Die Droge Staat
Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Unter der Großen Koalition wuchert der Staat ungehemmt weiter – und das hat Tradition: Der Etatismus fußt in Deutschland auf mächtigen geistigen Strömungen, die bis in den deutschen Idealismus und die Romantik zurückreichen
Der Etatismus ist en vogue. Der Staat brauche mehr Geld, so verlautet es. Er sei im Zeitalter der verunsichernden Globalisierung immer wichtiger. Die Regierungspolitik in Deutschland kommt diesen Lockrufen mit wachsender Begeisterung nach. Vergessen die Reformversprechen von gestern. Vergessen die Steuersenkungsversprechen. Vergessen die großen Umbaupläne für die Sozialsysteme. Vergessen die Verkündigungen solider Haushaltspolitik. Die Große Koalition hat die etatistische Seelenmassage über die ökonomische Vernunft gesetzt.
Wie konnte dies geschehen? Eigentlich ist jedem klar, dass sich Deutschland so in die wirtschaftliche Sackgasse entwickelt. Die Steuerpolitik wird die wirtschaftliche Entwicklung hemmen. Die Sozialsysteme werden immer mehr zu einem Flickenteppich der Mangelverwaltung verkommen. Die Schulden werden die künftigen Generationen belasten. Über alledem bleibt die Geißel der hohen Arbeitslosigkeit, die sich tendenziell weiter in die Höhe entwickeln wird. All dies wird zurzeit verdrängt. Woran liegt es, dass die Deutschen – offenbar wider alle Vernunft – ein Urvertrauen in den großen Staat hegen, wo dieser doch die Ursache fast aller strukturellen Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft ist?
Im Lichte eines liberalen aufgeklärten Weltbildes hat der Staat idealerweise eine große Mission. Das Recht soll herrschen. Dies ist zugleich eine große ökonomische und zivilisatorische Aufgabe. Beide sind eng verwoben. Eine zivilisierte Rechtsordnung ermöglicht ein friedliches, an allgemeinen Regeln orientiertes Miteinander und sichert die wirtschaftlichen Chancen der Bürger. Sie ist nicht beliebig konstruierbar, sondern das Produkt einer günstigen kulturellen Entwicklung. Untrennbar ist sie mit der Erfindung der Arbeitsteilung verbunden, die sich dann vor allem zum Wohle der Menschen auswirkt, wenn sie weiträumig wirken kann.
Wirtschaftliches Interesse ist vielleicht der ursprüngliche Motor der Zivilisation. Es führt zur Entdeckung von Rechtsregeln, die überpersönlich sind, Menschen mit verschiedenen Interessen und Vorstellungen zur Kooperation bringt und spontane Entwicklungen erlaubt. „Die Tugend des Rechtssinnes, so wie sie von uns verstanden wird, wäre rohen und wilden Menschen niemals in den Sinn gekommen“, formulierte es treffend der schottische Aufklärer David Hume 1742. Das Recht, so Hume, ermögliche Kooperationschancen zwischen Menschen, die in primitiven Gesellschaften nicht bestünden. Diese Chancen erst bewirkten Wohlstand, Kultivierung und ein besseres und längeres Leben für die Menschen.
Das zivilisierte Recht kennt wenig gemeinsame Ziele für die Menschen, sondern stellt die offene Ordnung der Freiheit in den Mittelpunkt. Der Schutz der Freiheit ist der Kern. Was einem Denker des angelsächsischen Raums, wie Hume, unmittelbar einleuchtet, mag anderswo auf Unverständnis stoßen. In Deutschland hat man sich mit dieser Idee des Staates als zivilisierter Hüter von Recht und Freiheit stets nur schwer anfreunden können. Insbesondere unter Intellektuellen erfuhr er vielfach keine wirkliche Akzeptanz.
Im Gegensatz zu populären Mutmaßungen handelt es sich dabei nicht um den Konflikt zwischen deutscher Staatsgläubigkeit und britisch-amerikanischer Staatsverneinung. Auch in der angelsächsischen Welt spielt der Staat eine Rolle. Er gilt als ein Träger von Recht. Es ist eher der deutsche Intellektuelle, der den Staat nicht mag.
Es gibt also ein scheinbares Paradox: Indem er den Staat eigentlich nicht will, trägt er zu seinem unkontrollierten Wachstum bei. Viele Linke träumten von „Volksgemeinschaften“ oder Ähnlichem. Das ist etwas anderes als eine rechtsgeleitete, freiheitliche und institutionelle Staatsordnung. Dieses Denken setzt die Axt an die Wurzel des Staates an. Dort, wo solche Ideen in den totalitären Exzess abgleiten, wird der staatsfeindliche Charakter dieses Denkens besonders deutlich. Dort wird Macht „direkt“ und ohne rechtlich-institutionelle Bindung ausgeübt. Die „Bewegung“ oder die „Partei“ als enge Gemeinschaft der im Einklang miteinander Lebenden tritt ungehemmt an die Stelle des Staates. Sie ist der „direkten Gewalt“, die von manchen Anarchisten befürwortet wird, sehr ähnlich.
Daraus einen allgemeinen Totalitarismusverdacht für Deutschland zu postulieren, wäre sicher Unsinn. Aber es gibt in Deutschland besonders tief verwurzelte geistige und politische Traditionen, die das Misstrauen gegen bürgerliche Freiheit verstärken und ein seltsames Gemisch von Staatsverneinung und übergangsloser Staatsvergötterung begünstigen. Da ist auf intellektueller Seite zunächst einmal ein markanter Anti-Ökonomismus zu vermerken, der nicht nur das Wechselspiel von wirtschaftlichem Fortschritt, bürgerlicher Freiheit und zivilisatorischer Entwicklung leugnet. Kennzeichnend dabei ist, dass Deutsche bis heute den Begriff Zivilisation meiden und lieber von „Kultur“ reden. Der Begriff „Zivilisation“ leitet sich vom lateinischen Wort „cives“ ab, das den freien Bürger unter dem Recht meint. „Kultur“ hingegen leitet sich von „colere“ ab, was die Pflege des Landbaus bedeutet. Die primitive agrarische Lebensform gilt im deutschen Gemütsleben gemeinhin als die urwüchsigere, menschlichere und weniger entfremdete gegenüber der modernen industriellen. Die heutige ökologische Zivilisationskritik gewinnt aus diesem klischeebeladenen Topos einen Teil ihrer Kraft.
Arbeitsteilung, Offenheit, Regelgelenktheit – das „Unbehagen“ (Freud) daran ist seit jeher das masochistische Lustthema deutscher Intellektueller. Es ist dies ein Erbe des deutschen Idealismus und der Romantik. Selbst liberale Vertreter des Idealismus haben den Gedanken der „Entfremdung“ vorangetrieben und somit zur intellektuellen Unterminierung des eigentlichen freiheitlichen Rechtsideals beigetragen. So schreibt Friedrich Schiller 1795 über den Charakter moderner, arbeitsteiliger Gesellschaften: „Der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts.“
Von Hegel über Marx zu Adorno durchzieht dieser Gedanke das deutsche Geistesleben. Schillers Satz würde wohl heute noch jeder grün angehauchte Globalisierungsgegner unterschreiben: Eine Marktordnung wird stets als Fremdbestimmung begriffen, die durch den Preismechanismus und die Arbeitsteilung Mensch und Umfeld spaltet – und nicht als Freiheitschance.
Die Wahlmöglichkeiten und Wohlstandsmehrungen, die der Mensch heute in historisch einzigartiger Weise genießen kann, legitimieren sich aus dieser Sicht nicht mehr durch den Verweis, dass sie als Ausdruck freier Entschlüsse und spontaner Prozesse (friedlich!) zustande kamen. Herbert Marcuse brachte es 1964 in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch“ auf den Punkt: „Die Reichweite gesellschaftlich statthafter und wünschenswerter Befriedigung nimmt erheblich zu; aber auf dem Wege dieser Befriedigung wird das Lustprinzip reduziert – seiner Ansprüche beraubt, die mit der bestehenden Gesellschaft unvereinbar sind. Derart angepasst erzeugt Lust Unterwerfung.“
Dieses Argument erlaubt ohne weiteres den Umkehrschluss, dass eine ohne Zwang operierende freie Wirtschaftsordnung („Kapitalismus“) aufgrund ihres Entfremdungskoeffizienten moralisch legitim durch eine Gewaltordnung oder Gewaltaktion ersetzt werden dürfe. Marcuses – gelinde gesagt – zweideutiges Verhältnis zu linksterroristischer Gewalt weist deutlich darauf hin. Er steht damit nicht alleine. Dass der Marxismus zur Tyrannei mutierte, hatte nicht in bösartiger Fehlinterpretation des Meisters seine Ursache. Der befürwortete im „Kommunistischen Manifest“ nämlich ohne Scheu die Herrschaft „vermittelst despotischer Eingriffe“.
Alles dies hat letztlich seinen Ursprung in der vagen Idee, dass jeder Mensch „authentisch“ mit seiner individuellen Bestimmung im Einklang leben müsse, und dass dieser Einklang nur bestehen könne, wenn sich diese Bestimmung mit der gesellschaftlichen Umwelt und/oder der Natur ebenfalls in identitärem Einklang befinde. Sonst setze „Entfremdung“ ein.
Das Problem, das von vorneherein dabei besteht, ist die Frage, was denn diese „Bestimmung“ oder „Natur“ sei. Der Begriff ist vage und beliebig interpretierbar. Auch ist nicht gesichert, ob diese „Bestimmung“ denn überhaupt widerspruchsfrei sei. Könnte es nicht gegenläufige menschliche Anlagen geben? Schon hier kommt liberalen Kritikern der Verdacht, dass ein aus dem „Entfremdungsgedanken“ entwickeltes identitäres Staats- und Gesellschaftsmodell ideologische Schablonen zur Gleichschaltung der Menschen verwende. Die Romantik, in der sich die Entfremdungsidee zunehmend gegen ein aufklärerisches Staatsverständnis zu richten begann, verschärfte diese potenzielle Gefahr. Das Politische wurde immer mehr pädagogisiert. Ein militanter, auf unentfremdete Selbstverwirklichung abzielender Individualismus ließ sich immer mehr mit nivellierenden Ideologien verbinden – eine geradezu gefährliche Mischung. „Wären die Menschen schon das, was sie sein sollten und werden können – so würden alle Regierungsformen einerlei sein – die Menschheit würde überall einerlei regiert, überall nach den ursprünglichen Gesetzen der Menschheit“, schrieb Novalis.
Um fair zu bleiben: Nicht immer ergaben sich illiberale Konsequenzen. Wilhelm von Humboldts radikale Schrift „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792 folgt dem Grundgedanken unentfremdeter Selbstbestimmung. Sie ist aber zugleich die wohl konsistenteste Darlegung des liberalen Ideals eines auf seine rechtlichen Grenzen festgelegten liberalen Staates, die es in Deutschland je gab. Ähnlich wie Schiller bediente er sich des argumentativen Kunstgriffes, die kulturelle Fähigkeit des Menschen, eine höhere Rechtszivilisation zu begründen, zum Bestandteil der sich entfaltenden Individualbestimmung zu machen. Zivilisation schaffe letztlich die Entfremdung ab.
Aber ist das nicht blauäugig? Liberale wie David Hume oder nach ihm Karl Popper oder Friedrich August von Hayek haben immer wieder betont, dass eine rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Ordnung sich nie völlig im Einklang mit allen menschlichen Instinkten befinden könne. Die freiheitliche Ordnung ist ein Zivilisationsprodukt. Der Mensch ist fähig, sie zu erlernen. Naturgegeben ist sie ihm dadurch aber noch lange nicht. Der historische „Normalzustand“ der Menschheit war die kleine Horde, nicht die große Zivilisation. Wahrscheinlich ist uns das Hordenverhalten so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es in hohem Umfang unser angeborenes Instinktverhalten prägt. Die Horde ist keine Rechtsgemeinschaft, sondern eine Solidargemeinschaft. Sie definiert sich über gemeinsame Ziele, Homogenität und wirtschaftliche Abschließung. Der Rückbezug auf diese Werte in verschiedenster Form und Ausprägung ist es, was bis heute die Gegner liberaler Ordnungen vom rechtsextremen Fremdenfeind bis zum linken Antiglobalisierer letztlich eint.
In der Tat ist es plausibel, dass eine von der „Entfremdungsidee“ ausgehende Kritik von Politik und Gesellschaft eher zur „Zivilisationskritik“ führt, als dass sie liberale Ideale im Sinne Humboldts und Schillers stärkt. Der liberale Sozialphilosoph Hayek hat dies gesehen, als er 1976 polemisierte, dass „die noch nicht domestizierten Barbaren unter uns, die sich selbst ‚Entfremdete‘ nennen“, zwar die Wohlstandsvorteile der liberalen Rechtsordnung in Anspruch nehmen wollten, aber diese Ordnung selbst nicht als die Ursache dieser Vorteile erkennen und sie deshalb ablehnen.
Hier liegt die Gefahr. Wer im Staat nicht primär den Träger des Rechts und der überpersönlichen, gleichen Freiheitsregeln sieht, sondern den personalisierten Träger von unentfremdeter Gemeinschaftssolidarität, der zielt automatisch auf paternalistische Politikvorstellungen ab. Er will, dass ansonsten spontane Beziehungen, wie sie etwa in einer Marktwirtschaft vorherrschen, entspontaneisiert werden. Preise und Löhne werden keinem freien Spiel mehr unterworfen, sondern nach vermeintlichen Gerechtigkeitsvorstellungen von Verdienst und Bedürftigkeit festgesetzt. In einer kleinen Horde mit hoher kultureller Homogenität mag das, was jedem zukommt, noch durch einen Konsens gefunden werden.
In einer großen offenen Gesellschaft gibt es solch einen Konsens nicht. Der viel beschworene Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit“ ist hier weitgehend inhaltsleer. Im Gegensatz zu der weitgehend formalen „Gerechtigkeit“ – der Regelgleichheit ohne Ansehen von Hautfarbe, Geschlecht oder Religion – appelliert der Begriff „Soziale Gerechtigkeit“ aber an tief verwurzelte vorzivilisatorische Instinkte. Diese Mischung stellt die eigentliche Gefahr dar. Ohne klaren Zielkonsens ist ein instinktgeladener Drang dieser Art ein wahrer Motor des Staatswachstums. Es muss verschiedensten Individuen und Gruppen zumindest der Eindruck vermittelt werden, der Staat agiere solidarisch mit ihnen und gehe auf ihre spezifischen Bedürfnisse ein. Theoretisch gibt es dann keine Grenze mehr für staatliches Handeln.
Es blieb aber einem Vertreter des deutschen Idealismus vorbehalten, die spezifisch deutsche Variante zu formulieren. In Johann Gottlieb Fichtes Buch „Der geschloßne Handelsstaat“ von 1800 findet man die radikale Blaupause des historisch eigentlich vorherrschenden Modells etatistischer Großansprüche. Ein nach außen abgeschotteter Staat, der in eine Art Gilden unterteilt ist, deren Einkommen und Funktion von den Staatsorganen zum erkennbaren Wohle des Ganzen festgelegt werden. So erkennt und lebt der Mensch erst seine wahre, unentfremdete Vernunftbestimmung: „Der Staat allein ist’s, der eine unbestimmte Menge Menschen zu einem geschloßnen Ganzen, zu einer Allheit vereinigt“, meint Fichte denn auch. Der „Entfremdungsideologie“ entspringt die etatisierte „Hordenethik“.
Was vom Idealismus vorbereitet, vom Romantiker Fichte zur konzeptionellen Vollkommenheit weitergedacht wurde, ist abgemildert in der Praxis jenes Staatsmodell, das die einzige politische Konstante in der von Brüchen geprägten deutschen Geschichte wurde: der Korporativstaat. Interessen sind nicht mehr frei konkurrierend, sondern werden in organisierten Verbänden und Gilden konzentriert. Statt Wettbewerb gibt es nur noch den von der Politik moderierten Aushandlungsprozess. Das schafft Gemeinschaftsgefühl und befördert den Staatsapparat.
Der Korporativstaat, den wir heute vor allem – aber nicht nur – vom Tarifkampf zwischen Arbeitgebern und -nehmern kennen, ist eine durch und durch konservative Konstruktion. Kritiker des aktuellen ordnungspolitischen Verfalls benennen oft das Erbe der „68er“ oder den „Sozialdemokratismus“ als den eigentlichen Kern des Übels. Das betrifft nur das gegenwärtige Erscheinungsbild, nicht aber die Ursache des Problems. Das, was den ökonomisch-kulturellen „Sonderweg“ Deutschlands ausmacht, wurde nicht nach „68“ ausgeheckt. Im Gegenteil: In seiner klassischen deutschnationalen Vorkriegsform war er zu Recht so diskreditiert, dass er nur in neuem gutmenschlichen Gewande überleben konnte. Die von der revolutionären Elite nun zur herrschenden Klasse mutierten Post-68er haben heute in allen Medien, Kulturstützpunkten und Bildungszentralen, in denen sie die Hebel in der Hand haben, die „Leitkultur“ nicht nur so deutsch gemacht wie sie nur sein kann, sie haben sie auch noch gegen Kritik immunisiert.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Christkonservativen heute dem Marktliberalismus so bedenkenlos abschwören. Der vermeintlich sozialdemokratische Korporativstaat ist ihnen in Wirklichkeit auf den Leib geschneidert. In Wirklichkeit ist es die Linke, die ihren Anspruch auf Fortschrittlichkeit aufgibt, um zur Kraft korporatistischer Bewahrung zu werden.
Beim Korporatismus handelt es sich um die Anpassung des mittelalterlichen Zunftsystems an moderne demokratische und nationalstaatliche Bedingungen, wie sie in Deutschland vor allem von Bismarck im Zuge von Reichseinigung, Schutzzollpolitik und Sozialstaatsbildung auf den Weg gebracht wurde.
Geistig vorbereitet wurde er durch eine Art früher Globalisierungskritik. Friedrich List, der sich in seinem 1841 erschienenen Buch „Das nationale System der politischen Ökonomie“ als scharfer Kritiker des liberalen Freihandelsgedankens hervortat, begriff die wirtschaftliche Abkopplung als Chance nationaler Identitätsbildung. Dahinter stand ein identitäres, auf gesellschaftlichem „Einklang“ basierendes Gesellschaftsbild. Mit seinen protektionistischen Ideen wollte er „die industrielle Erziehung der Nation“ erreichen, um dem „bodenlosen Kosmopolitismus“ und dem „desorganisierenden Partikularismus und Individualismus“ ein Ende zu bereiten.
List bereitete dem einigenden, von antiindividualistischem Geist durchtränkten deutschen Korporativstaat den Boden. Wie bei allen Romantikern war allerdings diese alle „Entfremdung“ überwindende identitäre Idee realitätsfern. Es gibt kein identisches Interesse aller außerhalb der bloßen liberalen Rechtsordnung.
Zwischen der Einigkeitsbeschwörung des Korporativstaats und seiner Praxis besteht folglich ein realer Widerspruch. In der Praxis bedeutet er aber einen Wettlauf um staatliche Privilegien. Vorteilsmehrung erfolgt nicht mehr auf produktive Weise, sondern es gibt einen Wettbewerb um Mittel, die von anderen erwirtschaftet wurden. In der Demokratie ist der Wettbewerb besonders intensiv, weil sich besonders viele Akteure im Politikbetrieb fest verankern. Wer im komplexen Mikrokosmos der Interessengruppen Mehrheiten erlangen will, hat eher Anreize, die Staatstätigkeit anzufachen als sie zu beschränken.
Tatsächlich konnte Lists Schutzzollpolitik praktisch nie etwas anderes werden als das, was sie dann unter Bismarck später auch wurde: die Bedienung großindustrieller, agrarischer und anderer Sonderinteressen. Der fortschrittsliberale Parteiführer Eugen Richter beschrieb diesen Vorgang 1879 mit Sarkasmus: „Wo die großen Interessengruppen derart an der Tafel der Schutzzölle schwelgten, wäre es hartherzig gewesen, den Appetit der Kleinen ungestillt zu lassen… Der Reichstag spendete derart nach allen Seiten Wohltaten. Diejenigen, aus deren Leder die Riemen geschnitten wurden, die Interessen der Konsumenten, kamen dagegen nicht in Betracht.“
Am Erfolg des Modells in Deutschland änderte dies nichts. Das System verband eine vormoderne Sehnsucht nach fürsorglicher Gemeinschafts- und Hordenromantik mit der Möglichkeit machtfestigender Bedienung von Sonderinteressen. Zudem war es nicht so revolutionär wie die denkbare Alternative des egalitären Sozialismus, die ja den „Entfremdungsgedanken“ noch radikaler zur Begründung einer vollständig eingeebneten Gesellschaft heranzog. Damit kam es ebenfalls dem allgemeinen Harmoniebedürfnis entgegen.
Der Korporativstaat, der Instinktappelle, Machtbündelungen und Privilegienpotenziale mit sich vereinte, entwickelte schnell eine ungeheuere Gravitationskraft, der sich bisher widerstehende Kräfte in der Politik kaum widersetzen konnten. Die Nationalliberalen knickten 1878 bei der Schutzzollpolitik ein. Das Bündnis von organisierten Großindustriellen und Agrariern hielt sie fortan im Griff. Das katholische Zentrum sprang nach dem Kulturkampf auf den fahrenden Zug. Um die Jahrhundertwende stiegen die Sozialdemokraten ein, die heute als die wahren Gralshüter des Korporatismus gesehen werden, es aber als marxistische Klassenkämpfer ursprünglich keineswegs waren. Die marktradikalen Fortschrittsliberalen zierten sich, bis sie sich darüber spalteten. Ein Teil der Linksliberalen begann nun, dem Wilhelmismus zu frönen. Gewerkschaftliche Organisation, betriebliche Mitbestimmung und die Förderung des militärisch-industriellen Komplexes durch die Befürwortung des Flottenprogramms sollten die Einheit von Volk, Staat und Kaiser herstellen. Der andere Teil der Fortschrittsliberalen blieb unter der Führung Eugen Richters bis zu dessen Tod im Jahre 1906 liberalen Prinzipien treu – dann war es auch damit vorbei.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gab es keine politische Kraft mehr, die sich dem Korporativstaat widersetzte. Die Weimarer Verfassung verankerte ihn fest. „Hitlers Volkstaat“ (Götz Aly) war letztlich nur seine totalitäre und aggressive Mutation. Und auch die große freiheitliche Renaissance der Nachkriegszeit im Westen war nur unter großen Konzessionen an ihn denkbar.
Die Große Koalition liegt somit in der Logik der Geschichte. Sie ist die passende Regierungskonstellation für die Konservierung eines durch Vermachtung aller Lebensbereiche sehr zählebigen und resistenten Staatsmodells, das durch die Globalisierung unter Druck geraten ist.
Aber ob dem korporativen Etatismus damit wirklich eine große Zukunft bevorsteht, ist nicht ausgemacht. Vielleicht ist es auch nur eine letzte Scheinblüte. Phasen korporatistischer Überhitzungen können Vorboten der Krise sein. Da nutzen Appelle an Instinkte, das Versprechen unentfremdeter Existenz oder Interessenbedienung weniger, als man denkt. Das Modell, das da vorangetrieben wird, funktioniert wirtschaftlich nicht. Deshalb hat es immer wieder Phasen liberaler Regeneration geben müssen. Der Korporatismus, der Harmonie verspricht, kann dies nur mit einem Ausbau der Staatstätigkeit erreichen, der an seine Grenzen stößt. Noch klammert man sich mit irrigen Erwartungen an den Staat. Aber man wird nicht halten, was man verspricht. Alle Strukturprobleme deutscher Politik und Wirtschaft bleiben so entweder ungelöst oder werden verschärft. Längst ist klar, was die Politik als Letztes begreift: Freiheit funktioniert.
Detmar Doering leitet das Liberale Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung. Zuletzt erschienen von ihm „Kleines Lesebuch über den Freihandel“, „Vernunft und Leidenschaft: Ein David -Hume-Brevier“ und „The Political Economy of Secession. A Source Book“ (Hrsg. mit Jürgen Backhaus)
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