereit, die treu und wahr und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer wie der andere, weil jeder gerade wächst, und doch ganz verschieden an Höhe und Stärke.“
Eine im wahrsten Sinne steile, ja morsche These, und wie so viele ihrer Art gründet sie nicht nur auf einer Verzerrung der Wirklichkeit, sondern schlicht auf mangelnder Anschauung. Denn nicht nur im tropischen Urwald wachsen „Schlinggewächse in jeder Richtung durcheinander“, auch der deutsche Wald ist auf die bunteste Weise belebt. Immer noch gibt es große Waldgebiete, die jedes Gefühl von Regelmäßigkeit und Wiederholung ausschließen. Gerade die Bruch- und Auwälder vermitteln den Eindruck urtümlicher Wildheit, die sich dem angeborenen Ordnungssinn widersetzen. Auch die zwei Dutzend inzwischen wieder so genannten „Urwälder“ Deutschlands bieten einen abwechslungsreichen, einen ganz eigentümlichen und unmilitärischen Anblick. In ihnen ist dann doch die Romantik zu Hause, in ihnen wird kein Wanderer anders können, als sich in Träumen zu verlieren.
Freilich findet man auch heute, so etwa im fränkischen Steigerwald, Schilder, die einen „gepflegten Wald“, die „Sauberkeit“ und Aufgeräumtheit im Gehölz fordern. Wildwuchs und sich selbst überlassene Natur sind vielen Deutschen ein Dorn im Auge. Wahre Glaubenskämpfe werden hier ausgetragen, und gerade die vielen privaten Waldbesitzer müssen sich immer wieder gegen die Begehrlichkeiten berufsmäßiger oder selbst ernannter Waldschützer und -liebhaber zur Wehr setzen.
Um herauszufinden, was so deutsch ist am deutschen Wald, genügt es nicht, in die Wälder einzudringen, man muss auch zurückblicken in die Geschichte. Denn wie Canetti ganz richtig feststellte: Unsere Vorfahren waren nicht weniger waldaffin als wir es heute sind. Wenigstens half ihnen der Schutz vieler Bäume im Jahr 9 n.Chr. dabei, die drei Legionen des Varus zu besiegen. Eine ebenso große Rolle wie Bäume und Wälle spielte damals gleichwohl das dem Wald gegenüberliegende Moor – es versperrte den Römern jede Fluchtmöglichkeit.
Da Wälder gemeinhin größeren Eindruck als Sümpfe machen, spricht man heute allerdings von der Schlacht am Teutoburger Wald, nicht von der Schlacht in der Kalkrieser Senke. Heinrich Heine, dieses geniale Schandmaul, zog die Taten des Arminius mit nachromantischer Ironie dann doch in den norddeutschen Schmutz: „Das ist der Teutoburger Wald,/Den Tacitus beschrieben,/Das ist der klassische Morast,/Wo Varus steckengeblieben.// Hier schlug ihn der Cheruskerfürst,/Der Hermann, der edle Recke;/Die deutsche Nationalität,/Die siegte in diesem Drecke.// Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann,/Mit seinen blonden Horden,/So gäb es deutsche Freiheit nicht mehr,// Wir wären römisch geworden!“
Tatsächlich hatte man die Varus-Schlacht lange Zeit vergessen; sie trat erst gegen Ende des 18.Jahrhunderts wieder ins Bewusstsein, in einer Epoche, als sich allmählich so etwas wie ein deutsches Nationalgefühl auszubilden begann und sich auch in deutschen Landen der Prozess der nationalen Einigung beschleunigte. Zur gleichen Zeit entsteht der Mythos des deutschen Waldes. Wenn im Mittelalter auch sagenhafte Helden wie Iwein, Parzival und Siegfried zwischen Bäumen unterwegs waren, so begann sich erst jetzt ein spezifisch deutsches Waldbewusstsein auszuprägen. Der Göttinger Hain spielte dabei eine Rolle, mehr aber noch Goethes Harzwanderungen und die Entdeckung der deutschen Landschaft durch die Romantiker. Auch Joseph von Eichendorff und Ludwig Tieck pilgerten zum Brocken und ließen sich von den Wäldern an seinen Hängen beeindrucken.
Vor allem Tiecks Bildungsweg führte über Berge und blätterbeschattete Trampelpfade. So öffnete der Bericht einer Reise, die der Zwanzigjährige 1793 gemeinsam mit seinem Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder durch die Fränkische Schweiz und das Fichtelgebirge unternahm, überhaupt erstmals den Blick für diese Gegend. Tiecks erstes Buch, die Geschichte des Räubers Mathias Klostermayr, hat ebenfalls den Wald zum Hauptschauplatz.
Genauso wie für Klostermayr, den man auch den bayrischen Hiesel nannte, dient der Wald Goethes frühem Helden, Götz von Berlichingen, immer wieder als Rückzugsort. Berlichingen und Klostermayr machen dabei noch ganz praktischen Gebrauch vom breiten Blätterdach. Nutzen und Notwendigkeit der Wälder waren zu dieser Zeit nämlich durchaus bekannt. Nach den extremen Kahlschlägen des Mittelalters hatte sich allmählich das Bewusstsein herausgebildet, dass der Wald schützenswert sei. Bereits 1713 prägte der Forstwissenschaftler Hans Carl von Carlowitz in seiner Schrift „Sylvicultura Oeconomica“ den heute so populären Begriff der „Nachhaltigkeit“. Das ausgehende 18. und beginnende 19.Jahrhundert war überdies die Wirkungszeit der sogenannten „forstlichen Klassiker“, unter ihnen Georg Ludwig Hartig, Johann Heinrich Cotta und Wilhelm Leopold Pfeil. Viele von ihnen waren – wie schon Carlowitz – der Bergakademie Freiberg verbunden.
Über die Bergwerksbegeisterung der Romantiker ist viel geschrieben worden. Dass der Bergbau aber immer auch mit dem Waldbau in Verbindung stand, wird dabei mitunter vergessen. Wenn der angehende Bergbauingenieur Novalis auf geologische Erkundungsreise ging, dann schaute er nicht nur auf die Steine am Boden, sein Blick richtete sich auch nach oben, ins Blätterdach: „Harz, du Muttergebürg, welchem die andre Schar/Wie der Eiche das Laub entsproßt/Adler zeugest du dir hoch auf der Felsenhöh’/Und dem Dichter Begeisterung.“ Dann wurden die Bäume gefällt – als Stützstempel unter Tage war ihr Holz unverzichtbar.
Als bedeutendster Sänger des deutschen Waldes darf schließlich der Freiherr von Eichendorff gelten. Seine Gedichte sind nicht zuletzt dank ihrer Vertonungen heute noch vielen geläufig. Allerdings ist seine Begeisterung – und dies zeichnete die romantische Waldbegeisterung grundsätzlich aus – von der Ambivalenz des Waldes gekennzeichnet: trunkene Waldeslust auf der einen Seite, beklemmende Waldeinsamkeit auf der anderen. Am deutlichsten wird diese Zwittergestalt in den Märchen der Brüder Grimm: Hier ist der Wald nicht eindeutig gut oder böse, er ist ein Ort der Verwandlung. Der Wald legt offen, was tief im Menschen steckt. Zwischen den Bäumen wird der Mensch zum Mörder oder zum Helden, hier entblößt sich sein wahres Ich.
Im und am Wald scheiden sich die Geister. Das hat auch mit der industriellen Revolution zu tun. Immer mehr Waldgebiete verschwanden, mancherorts brach regelrechte Holznot aus. Vor allem für die Eisen- und Glasproduktion wurden zunehmend Bäume gefällt. So gab es vor 200 Jahren weniger Wald in Deutschland als heute. Dieses Schwinden mag die Romantiker angeregt und sie zu einer Art früher Ökofans gemacht haben. Es führten aber die Abholzungen darüber hinaus zu ganz realen sozialen Verwerfungen.
Wilhelm Heinrich Riehl, den manche für einen der geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus halten, befand 1852: „Der Wald gilt in der deutschen Volksmeinung für das einzige große Besitztum, welches noch nicht vollkommen ausgeteilt ist. Im Gegensatz zu Acker, Wiese und Garten hat jeder ein gewisses Recht auf den Wald, und bestünde es auch darin, daß er nach Belieben in demselben herumlaufen kann. In dem Rechte oder der Vergunst des Holzlesens und Laubsammelns, der Viehut, in der Verteilung des sogenannten Losholzes aus Gemeindewäldern u. dergl. liegt ein nahezu kommunistisches Herkommen geschichtlich begründet. Wo hat sich dergleichen sonst noch erhalten außer beim Wald? Das ist die Wurzel echt deutscher sozialer Zustände.“
Genauso sieht es Karl Marx, den ein Artikel über das rheinische „Holzdiebstahlgesetz“ im Jahr 1842 angeblich seinen Posten als Herausgeber der Rheinischen Zeitung gekostet hat. Galt die Entnahme von Totholz aus kommunalen Wäldern bis dato lediglich als „Holzfrevel“, so sollte dieser mit dem neuen Diebstahlsparagrafen ein Riegel vorgeschoben werden. Marx sieht eine natürliche Verbindung zwischen dem toten Holz und den Armen, die auf dieses Holz angewiesen sind. Weniger aber das aus der Gewohnheit gewonnene Recht denn ein metaphorisches Verwandtschaftsverhältnis begründet bei ihm den Eigentumsanspruch: „Die Natur selbst stellt in den dürren, vom organischen Leben getrennten, geknickten Reisern und Zweigen im Gegensatz zu den festwurzelnden, vollsaftigen, organisch Luft, Licht, Wasser und Erde zu eigener Gestalt und individuellem Leben sich assimilierenden Bäumen und Stämmen gleichsam den Gegensatz der Armut und des Reichtums dar.“
Bis heute bietet der Wald Konfliktstoff, geht es ums Waldsterben, die Jagd oder den Tierschutz, um den Klimaschutz oder die Energiefrage. Wie sieht es aber aus, wenn man im Jahr 2011 in einen deutschen Wald geht, zum Beispiel in den hessischen Reinhardswald? Im Wald selbst, so scheint es, ist die Welt in Ordnung. Er ist beliebtes Ausflugsziel und ob seiner Größe selten überfüllt. Man wandert die Frau-Holle-Route oder die Deutsche Märchenstraße entlang, bestaunt die breiten Eichen und lässt es sich am Ende des Tages bei Wildschweinbratwürsten im „Dornröschenschloss Sababurg“ gut gehen. Nicht nur Wanderer kehren hier ein, auch Mountainbiker, Reiter oder Hobby-Ornithologen.
Im Wald ist nicht nur die Welt in Ordnung, im Wald ist auch etwas los. Ob im Reinhardswald oder anderswo: Wo es nur geht, wird der Wald touristisch „aufgewertet“, es werden „Baumkronenpfade“ eingerichtet, es gibt „erlebnispädagogische Angebote“ wie zum Beispiel den „Niedrigseilgarten“ im Kalkrieser Wiehengebirge. Überall wandelt der Besucher auf ordentlich markierten Wanderwegen. Man stößt auf Schilder, die einen „Urwald in 2 km“ ankündigen, oder läuft vorbei an sorgsam aufgereihten „Bäumen des Jahres 2001 bis 2010“.
Der Wald allerdings „ist kein Vergnügungspark“, wie Philipp Freiherr von und zu Guttenberg sagt. Zu Guttenberg ist Präsident der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände. Er freut sich über das literarische Interesse am Wald, kommt aber schnell auf die harten Fakten zu sprechen: In der „Wertschöpfungskette Forst/Holz“, so zu Guttenberg, würden jährlich 170 Milliarden Euro umgesetzt. 1,2 Millionen Arbeitsplätze hingen von der deutschen Forstwirtschaft ab. Überdies biete der Wald bei vielen globalen Herausforderungen wichtige Teillösungen an. Die nachwachsende Ressource Holz sei eigentlich konkurrenzlos. Für den Wunsch mancher vermeintlicher Naturschützer, immer größere Teile des deutschen Waldes außer Betrieb zu nehmen, hat er, als Vertreter der privaten Waldbesitzer, wenig Verständnis: „Der Wald ist schützenswert, gerade weil wir ihn so gut erhalten haben.“
Emotionale Verbundenheit und wirtschaftliches Interesse gehen hier Hand in Hand. Der gemeine Sonntagsausflügler wird auf seinen Spaziergängen gleichwohl eher an Bambi oder den Förster vom Silberwald, an das Wirtshaus im Spessart oder den Freischütz, an Hexen, Räuber oder Eremiten denken denn an Holzpellets, CO-Quoten oder Umtriebszeiten.
Waldaffin sind wir auch heute noch, sind dem Wald romantisch zugeneigt: Wir schreiben und lesen Artikel über den Wald, und auch der Buchmarkt versorgt den interessierten Leser konstant mit Neuerscheinungen zum Thema. Kürzlich ist der etwas belanglose Band „Deutschlands Wälder“ von Peter Laufmann und Olaf Schulz erschienen, daneben aber das grandios bebilderte und so ausgreifend wie packend geschriebene Buch „Der deutsche Wald“ von Detlev Arens. Außerdem kann man sich bei Viktoria Urmersbach über die Kulturgeschichte des Waldes kundig machen („Im Wald, da sind die Räuber“) oder mit Kerstin Ekman einen Blick auf unsere nördlichen, noch waldreicheren Nachbarn werfen („Der Wald. Eine literarische Wanderung“). Doch auch der Blick auf die Nachbarn beantwortet die Frage nicht, was nun so besonders ist am deutschen Wald und unserem Verhältnis zu ihm. Seine Vielgestaltigkeit allerdings legt den Schluss nahe, dass es eben gerade die Vielgestaltigkeit selbst ist, die seinen Mythos speist. Sowohl Canetti, der in den Bäumen die Standhaftigkeit des Kriegers verbildlicht sah, hat seinen Anteil daran als auch Goethe, den die „Freiheit der Wälder“ euphorisierte, sowohl Friedrich Schlegel („Gegrüßt sei du, viellieber Wald!“) als auch die erwähnte, Trauer tragende Alexandra („Mein Freund, der Baum, ist tot, er starb im frühen Morgenrot“).
Die jahrhundertelange Beschäftigung mit ihm hat die verschiedensten Aspekte tief ins kulturelle Gedächtnis gesenkt. Nicht einmal der Umstand, dass das größte geistesgeschichtliche Vorhaben des Dritten Reiches („Wald und Baum in der arischen-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte“) ihm gewidmet war, konnte den deutschen Wald ernsthaft in Verruf bringen. Viel zu sehr war und ist er dafür mit unserer Vorstellungswelt verknüpft. Das war sogar schon jenem anonymen Verfasser des altsächsischen „Heliand“ bewusst, als er vor 1200 Jahren das Neue Testament in Stabreime übertrug. Da er davon ausging, dass seine Leser mit dem Begriff „Wüste“ nichts würden anfangen können, verlegte er die Versuchung Christi eben in den Wald.
Heute ist der Wald ein eher beschaulicher Ort; fast überall gibt es Handyempfang. GPS-gestützt wird sich in seinen Tiefen zudem niemand mehr verlaufen. Auch klingt Novalis’ Warnruf „Eber brausen im Wald, Eber mit Mörderzahn“ angesichts allfälliger Wildschweingehege inzwischen recht kurios. Die Faszination des Waldes ist dennoch ungebrochen. In unseren Köpfen ist er so gegenwärtig, dass man ganz vergessen könnte, ihn auch wirklich aufzusuchen. Glücklich, wer es trotzdem tut.
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