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Flüchtlingskrise und Prognosen - Warum Katastrophen erkannt, aber selten verhindert werden

Schon vor mehr als zwei Jahren haben Institute und NGOs vor den Folgen des Syrienkrieges gewarnt. Trotzdem hat die EU wenig getan, um sich auf die Flüchtlinge vorzubereiten. Warum hören Politiker kaum auf wissenschaftliche Prognosen und Kassandrarufe?

Autoreninfo

Krisztian Simon ist ein ungarischer Journalist. Er war Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin. Zurzeit ist er unterwegs in Zentralasien.

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Man hätte ahnen können, dass ein Bürgerkrieg zu einer großen Zahl an Flüchtlingen führt. Es gab zahlreiche Prognosen. Erst hieß es, in diesem Jahr würden allein 450.000 Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragen, dann 800.000, eine Million und letztendlich 1,5 Millionen. Warum verhält sich Europa dennoch so, als wäre die Ankunft von Flüchtlingen eine Überraschung?

Zumindest vermitteln die Regierungen der EU diesen Eindruck: Flüchtlingsheime sind überfüllt, Erstaufnahmestellen überfordert, Menschen übernachten in Büschen, da sie tagelang nicht registriert werden. Solche Zustände wird wohl niemand als „Willkommenskultur“ bezeichnen.

Statt immer weiter zu versuchen, Zahlen vorherzusagen, sollte man sich künftig lieber die Trends näher ansehen – und anhand dieser auch politische Entscheidungen treffen. „Es hat uns nie Probleme bereitet, Kassandra zum Sprechen zu bringen“, sagt Dirk Salomons, Professor der Columbia University in New York, der früher selber mehrere humanitäre Missionen geleitet hatte. „Sie teilte uns immer früh genug mit, dass es Probleme geben wird. Uns fiel es aber immer schwer, ihr zu glauben.”

Mehrere Nichtregierungsorganisationen – wie die International Crisis Group, Amnesty International und Human Rights Watch – veröffentlichen regelmäßig Berichte über Krisensituationen, die zu einer großen Zahl von Flüchtlingen führen können. Analog der Reliefweb Website der Vereinten Nationen arbeitet auch die EU daran, ein eigenes Frühwarnsystem aufzustellen. Amnesty hatte schon vor zwei Jahren die Regierungen der EU-Länder aufgerufen, syrische Flüchtlinge direkt aus den Flüchtlingslagern im Nahen Osten bei sich aufzunehmen. Aber niemand hatte zugehört.

Was wird analysiert?


Die Vorhersagen beruhen auf einer großen Zahl von Modellen. Unter anderem gibt es Schwellenmodelle, die annehmen, dass ab einem bestimmten Niveau von Menschenrechtsverletzungen Konflikte ausbrechen können – und viele Flüchtlinge zur Folge haben. Sequenzial-Modelle wiederum konzentrieren sich auf eine Serie von Ereignissen; Mustererkennungsanalysen vergleichen die aktuelle Situation mit Ereignissen der Vergangenheit.

Susanne Schmeidl, eine der herausragendsten Experten über die Vorhersagen humanitärer Katastrophen, schrieb in einer Analyse der schweizerischen Nichtregierungsorganisation Swisspeace, dass keine dieser Methoden perfekt sei. Dennoch seien zum Beispiel die sogenannten Clusteranalysen (die versuchen, Ähnlichkeitsstrukturen in Datenbeständen zu finden) der vergangenen Jahre sehr erfolgreich gewesen. Dabei ging es darum, Konflikte im Nahen Osten vorherzusagen. Zurzeit gibt es auch mehrere Organisationen, die damit experimentieren, die Routen von Flüchtlingen mit Hilfe von Handydaten, Facebook- und Twitter-Nachrichten nachzuzeichnen.

Worauf sollte man aufpassen?


Die ersten Vorhersagen wurden für Börsencrashs und Naturkatastrophen entwickelt. Ihr Ziel war nicht die Prävention, sondern die Schadensbegrenzung, schreibt Schmeidl.

Auf Flüchtlinge adaptiert hatte die Methode Prinz Sadruddin Aga Khan, ehemaliger UN-Flüchtlingshochkommissar in den 80er Jahren. Er zeigte, dass schnelles Bevölkerungswachstum, Nahrungsmittelunsicherheit, Inflation, zu hohe Arbeitslosigkeit sowie Umweltverschmutzung mögliche Faktoren sind, die die Wahrscheinlichkeit von Flüchtlingsströmen erhöhen können. Allerdings sollte man sie nicht als Ursache betrachten. Khan bewies auch als Erster, dass die Fluchtentscheidung davon abhängig sei, was den Flüchtenden nach dem Grenzübergang erwarte. Die Verfügbarkeit von Informationen, die Zugänglichkeit von Flüchtlingslagern sowie die Flüchtlingspolitik in den Gastländern spielten alle eine Rolle.

Der New Yorker Friedensforscher Dirk Salomons spricht von einem langfristigen Prozess „mit einer großen Explosion am Ende”. Dabei könne man meist schon sehr früh erkennen, wann ein Land sich in einen gescheiterten Staat entwickle. Das beste Indiz sei die Ausgrenzung: wenn die Minderheiten sich nicht mehr sicher fühlen, wenn die Unabhängigkeit der Justiz infrage steht, wenn sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt und den Institutionen nicht mehr vertraut wird, dann kann es bald schwerwiegende Probleme geben.

Beschleunigung und Verzögerung


In den 1990er Jahren untersuchten die beiden Völkermord-Experten Barbara Harff und Ted Robert Gurr im Auftrag der Clinton-Administration, wie man einen Genozid verhindern könnte. Sie identifizierten Beschleunigungs- und Verzögerungsfaktoren. Internationale Verhandlungen wie das Arushe-Abkommen vor dem Völkermord in Ruanda hatten die Eskalation der Gewalt etwas verzögert. Doch nachdem elf belgische Mitglieder der Friedenstruppen ermordet worden waren, zog sich die Internationale Gemeinschaft von weiteren Eingriffen in Ruanda zurück. Mit den Attentaten auf mehrere Oppositionspolitiker brach schließlich die Hölle los.

„Unter Beschleunigungsfaktoren muss man sich gar nicht immer etwas Weltbewegendes vorstellen”, sagt Salomons. Es kann passieren, dass dieses Ereignis in der Wahrnehmung der internationalen Betrachter erst einmal ganz unbemerkt bleibt, aber dennoch ein Schneeball-Effekt folgt. Das sei der Fall in Syrien gewesen, und Ähnliches könne auch in der Türkei folgen, denn „die derzeitige Politik von Erdogan kann in geraumer Zeit zu einem Exodus der jungen Intellektuellen führen”.

Weitere Analysen haben gezeigt, dass die Einwohner von Diktaturen erst dann anfangen zu fliehen, wenn der Staat mit physischer Gewalt auftritt. Angst allein ist keine Triebkraft für Migration. Das erklärt, warum sich zurzeit viel mehr Leute aus dem weiten Eritrea auf den Weg nach Europa machen als aus dem relativ nahen Weißrussland.

Analysen zeigen, dass es sich bei Konflikten, die große Fluchtbewegungen auslösen, meistens um Bürgerkriege handelt, bei denen sich externe Akteure einmischen. Wenn zwei oder mehrere Länder miteinander im Krieg sind, sind die Grenzregionen zu gefährlich. Die Einwohner müssen als Binnenvertriebene weiterleben. Schmeidl schreibt auch, dass die traditionellen Entscheidungsprozesse eines Landes eine große Rolle spielen. So entschieden sich viele Afghanen erst dann zu fliehen, als sie sahen, dass die Stammesführer sich schon auf den Weg gemacht hatten.

Die Gründe des Nichtstuns


All das zeigt: Eigentlich könnte man Flüchtlingskrisen früh genug identifizieren. Dennoch scheint die Politik im Westen dafür kein Interesse zu haben. Laut Salomons ist einer der Hauptgründe, dass der Westen zurzeit zu sehr mit dem Terrorismus beschäftigt ist und humanitäre Probleme gar nicht mehr wahrnimmt.

Wenn das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) genügend Unterstützung bekommen hätte, ihre Flüchtlingslager im Nahen Osten zu betreiben, wären viele geblieben. Aber in einer Situation, in der sie sich entscheiden müssen, ob sie den Winter in schlecht ausgestatteten Zeltlagern verbringen, oder lieber versuchen in Deutschland Arbeit zu finden, dann ist es selbstverständlich, dass sie sich für die zweite Option entscheiden, meint der Professor.

Im Sommer hatte das UN-Flüchtlingshilfswerk eine Finanzierungslücke von drei Milliarden Euro. Ein paar Monate später hieß es in den deutschen Zeitungen, dass die Flüchtlingsversorgung den deutschen Staat allein zehn Milliarden Euro kosten würde. Wenn also Europa sich jetzt wegen der Flüchtlinge beklagt, ist es sehr schwer zu verstehen, warum die europäischen Regierungen nicht rechtzeitig in Flüchtlingsunterkünfte im Nahen Osten investiert haben.

Wahrscheinlich hofften sie, die Last auch auf andere Länder außerhalb der EU abwälzen zu können. Es könne ja nicht sein, dass jeder Flüchtling hier Asyl beantragen wolle. Oder man meinte schon damals, ein Zaun könne alle Probleme lösen. Und diejenigen Politiker, die eine progressivere Lösung befürworteten, fanden es unmöglich, 28 EU-Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen Antwort auf eine zukünftige Herausforderung zu vereinen.

Jonathan Whittall, Stratege der „Ärzte Ohne Grenzen“, schrieb in einer Studie, dass seiner Erfahrung nach Staaten nur dann bereit sind, humanitäre Hilfe zu leisten, wenn sie davon selbst einen Nutzen haben. Im Fall von Ruanda hatte zum Beispiel der kanadische General Roméo Dallaire mehrere Nachrichten an seine Vorgesetzten geschickt. Er warnte, ein Völkermord könne bald ausbrechen. Es gab aber keine Reaktionen. Laut Whittall will die internationale Gemeinschaft mit humanitären Eingriffen meistens nur ihr Gewissen beruhigen. Es ist ihnen weniger wichtig, eine wahre Lösung anzustreben. In anderen Fällen benutzen sie Vorhersagen als Legitimation für Eingriffe, die eigentlich nur dem Selbstzweck dienen.

Politisch gesehen gibt es noch ein anderes Problem. Man kann den Wählern nicht so einfach klarmachen, warum man Geld für präventive Interventionen ausgeben muss. Während die Regierung glaubt, eine humanitäre Katastrophe verhindert zu haben, sehen Wähler wie Oppositionsparteien nur eines: Die Regierung hat das Geld der Steuerzahler für etwas ausgegeben, das gar nicht stattgefunden hat.Eine

Eine frühere Version dieses Textes ist in der ungarischen Wochenzeitung Magyar Narancs erschienen.

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