- Hoffnung auf Recht
Die Präsidentin aus dem Amt gejagt, die Politik im Chaos, die Wirtschaft am Boden – Brasilien gibt derzeit kaum Anlass zum Optimismus. Doch das Verfahren gegen Dilma Rousseff zeigt auch: Das Rechtswesen des Landes funktioniert. Das war nicht immer so
Dilma Rousseff, Brasiliens nun ehemalige Präsidentin, sprach von einem „Verbrechen“ und dem „Tod der Demokratie“, bevor 61 der 83 Mitglieder des Senats für ihre Absetzung stimmten. Dabei verglich sie das Verfahren mit dem Militärputsch von 1964, indessen Folge sie als junge Guerillakämpferin für die Demokratie ins Gefängnis kam und gefoltert wurde. In vielen Medien, vor allem aus den wohlhabenden Ländern, wurde dieses Narrativ geradezu dankbar aufgegriffen. Tatsächlich ist dieser Vergleich absurd.
Ein Putsch war es nicht
Keine Frage, das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff war politisch motiviert. Der offizielle Vorwurf, die Präsidentin habe bei den Haushaltszahlen illegal getrickst, ist immer noch umstritten. Selbst wenn sie es getan haben sollte, hätten dann wohl auch alle ihre Vorgänger abgesetzt werden müssen. Es gibt viele gute Gründe, mit dem Ergebnis des Verfahrens unzufrieden zu sein, nicht nur für Anhänger Rousseffs und ihrer Arbeiterpartei (PT). Aber ein Putsch war es nicht. Stattdessen spielten alle Akteure dieser realen Telenovela – Parlament, Senat, Justiz, Bundespolizei und Bundesrechnungshof – nach den verfassungsrechtlichen Regeln des Landes. Das Militär spielte, anders als 1964, keine Rolle. Das zeigt, dass die demokratischen Institutionen Brasiliens stark sind. Und dass das System der Gewaltenteilung funktioniert.
Dennoch fällt es schwer, optimistisch in die Zukunft des größten lateinamerikanischen Landes zu blicken. Die Politik versinkt im Chaos und die Wirtschaft liegt danieder. Hoffnung gibt allein das Rechtssystem. Nach einer langen Geschichte der Korruption und Rechtsverdrehung werden die Betrüger verhaftet, des Amtes enthoben und verurteilt. Auch wenn sie der politischen oder der wirtschaftlichen Elite Brasiliens angehören.
Zwei Richter als Galionsfiguren
Die Galionsfiguren im Kampf gegen die Korruption sind zwei Richter: Joaquim Barbosa, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Bundesrichter Sérgio Moro. Barbosa führte die Ermittlungen im sogenannten Mensalão-Prozess. Mensalão (zweites Monatsgehalt) beschreibt ein Bestechungsschema der Arbeiterpartei unter Rousseffs Vorgänger Lula da Silva. Die Partei hatte über Jahre die Unterstützung kleiner Parteien im Parlament erkauft, mit Geldern, die eigentlich für die Verbesserung des Bildungssystems oder der Infrastruktur bestimmt waren.
Moro, der auch am Mensalão-Prozess beteiligt war, leitet das Verfahren im Skandal um den halbstaatlichen Erdölgiganten Petrobras. Es wird „Operação Lava Jato" (Operation Autowäsche) genannt. Das Gesamtvolumen übersteigt 14,5 Milliarden Real (3,5 Milliarden Euro), Schätzungen sprechen gar von 40 Milliarden Real. Die Untersuchungen richten sich gegen zahlreiche Politiker aller Parteien und gegen viele Mitglieder des Geldadels.
Im Zuge des Mensalão-Prozesses kamen 25 Angeklagte ins Gefängnis, im Lava Jato wurden bisher 85 verurteilt. Und nicht nur kleine Fische. José Dirceu, Stabschef unter Lula da Silva und dessen eigentlicher Kronprinz, ging sogar beiden ins Netz. Barbosa schickte ihn für 7 Jahre hinter Gitter, Moro legte noch einmal 23 Jahre drauf. Keine Scheu vor großen Namen bewies Moro auch beim Bauunternehmer und Milliardär Marcelo Odebrecht, eine Berühmtheit in Brasilien. Ihm wurden 19 Jahre aufgebrummt.
Die Schockwirkung dieser Urteile für die Eliten ist kaum zu überschätzen. Bisher endeten Korruptionsskandale meist nicht in Haftstrafen, sondern, nach einer Redensart, „in Pizza“. Wie bei einem Arbeitsessen machten Ankläger und Angeklagte in der Regel untereinander aus, wie die lästigen Vorwürfe so aus der Welt zu schaffen sind, dass beide Seiten gut dabei wegkommen. Nun müssen die hohen Herren mit Gefängniskost vorlieb nehmen.
Nachhaltig positive Entwicklung der Justiz
Das Volk liebt die Richter dafür. Das Gesicht Barbosas gehört beim Karneval stets zu den beliebtesten Masken, und ein Selfie mit Moro garantiert bei Facebook hunderte „Likes“. Aber die positive Entwicklung der Justiz lässt sich nicht nur an den beiden festmachen, es gibt Anzeichen dafür, dass sie nachhaltig ist. Zwar wurden viele Institutionen mit dem Beginn der Demokratie Mitte der achtziger Jahre reformiert oder neu gegründet. Aber viele Mitglieder des alten Regimes behielten ihre Jobs.
Nun hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Laut dem Economist lag das Durchschnittsalter eines Richters in Brasilien 2013 bei 45 Jahren. Das bedeutet, dass die Mehrzahl ihre Ausbildung in einem demokratischen System absolviert hat. Überhaupt sind die Beamten besser ausgebildet. Mehr als ein Viertel von ihnen kann heute ein Aufbaustudium vorweisen, 2002 war es nur rund ein Zehntel.
Der Wille, die Korruption gründlich zu bekämpfen sickert durch, nach unten und nach oben. Seit 2013 gingen so viele Brasilianer wie noch nie auf die Straßen, um gegen Korruption und Misswirtschaft zu demonstrieren. Meist waren es junge Menschen, die eigentlich als politisch apathisch galten. Unter ihrem Druck erließ der Kongress eine Serie von Antikorruptionsmaßnahmen. Die statteten die Ermittler mit den gesetzlichen Werkzeugen aus, die die Untersuchungen und Verurteilungen möglich machten.
Leider hat sich die Verjüngung noch nicht auf die politische Klasse ausgeweitet. Die Politiker gehören mehrheitlich noch der alten Garde an, die wenigen nicht-grauen Köpfe stammen meist aus einer gut vernetzten Familiendynastie. Rousseffs Nachfolger Michel Temer nennt seine Mannschaft zwar „die Regierung der nationalen Rettung“, aber wer sie versammelt sieht, erblickt eine Reihe weißer, männlicher Veteranen. Die gute Nachricht für das Land: Man kann davon ausgehen, dass auch ihnen auf die Finger geschaut wird. Erfolgsgeschichten gibt es in Brasilien derzeit nicht viele. Die Entwicklung des Rechtswesens ist eine.
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Hatte man uns nicht ( die Presse ) über ein Jahrzehnt lang, oder länger ? , etwas über ein prosperierendes Land, oder boomendes mit dem Namen "Brasilien" erzählt?
Und nun das.
"Das war nicht immer so"
Ganz hervorragende Analyse. Vielen Dank Herr Wissmann!
ökonomische Austerität anstelle Investitionen in öffentliche Infrastruktur – Schulen, Straßen, Nahverkehr, Wohnraum, Arbeitsplätze usw.
Für Sachkundige der brasilianischen Geschichte kommt die gegenwärtige Krise nicht überraschend. politische Krisen gab es immer wenn eine mehr oder weniger links gerichtete Regierung an der Macht war.
Dies geschah als der frühere Diktator Getúlio Vargas in den 1950er Jahren als gewählter Präsident an die Macht zurückkehrte und im Fall von Präsident Goulart vor dem Militärputsch in den 1960ern. Während der Zeit der Lula-Regierung gab es mit der so genannten mensalão (Schmiergeld) Krise die erwiesenen illegalen Wahlkampfspenden und Bestechungsgelder an Kongressmitglieder eine Wiederholung dieser Machenschaften. Unter der Regierung Präsidentin Rousseffs hat die Korruption erschreckende Ausmasse angenommen.
Der neuen Generation der -Unabhängigen- Justiz sei gedankt.
Wer die Entwicklungen in Ecuador, Kolumbien und Venezuela mitverfolgt, den wundert diese Reaktion in Brasilien nicht. Gut, daß es diesmal ohne Militär geklappt hat, aber der Zweck heiligt die Mittel und ergo wäre auch ein militärischer Eingriff vertretbar gewesen. Was wird passieren? Wahrscheinlich werden die Kaffee- und Holzpreise noch einmal kräftig anziehen, man wird ein paar Sozialleistungen zurückfahren, die eine oder andere Favela wird wegen Baubedarf weichen müssen und ein paar Millionen "arme Schlucker" müssen wieder in den Urwald, um dort ihr Glück zu suchen. Also, außer ein paar Spesen, nichts gewesen.
und - amerikahörige Politiker kommen an's Ruder.
Der Bericht über Brasilien ist einseitig. An anderer Stelle las ich, dass Roesseff unschuldig sei, ihr Rivale, der jetzige Präsident dürfe eigentlich kein Amt besetzen, da vorbestraft wegen Korruption. Er habe Richter & Militärs geschmiert.
Ursächlich geht es um die linke Politik, die Roesseff machte, für die Armen mehr - die Reichen haben genug.
Auch andere Länder in Südamerika haben die harte Hand der neoliberalen Wirtschaftsmacht kennengelernt, wenn sie linke Politik machten.
Prof.Mausfeld, Kognitionsforscher bezeichnet, das, was derzeit passiert als " Neoliberale Indoktrination." Der Neoliberalismus sei als Gesellschaftsideologie ein Phänomen. Nicht nur mache er den Armen und Schwachen weiss, sie wären an ihrem Elend selber schuld. Er schaffe es auch dafür zu sorgen dass die gesellsch. Armut kaum je an die Öffentlichkeit dringe. Mit Psychotechniken & entsprechenden Medien würde unser Verstand vernebelt & Widerstand gegen diese unmenschliche Ideologie fast nicht möglich sei.
Ich schließe mich Ihrem Kommentar vollkommen an.
Sie haben dies sehr gut erkannt.
Ein Gespenst geht um in der Welt, der Neoliberalismus, dem nichts und niemand heilig ist. Schrecklich!