Kaum eine naturwissenschaftliche Theorie hat unser Denken nachhaltiger geprägt als Darwins Evolutionstheorie – und doch war der Mann, der Gott entmachtete und den Menschen als Zufallsprodukt der Natur betrachtete, ein Revolutionär wider Willen
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Revolutionäre sind Kraftfiguren. Sie kämpfen für ihre Wahrheit, halten flammende Reden, mobilisieren und begeistern ihre Anhängerschaft. Familie, Freundschaft, privates Lebensglück – alles opfern sie ihrer heiligen Mission.
Nichts davon trifft auf Darwin zu. Nein, er hätte sich nie gewünscht, in die Rolle eines Revolutionärs zu geraten, er, der konfliktscheue Familienmensch, der kränkelnde Gelehrte, der sich am liebsten hinter Büchern verschanzte oder zu langwierigen Trinkkuren reiste. Was also brachte den gottesfürchtigen Sohn eines Arztes aus der Provinz dazu, das Weltbild seiner Epoche derart zu erschüttern?
Betrachten wir Darwins Leben als Drama, so findet das Vorspiel in Edinburgh und Cambridge statt, wo er erst Medizin, dann Theologie studiert und sich auf eine Laufbahn als Landgeistlicher vorbereitet. Er ist ein recht lockerer Student, der junge Charles Darwin, einer, der am liebsten Rebhühner schießt und mit seinen Professoren auf geologische oder botanische Exkursionen zieht. Wird er, wie der Vater fürchtet, „der Familie zur Schande“?
Der erste Akt bringt die Sache in Bewegung. Just, als nach dem Studium Sesshaftwerden und Heirat anstünden, flattert ihm ein Brief auf den Tisch: Ob er geneigt sei, die Vermessungsfahrt der „Beagle“ um Südamerika als Naturforscher zu begleiten? Darwin ist nach zwei Absagen die dritte Wahl, ein in jeder Beziehung unfertiger Naturalist. Doch Robert FitzRoy, der Kapitän, findet Gefallen an ihm, denn er sucht nicht nur einen Forscher, sondern auch einen ebenbürtigen Gesprächspartner.
Man muss sich die Enge an Bord vorstellen: Darwins Hängematte passt, diagonal gespannt, gerade so in die Kabine. FitzRoy, großzügig und aufbrausend, herrisch und liebenswürdig, ist ein überaus kompetenter Nautiker – und ein verbohrter Tory, konservativ bis auf die Knochen, Darwin dagegen entstammt einer liberalen, reformfreudigen Familie. Sie geraten aneinander, zuerst, als sich Darwin über die Sklaverei in Südamerika entsetzt, FitzRoy diese jedoch rechtfertigt. Dann aber geht es um Genesis oder Geologie. Dass die Versteinerungen, die Darwin in Südamerika findet, Millionen Jahre alt sein sollen, passt nicht in FitzRoys religiös geprägtes Weltbild, nicht in das seiner Zeitgenossen, ein paar spleenige Geologen ausgenommen.
Noch hat Darwin „das Rätsel aller Rätsel“, das Erscheinen neuer Arten auf der Erde, nicht gelöst, doch allmählich dämmert ihm, dass sich Tier- und Pflanzenarten wandeln könnten – und dass er mit einer solchen Auffassung auf heftigsten Widerstand treffen wird. Und weit dramatischer noch: Der studierte Theologe ist bibelfest genug, um bestürzt festzustellen, dass er nicht nur den Menschen als Krone der Schöpfung entzaubert, sondern auch gleich noch den planenden Schöpfergott abschafft, wenn er mit seiner Entdeckung an die Öffentlichkeit geht. Der Konflikt beschäftigt ihn lange: Soll er als bahnbrechender Forscher in die Geschichte eingehen, der ganz nebenbei jedoch das Fundament und damit auch das Gebäude des christlichen Glaubens zum Einsturz bringt? Oder ist es besser, zu schweigen, abzuwarten, statt als Häretiker gebrandmarkt zu werden, als ein Galileo Galilei der Neuzeit?
Der Vorhang öffnet sich zum zweiten Akt. 1836, nach fünf Jahren, ist Darwin zurück in England. Er ordnet seine Sammlungen, sein Reisebericht wird auf Anhieb ein Bestseller. Von einem künftigen Dasein als Landgeistlicher ist keine Rede mehr, stattdessen füllt er Notizbuch um Notizbuch mit Ideen, Beispielen, Konsequenzen. Für ihn steht nun fest, dass sich die Arten verändern, dass Mensch und Affe von gemeinsamen pavianartigen Vorgängern abstammen. Dergleichen Gedanken können ihn seinen Ruf als Wissenschaftler kosten, das weiß er, zu radikal bedrohen seine Thesen außerdem das Christentum. Voller Entsetzen stellt er fest, dass er sich vom gläubigen Theologen zum atheistischen Materialisten entwickelt hat; Gott braucht er nicht einmal mehr, um die geistigen Fähigkeiten des Menschen zu erklären.
Die Spannung steigt. 1842 sitzt Darwin an der ersten ausführlichen Skizze seiner Theorie. Gerade hat er Thomas Malthus’ „Essay über das Bevölkerungsgesetz“ gelesen und in dessen These vom „struggle for life“ den noch fehlenden Baustein gefunden: Der Kampf ums Überleben führt zur Selektion. Nun könnte er eigentlich publizieren. Aber er, der sich aus dem Londoner Trubel in die Kleinstadt Down zurückgezogen hat, schreckt vor den Auseinandersetzungen zurück. Die Fachwelt wird seine Theorie ablehnen, da ist er sich sicher, die Theologen werden mit Fingern auf ihn zeigen… Also gilt es, jedes kleinste Detail abzusichern, alle möglichen Gegenargumente zu antizipieren und zu entkräften. Außerdem sind Kleinigkeiten von der Beagle-Reise aufzuarbeiten. Die Arbeit an den Entenmuscheln und ihren Verwandten schleppt sich acht Jahre hin, unterbrochen von Krankheit, Wasserkuren und neuen Unpässlichkeiten. Der innere Konflikt wird zur seriellen Krise, und ob hypochondrisch oder nicht – sein Körper wird darüber chronisch krank. Immer wieder schiebt Darwin die Publikation auf.
Akt drei bringt den Umschwung. Er hat zu lange gezögert, nun erhält er die Quittung. Am 18.Juni 1858 übergibt ein Bote Darwin einen dicken Brief. Der Absender ist Alfred R.Wallace, Ternate (Molukken). Als er ihn öffnet, fallen ihm engbeschriebene dünne Seiten und eine kurze Notiz entgegen: Der Schreiber hoffe, dass die Idee für Darwin so neu sei wie für ihn selbst. Sie liefere „den fehlenden Faktor, um den Ursprung der Arten zu erklären“. Entsetzt erkennt Darwin die Grundzüge der eigenen Theorie. Zu spät, durchfährt es ihn, ich habe zu lange gezögert! Sein Stolz ist geweckt, sein Ehrgeiz auch, fieberhaft überlegt er, wie er das Zaudern und Zögern ungeschehen machen kann. Er befindet sich in einer Zwickmühle. Den Brief zu unterdrücken, kommt nicht infrage. Lässt er ihn aber publizieren, ist seine Priorität dahin, all die Jahre Arbeit sind umsonst…
Hilfesuchend wendet er sich an Freunde wie den Botaniker Joseph Dalton Hooker, schreibt, wie er es nennt, „Lumperei-Briefe“: Ob es nicht eine Möglichkeit gebe, sich redlich und ehrenhaft aus der Affäre zu ziehen? Die Freunde nehmen die Sache in die Hand. Am 1.Juli tragen sie Auszüge aus Darwins alter Skizze und Wallace’ Artikel vor der Linné-Gesellschaft vor. So ist beiden Gerechtigkeit getan. Darwin selbst kneift: Seine Kinder bräuchten Luftveränderung, redet er sich heraus. Eines seiner Dramen ist vielleicht, dass er sich so sehr vor offenen Konflikten fürchtete, dass er umgekehrt auch auf Ruhm und persönlich zum Ausdruck gebrachte Anerkennung verzichten musste. Als übrigens der Präsident der Linné-Gesellschaft später den jährlichen Rechenschaftsbericht vorträgt, behauptet er, es habe „keine der einschlagenden Entdeckungen gegeben, die sozusagen ein Gebiet der Wissenschaft revolutionieren“. Vorhang.
In der Pause vor dem vierten Akt spricht sich herum, dass sich ein Ereignis mit der Kraft entfesselter Naturgewalten ankündigt. Die erste Auflage von „Die Entstehung der Arten“ ist denn auch gleich am Tag des Erscheinens vollständig ausverkauft. Nun erhebt sich der Wirbelsturm, den Darwin befürchtet hat, es hagelt kritische Rezensionen, FitzRoy zerreißt das Werk in der Times. Und obwohl sich Darwin um eine klare Aussage zur Abstammung des Menschen gedrückt hat, schießen sich die Gegner auf die „Affentheorie“ ein, bezichtigen Darwin des Atheismus, des Materialismus und der Untergrabung jeglicher Moral. Er habe die Devise „Macht ist Recht“ legitimiert, jeder Diktator und jeder schlitzohrige Kaufmann könne sich fortan auf seine Theorie berufen; im Kampf ums Dasein siege nach Darwin eben der Stärkere. Der Sozialdarwinismus ist geboren, ungewollt wird Darwin zum Apologetiker dessen, was als Manchesterkapitalismus in die Geschichte eingehen wird: die Ausbeutung und das Elend der Industriearbeiter.
Zwischenspiel vor dem Vorhang: Auf einem Balkon im ersten Rang unterhalten sich zwei deutsche Emigranten. Friedrich Engels findet Darwin „ganz famos“. Noch nie sei ein so großartiger Versuch unternommen worden, historische Entwicklungen in der Natur nachzuweisen. Aber die „plumpe englische Methode“! Nichts als Empirie, Faktenhuberei ohne Dialektik! Karl Marx sieht die Evolutionstheorie als Satire: „Es ist merkwürdig, wie Darwin unter den Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluss neuer Märkte, Erfindungen und Malthus’schem Kampf ums Dasein wiedererkennt.“
Der große Showdown findet Ende Juni 1860 in Oxford auf dem Jahrestreffen der britischen Naturforscher statt. Bischof Wilberforce, ein scharfzüngiger Redner, führt vor Hunderten Zuhörern den Hauptangriff. Darwin fehlt. Von all den Aufregungen zermürbt und krank, unterzieht er sich gerade wieder einmal einer Wasserkur. Thomas H.Huxley, ein Zoologe und Freund Darwins, wird statt seiner zur Zielscheibe der bischöflichen Polemik: „Treten die Affen-Vorfahren auf Ihrer großväterlichen oder Ihrer großmütterlichen Seite auf?“ Huxley erwidert, dass er lieber von Affen abstammen würde als von jemandem, der die Wahrheit derart verdrehe. Viel Gelächter und Applaus sind die Antwort, einige Ladys fallen in Ohnmacht.
Schlussbild: Endlich, 1871, legt Darwin sein Buch über die Abstammung des Menschen vor. Als „Eremit von Down“ beobachtet er Kletterpflanzen, Regenwürmer und Hummelmännchen. Das Irdische hat ihn gepackt, das Himmlische gerät aus seinem Blick – in seiner Autobiografie beschreibt er, wie ihn sein Glaube verließ. Darwin ist nun endgültig eine Celebrity, Gegenstand für Verehrer und Karikaturisten. Ein persönliches Drama aber wird er nie verwinden: dass seine Lieblingstochter Annie früh an Typhus starb. Darwin fühlt sich schuldig, fürchtet, dass er ihr seine schwache Konstitution vererbt hat. Am eigenen Leibe erlebte er, dass die Natur nur die Starken schützt, nicht die Schwachen. Eine bittere Fußnote für einen unfreiwilligen Revolutionär.
Bild: Picture Alliance
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