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Neue Science-Fiction-Romane - Die Welt in 1000 Jahren

Wie sieht der neue Mensch aus? Gibt es ein Leben in der Erde? Oder auf anderen Planeten? Und wann kommt es zum großen Knall? Auch die Literatur hat sich der Zukunft seit Langem angenommen

Autoreninfo

Frauke Meyer-Gosau ist Redakteurin des Magazins Literaturen.

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Die Zukunft ist in der Gegenwart, immer schon. Auf dem Mars fährt seit dem August letzten Jahres ein Fahrzeug namens „Curiosity” umher und sammelt Informationen über Geologie, Atmosphäre und Strahlung. Sechs Männer in Moskau haben soeben ein 520 Tage währendes Experiment beendet, das einen Flug zum Mars simulierte. Und auf der Erde versucht derweil ein Professor der ETH Zürich eine halbe Milliarde Euro einzuwerben, um mit einem gigantischen Computer die Entwicklung auf der Erde künftig exakt vorausberechnen zu können: Vulkanausbrüche, abstürzende Börsenkurse, Massenerhebungen. Das Kommende, das ahnen wir, hält nicht unbedingt Erfreuliches bereit.

Auch die Literatur hat sich der Zukunft seit Langem angenommen, anfangs hoffnungsvoll, zunehmend jedoch auch sie geplagt von düsteren Visionen. 1914 bereits, mehr als dreißig Jahre, bevor die Atompilze am Himmel über Hiroshima und Nagasaki aufgingen, beschrieb H. G. Wells in seinem Roman „Befreite Welt” die Atombombe. Und noch bevor sich in Deutschland eine massenmörderische Diktatur etabliert hatte, entwarf Aldous Huxley in seinem Roman „Schöne neue Welt” (1932) ein den Menschen totalitär durchregulierendes Staatswesen. Die Erfahrung mit Faschismus und Stalinismus ließ George Orwell in „1984” (1949) und Ray Bradbury in „Fahrenheit 451” (1953) dann auf das letzte Gesellschaftsmolekül setzen, das noch imstande schien, sich staatlichen Übergriffen entgegenzustellen: auf den Einzelnen und dessen widerständige Gedanken – ein verzweifelter, gefährdeter und ungesicherter Rest, wie er seither bis hin zu Margaret Atwoods Klimakatastrophen-Roman „Das Jahr der Flut” (2009) wiederkehrt.

Die visuellen Künste der fünfziger und sechziger Jahre dagegen, befeuert von der allgemeinen Technik-Euphorie im Zeichen von Sputniks und Apollo-Kapseln, entwarfen noch Zukunftsbilder in leuchtenden Farben: von fabelhaften Fahrzeugen, die durchs Universum schweben; von Kolonien auf dem Mond, in denen das Leben aufgrund grandioser technischer Erfindungen ebenso leicht vonstatten geht wie auf der Erde; mit futuristischen Wohnformen und Massenkommunikationsmitteln, deren riesige Paneele am Himmel die neuesten Nachrichten verbreiten. Nachdem der Mensch allerdings bewiesen hat, dass er nicht nur imstande, sondern bereits weit darin fortgeschritten ist, diesen blauen Planeten zugrundezurichten, haben auch wissenschaftlich-technische Wunschbilder an Strahlkraft eingebüßt. Der Gedanke an die Zukunft macht den meisten inzwischen Angst, die einst nahezu unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten des Menschen haben sich in ein Schreckens-Potenzial verwandelt; konsequenterweise suchen viele ihre Rettung da in einem Leben von scheinbar ewiger Gegenwart. Umso frappierender, dass gerade jetzt Autoren aus Deutschland, Spanien und den USA literarische Bilder dessen entwickeln, was auf uns zukommen könnte: im Übergang vom Heute ins Morgen, im 23., schließlich im 26. Jahrhundert.

Ein Mann ist Direktor eines Werks für Elektrotechnik in Leipzig, das zu einem weltweit operierenden Konzern mit dem sprechenden Namen „D’Wolf” gehört. Dessen Zentrale liegt in Philadelphia, das Controlling wird von Berlin aus bewerkstelligt, der Chief Compliance Officer ist ein examinierter Pfarrer. Der Werksdirektor selbst agiert nach der Maxime: „Keine Maschine war einfach eine Maschine. Keine Anlage war einfach eine Anlage. Alles in der neuen Fabrik hatte mit mir zu tun. Alles ging mich an, jedes Werkzeug, jede Vorrichtung. Ich ging alles an.”

Ernst-Wilhelm Händler: Der Überlebende (S. Fischer)In Ernst-Wilhelm Händlers neuem Roman „Der Überlebende” bildet die Zukunft in der Gegenwart das zentrale Drehmoment: Der Werksleiter und Ich-Erzähler will nicht nur mit einer geheimen Roboter-Produktion innerhalb seines Betriebs eine menschengleich handelnde Maschine entwickeln. Sein großer Traum besteht vielmehr darin, intelligente Roboter eines Tages den Menschen ersetzen zu lassen, nicht allein in bestimmten Arbeitsabläufen, sondern überhaupt, als Gattung. Denn als das Störende am Menschen erscheint ihm dessen Nicht-Maschinenhaftigkeit: die Gefühle, die ihn zu unvorhersehbaren Handlungen verleiten. Erst eine Welt, die sich der Gefühlsgetriebenheit entledigt hätte, wäre eine vollkommene, in Vollkommenheit funktionierende Welt. Für die würde der Direktor alles tun – er baut nicht nur Geräte, er sieht sich als Schöpfer einer neuen Wirklichkeit. Und nicht anders als Gott muss er dabei mitunter auch grausam sein. Wer den Fortgang seines Projekts bedroht, wird ausgelöscht, wie seine Ehefrau, die er ohne Zögern beseitigt. Andere wiederum, wie seine Tochter, vernichten sich selbst, weil sie mit ihren Gefühlen in dieser Welt nicht zurechtkommen; sie ist übrigens „die Verantwortliche für das firmeneigene Projekt Mars”.

Die Tatsache, dass Händlers Figuren sich wie selbstverständlich des Flughafens Berlin-Brandenburg bedienen, verweist die Zeit des Romans ins noch Ungewisse – er zeigt eine Welt irgendwo auf der Schwelle zwischen heute und morgen. Undurchschaubar für alle Beteiligten sind darin die Prozesse und Ereignisabläufe, auch Geheimbünde innerhalb des Konzerns, nie lässt sich wirklich sagen, wer aufgrund welcher Überlegungen und Mehrheitsverhältnisse hier die Entscheidungen trifft. Die Menschen – in diesem Roman bilden sie ein Gestrüpp, in dem einzig die instrumentelle Vernunft eines Roboters Übersichtlichkeit schaffen könnte. Doch so futuristisch dieser Gedankengang anmutet, mit der Figur seines Werksleiters greift Händler auf eine inzwischen geläufige Pathologie des Menschen der Spätestmoderne zurück, die, wie zuletzt in Rainald Goetz’ Roman „Johann Holtrop”, bevorzugt den Managern großer Konzerne zugeschrieben wird (siehe Literaturen 3/2012). Händlers „Ich”, ausgestattet mit allen Symptomen des Asperger-Syndroms, ist aufgrund seines Krankheitsbilds selbst praktisch ein Roboter in Menschengestalt: unfähig zur Empathie, voller Unverständnis für soziale Beziehungsgefüge oder gar für die Liebe. In einem System anonymen Funktionierens kann nur der sozial Kranke „Der Überlebende” sein; das berührbare, auf seiner Würde bestehende Individuum, als letzte Hoffnung für eine bessere Zukunft hat es hier abgedankt.

Hugh Howey: Silo (Piper)Doch steht der psychosozial unheilbar beschädigte Mensch zu Beginn des dritten Jahrtausends keineswegs als einziger literarischer Leit-Typus da. Angesichts der maschinellen Kälte in Ernst-Wilhelm Händlers Roman fühlt sich die Lektüre von Hugh Howeys „Silo” nachgerade wie eine Rückkehr in die gemäßigten Zonen des guten alten Humanismus an. Zu einem Buch mit festen Deckeln wurde „Silo” übrigens nur, nachdem die Anfangs-Geschichte im Juli 2011 als E-Book erschienen war. Amazon-Käufer verlangten darauf stürmisch nach mehr, Howey schrieb weitere vier Folgen, die dann mit der ersten in einem E-Book-„Omnibus” zusammengefasst wurden. Und als auch dieses sich bestens verkaufte, interessierte sich der Verlag Random House dafür – in gedruckter Form erreichte „Silo” Platz eins der Amazon-Bestsellerliste für Science-Fiction, die Filmrechte sind nach Hollywood verkauft. Hier haben sich also die Leser beim Autor ein Buch bestellt und diesem dann zum Mega-Erfolg verholfen. Die Frage, was ihnen daran so gefallen hat, beantwortet sich rasch – und überraschend. Denn dieser Roman ist, trotz ausführlicher Gruselszenen, ein sympathisch altmodisches Buch: Es setzt ganz auf den guten Menschen, der das Herz auf dem rechten Fleck und keine Angst vor den Mächtigen hat; einen, der auch sein Leben aufs Spiel zu setzen bereit ist, wenn es darum geht, die Wahrheit über entwürdigende Machtverhältnisse zu sagen und diese schließlich umzustürzen.

Seit vielen Generationen schon leben die Menschen hier in einem kreisrunden, von einer Glaskuppel bedeckten Gebäude, das 180 Stockwerke tief unter die Erde reicht. Draußen die Erde ist verwüstet, Stürme wüten über dem Mars-ähnlich verödeten Land, am Horizont erkennt man die Ruinen einer Stadt, davor einen Hügel, an dem sich Skelette in Raumanzügen türmen. Sie stammen von Menschen, die von der „Silo”-Gesellschaft ausgestoßen und auf die vergiftete Erdoberfläche verbannt wurden. Wer nämlich Zweifel äußert an der Gründungslegende des Gemeinwesens, dessen Einwohner seien die letzten überlebenden Menschen und dort draußen gebe es kein Leben mehr, wird hinausgeschickt in einem Anzug, der auf baldigen Zerfall präpariert ist. Der Verbannte muss mit einer speziellen Wolle die Linsen putzen (daher der Originaltitel «Wool»), über die die Menschen aus dem Inneren ihren Blick aufs Außen richten. Danach ist seine Atemluft verbraucht.

Im strikt von unten nach oben geschichteten Gesellschaftsmodell des Gehäuses – ganz unten diejenigen, die unter ohrenbetäubendem Lärm die Maschinen in Gang halten, ganz oben der Bürgermeister, der Sheriff und dessen Stellvertreter – hat sich eine Kaste etabliert, die das Herrschaftswissen besitzt und sich nun anschickt, offen die Macht zu ergreifen: die IT-Abteilung, die im Stockwerk direkt unter dem demokratisch gewählten Leitungspersonal residiert. Ein paar Einwohner nämlich sind hinter die Manipulationen des IT-Chefs gekommen, einige Morde ereignen sich, immer mehr Selbstdenker werden zur „Reinigung” hinausgeschickt. Bis die Ausweisung eine junge Frau trifft, die aus der Maschinen-Abteilung (eigentlich aber aus gebildeten Kreisen) stammt und zum neuen Sheriff des Silos ernannt werden sollte. Dank guter Beziehungen zu den Menschen im Versorgungsbereich aber wird ihr zum ersten Mal ein Anzug gefertigt, in dem sie überleben kann. Und während im Innern ein Aufstand losbricht, rollt sie das mörderische System allmählich von außen auf – sie hat einen zweiten Silo entdeckt, in dem es nach einem gescheiterten Aufstand vor dreißig Jahren noch einige wenige Überlebende gibt …

Insgesamt existieren fünfzig dieser unterirdischen Wohnstätten, deren Kontakt untereinander insgeheim von ausgewählten Mitgliedern der IT-Abteilung aufrechterhalten wird. Doch wenigstens in „Silo 18” werden nun andere Verhältnisse einziehen, der unerschrockenen Juliette und ihren Mitstreitern sei Dank: „Die Wahrheit werde ich so oder so verbreiten”, lautet ihre Parole, und Howey weckt Hoffnung darauf, dass sie als neue Bürgermeisterin tatsächlich ein Leben in Selbstbestimmung garantieren wird. Das alles ist so menschenfreundlich erzählt, dass Hugh Howey für seine Utopie die Leserherzen nur so zuflogen: Doch, es gibt ihn auch im 23. Jahrhundert noch, den guten Menschen, eigensinnig, herzlich, erfinderisch, durch und durch gerecht und sozial.

Pablo Tusset: Oxford 7 (Frankfurter Verlagsanstalt)Pablo Tusset in seinem Roman „Oxford 7” und Reinhard Jirgl mit seinem großen Zukunfts-Entwurf „Nichts von euch auf Erden” gehen zumindest räumlich deutlich weiter als „Silo”. Bei ihnen herrscht Gewissheit darüber, dass künftiges Leben sich in regem Austausch zwischen der Erde und deren besiedelten Nachbarplanenten abspielen wird – leider auf die Dauer nicht zum Guten für die Menschen hienieden. Nach der Vorstellung von Pablo Tusset hat sich der Mensch am Ende unseres Jahrhunderts künstliche Planeten geschaffen, „Oxford 7” etwa ist Teil eines Rings von Space Stations, auf denen die akademische Ausbildung stattfindet. Die auf der Erde wie im Weltraum Geborenen leben überwiegend friedlich miteinander, und es bleibt ihnen auch nicht viel anderes übrig: Das Universum insgesamt ist zu einem Überwachungsmoloch geworden, der aufgrund fortgeschrittener Emotionstechnologie bis in die Pläne und Gedanken des Einzelnen schauen kann. Wer erst 40 Jahre alt ist, gilt hier als „Rotznase”, verantwortliche Staatsbeamte sind um die 120, und die fiese Uni-Rektorin Emily Deckard steht mit ihren 90 Jahren im besten Herrschaftsalter.

Dass dies alles nicht so ganz ernst gemeint ist, signalisieren schon die Namen der Mitglieder eines oppositionellen Studentengrüppchens unter der Führung von Professor Sirhan Palaiopoulos: BB, Mam’zelle und Marcuse. Auf ihrem illegalen Raumgleiter-Flug zur Erde, gesteuert von einer Art Althippie (Alkohol, Tabak, Gras), wollen sie die Schreckschraube Deckard durch ein Erpressungsmanöver zu Fall bringen. Behilflich sein soll ihnen dabei ein Bösewicht, der sich schon bei einem Massenaufstand des Jahres 2013 als Sadist hervorgetan hat; derzeit hält er als Chef einer Bande von Adrenalin-Dealern den Polizeichef von Barcelona gefangen und quält ihn brutalstmöglich. Tusset verlegt sich bevorzugt auf scherzhafte Einfälle, doch geht einem sein ständiges Augenzwinkern rasch ziemlich auf die Nerven, zumal der Studenten-Widerstand sich im Anschauen alter Filme („Casablanca”), im Hören alter Jazz-Platten, im Abbrennen von Kerzen und im Rauchen beweist. Denkt man endlich, nun käme es zum Showdown zwischen Studenten und Rektorin, wird diese plötzlich anderen Sinnes und gibt ihren Job auf, und das war’s dann mit ihrem Schreckensregime. Sie folgt damit der Devise des Althippies Rick, die am Ende auch den Studenten den Weg weist: „Leb dein Leben und versuch, glücklich zu werden (…) Eigentlich läuft es auf unserer Welt doch gar nicht so schlecht.”

 

Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden (Hanser)Wäre Tussets Rick Teil des Figuren-Ensembles im neuen Roman des Büchnerpreisträgers Reinhard Jirgl, er wäre ein exemplarisches Beispiel für die Wirkung jenes „Pazifizierungs-Gens”, das in „Nichts von euch auf Erden” vor einigen Generationen aus Mars-Labors versehentlich auf die Erde gelangt ist und die Menschheit in einen seligen Friedenszustand versetzt. Auf dem Mars dazu gedacht, die von der Erde hochgeschafften kriminellen und gewalttätigen Kolonisten ruhigzustellen, hat die genetische Veränderung auf Erden Wunder gewirkt: Man lebt in gegenseitigem Respekt und entsprechender Höflichkeit zusammen, jeder kümmert sich, zum Nutzen aller, nur um sich selbst. Freilich haben sich, um diesen Zustand zu erhalten, die Kontinente mit meterhohen Betonwällen voneinander abgeschottet, weder Handel noch Kommunikation finden statt, auch Wanderungsbewegungen gibt es nicht mehr. Die grausamen, um Energie geführten „Sonnenkriege” liegen schon ein paar Jahrhunderte zurück, und die aggressiven „Tatmenschen” haben die Erde in Richtung Mars verlassen.

Doch wird es dabei im 26. Jahrhundert nicht bleiben. Grandios eröffnet Jirgl das „Erste Buch” seines Romans mit der Ankunft der „E.S.R.A.-Kommission=vom-Mars”, die alles verändern wird: die Menschen, ihr Zusammenleben, das Klima – am Ende unwiderruflich auch den Mars und die Erde selbst. Denn die da zurückkehren auf ihren Ursprungsplaneten sind diejenigen, die ihre Arbeitskräfte auf dem Mars unter unvorstellbar grausigen Bedingungen verbrauchen; nun benötigen sie Nachschub. Und müssen, um davon auch profitieren zu können, zunächst die genetische Pazifizierung rückgängig machen. So friedlich nämlich ist der Mensch auf Erden in seinem Selbstgenuss geworden, dass auch die Fortpflanzung allmählich zum Erliegen kommt. Und so entfaltet sich, neben Rückblicken in die Welt-Geschichte der letzten 600 Jahre, ein zunehmend finsteres Geschehen, mal auf der Erde, mal in Schreckensbildern von den unterirdischen Arbeitslagern auf dem Mars. Die Triebkraft all dieser Prozesse aber ist die Hybris derer, die auf dem fernen Planeten mithilfe gigantischer „Terraforming Programme” (Jirgl hat die wissenschaftlichen Überlegungen zur Mars-Besiedelung genau studiert) menschliches Leben installiert haben und dessen Bedingungen laufend zu optimieren versuchen; freilich nur für den geringsten Teil der Population, der große Rest wird in den Gulags vernichtet. An dieser Hybris werden Mars und Erde im Big Bang der finalen Apokalypse dann auch zugrunde gehen.

In den beiden zentralen „Büchern” des Romans erzählt ein Mann, der eingangs mit 25 Jahren gerade das Erwachsenenalter erreicht und am Ende etwa 60 Jahre alt sein wird, von seinen Fährnissen: wie er sich noch eben in einer anrührenden Zeremonie mit „der Einen” verbinden kann, bevor die Liebenden von der rassistischen marsianischen Gesetzgebung getrennt werden; wie er mit seinem Vater als einzigem Familienangehörigen auf der Erde lebte; wie er entdeckt, dass er selbst auf dem Mars geboren wurde und dann in privilegierter Position – via einjähriger Zwischenstation auf dem Mond – selbst auf den Mars fliegt; wie er mit seinem Raumschiff dort von einer feindlichen Mars-Nation bei der Landung abgeschossen wird und in die Gedärme des Arbeitslagersystems gerät; wie er doch noch in die Kolonie „Cydonia I” gelangt und am Ende auf die Erde zurückkehrt. Ein ebenfalls zweiteiliges „Buch der Kommentare” schließt diese Ich-Erzählung ein, verfasst von den phantastischen „morphologischen Büchern”, die nach dem Ende allen Lebens auf Erde und Mars die Geschichte nun selbsttätig fortschreiben – Bücher, die ihre eigenen Autoren und auf die Arbeit eines Historikers oder Schriftstellers nicht länger angewiesen sind.

Eine komplexere Organisation seines gut fünf Zukunfts-Jahrhunderte umgreifenden Stoffs hätte Reinhard Jirgl kaum einfallen können – und eine verzwacktere Sprache auch nicht. Seine Leser kennen sie schon aus früheren Büchern: „Sie ist verschwunden, als sei auch Sie in=Diesernacht eine Holovision gewesen, die elektronische Wiederkehr einer Toten. Aber ich fühle auch, daß !Das nicht stimmen kann. ? Wie u Alles wäre genau ?umgekehrt: ich = der Rückkehrer in !Ihre Holovision für merk=würdige Stunden einer Nacht.” Doch nicht nur wegen seiner Schreibweise ist das Buch einigermaßen anstrengend zu lesen. Widrig wirkt zunehmend auch das Beschriebene selbst, das über Hunderte von Seiten durch nichts als Grauen, durch Verwesung, Verstümmelung, Brutalität, Gestank und Dreck führt, gipfelnd in der genüsslich ausgemalten Verspeisung des Hirns eines lebenden Kleinkinds in einem Edelrestaurant auf dem Mars. Es ist, als wende sich die enorme Erzählkunst dieses Autors hier im Schreiben zugleich gegen ihn: in der hermetischen Buchstaben- und Zeichenmixtur ebenso wie in all den horriblen Visionen, die, obwohl so glänzend beschrieben, kaum erträglich sind.

Diese Welt also wird zugrunde gehen, und sie muss es auch, beherrscht von Kreaturen, wie sie Ernst-Wilhelm Händler im Übergang aus unserer in die kommende Zeit zeigt. Nichts Bewahrenswertes gibt es mehr, nachdem der künstlich herbeigeführte Friedenszustand auf Erden brutal und irreversibel beendet wurde, nachdem auch den letzten Menschen alle positiven Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten genommen sind. An eine humanistisch-kämpferische Heldin wie in Hugh Howeys „Silo” ist hier nicht einmal zu denken, und Rick und seine nostalgischen Freunde aus Pablo Tussets „Oxford 7” wären schon längst ihrer Endnutzung als Arbeitskräfte zugeführt worden. Doch auch Händlers autistischer Robotermann würde unter Jirgl’schen Bedingungen nicht überleben: Der menschliche Größenwahn lässt am Ende Himmel und Erde in Flammen aufgehen. Danach aber wird sie wieder sein wie an ihrem ersten Tag, zertrümmert vom Mars-Mond mit dem unheilschwangeren Namen „Phobos”, Furcht. Der Mensch kommt in diesen Resten nicht mehr vor.

Was um Himmels willen ist mit unserer Zukunft los, möchte man fragen, wenn dies die vorausschauende Bilanz der Schriftsteller ist? Begegnen wir hier – in einer neuen Sprache – einer neuen Welt? Nein. Sie ist, gemäß dem wissenschaftlich zur Zeit Denkbaren, immer noch die unsere, lediglich um ein paar Jahrtausende älter und um das Leben auf anderen Planeten sowie einige technische Erfindungen ergänzt; die sind mal eher lustig wie bei Pablo Tusset, zumeist aber folgen sie, wie bei Ernst-Wilhelm Händler, strikt zweckrationalen Anforderungen. Als Einziger vertraut Reinhard Jirgl auf seine Fähigkeit zu phantastischen Entwicklungen. Bei Hugh Howey dagegen scheint es, als spiele sich im «Silo» das Leben des späten 20. Jahrhunderts mit einem Personal ab, dessen Aktionen und Werte eher viel früheren Zeiten entsprechen: Sollte der Mensch nicht gut sein? Er sollte! Und kann er das Böse, selbst wenn es der IT-Branche entspringt, nicht bezwingen? Er kann! Durch kollektive Entschlossenheit, mit notdürftig selbstgeschmiedeten Waffen …

Darin endlich liegt denn auch das eigentlich Beunruhigende dieser Romane: dass es keine Vorstellung mehr davon zu geben scheint, wie ein lebenswertes Dasein in der Zukunft aussehen könnte. Wenn aber die unheilvollen Weichenstellungen der Gegenwart so unüberwindlich, die gesellschaftlichen Aussichten inzwischen für jedermann derart absehbar düster sind – wozu eigentlich braucht es da noch eine Zukunfts-Literatur?


Ernst-Wilhelm Händler: Der Überlebende. Roman. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2013. 336 S., 19,99 €

Hugh Howey: Silo. Roman. Aus dem Amerikanischen von Gaby Wurster und Johanna Nickel. Piper, München 2013. 534 S., 19,99 €

Pablo Tusset: Oxford 7. Roman. Aus dem Spanischen von Ralph Amman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2013. 285 S., 19,90 €

Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden. Roman. Hanser, München 2013. 544 S., 27,90 €
 

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