- Die acht Halbwahrheiten der Flüchtlingskrise
In der Debatte um Flüchtlinge und deren Integration hat sich eine Erzählung herausgebildet, die so nicht stimmt. Die Massenmigration darf nicht länger schön geredet werden
In der Oktoberausgabe des vergangenen Jahres erschien ein außergewöhnlich luzides Essay von Michail Schischkin in Cicero. Unter dem Titel „Das Imperium der Lügen“ legte der in Moskau geborene Schriftsteller dar, warum es in seinem Heimatland geradezu ein Teil des Gesellschaftsvertrags sei, die Wahrheit abzustreiten. In Deutschland sind wir vom institutionalisierten System der Tatsachenverdrehung zum Glück weit entfernt. Gleichwohl hat sich im Zusammenhang mit der derzeitigen Massenmigration eine Erzählung herausgebildet, die bei etwas genauerem Hinsehen kaum aufrecht erhalten werden kann. Es sind Erklärungsmuster, die inzwischen in jeder Talkshow bemüht werden; Sätze, die jeden Tag in Zeitungen zu lesen sind; politische Statements, die ganz offensichtlich nur zur Beschwichtigung dienen sollen. Natürlich kann es nicht Aufgabe der Politik sein, Ängste zu schüren. Aber ein konsequentes Abstreiten von Problemen wird auf Dauer zwangsläufig dazu führen, dass die gesellschaftliche Spaltung weiter zunimmt. Deswegen wäre ein bisschen mehr Ehrlichkeit das Gebot der Stunde. Denn sonst bleibt das Merkel‘sche Verdikt von wegen „Wir schaffen das!“ eine hohle Durchhalteparole. Die folgenden Beispiele sollen die in diesem Zusammenhang acht geläufigsten Halbwahrheiten ein bisschen geraderücken.
1.) Die Migranten sind eine Bereicherung für den Arbeitsmarkt
Erste Erhebungen des Bundesarbeitsministeriums sind ernüchternd. Aus einer Testgruppe konnten nur 12 Prozent der Neuankömmlinge in reguläre Arbeitsplätze vermittelt werden; 80 bis 90 Prozent hatten keine Qualifikation, die heute und direkt auf dem deutschen Arbeitsmarkt verwertbar ist. Um mittelfristig immerhin 35 Prozent der Migranten für einen Beruf zu qualifizieren, sind enorme Anstrengungen bei der Aus- und Weiterbildung notwendig.
2.) Es wird trotz der Migranten bei einem ausgeglichenen Bundeshaushalt bleiben
Über die tatsächlichen Kosten wegen des Massenzustroms lässt sich derzeit nur spekulieren – allein schon deshalb, weil die Zahl der Zuwanderer unklar ist. Bei einer sehr zurückhaltenden Schätzung von 800.000 Zuwanderern in diesem Jahr entstünden laut einer Hochrechnung von Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, Mehrkosten in Höhe von 20 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr. Das kann entweder durch Steuererhöhungen ausgeglichen werden oder durch ein Abrücken von Schäubles „schwarzer Null“. Auf mittlerer Leitungsebene in den betroffenen Ministerien wird deshalb fest damit gerechnet, dass es nach den drei Landtagswahlen im März nächsten Jahres (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt) einen Nachtragshaushalt mit neuer Schuldenaufnahme geben wird.
3.) Die meisten Flüchtlinge werden zurückkehren, wenn sich die Situation in ihren Heimatländern beruhigt hat
Darüber kann man nur spekulieren, es existieren keine belastbaren Erhebungen. In jedem Fall stünde dieser Sachverhalt auch in Widerspruch zum politischen Argument, die Flüchtlinge sollten dauerhaft die Lücke auf dem deutschen Arbeitsmarkt schließen. Die Verwaltungsebene im Bundesarbeitsministerium geht jedenfalls für ihre Planungen fest davon aus, dass die meisten der jetzt ankommenden Migranten dauerhaft in Deutschland bleiben wollen und werden.
4.) Von den Flüchtlingen geht keine Terrorgefahr aus
Auch dieser Satz basiert mehr auf Hoffnung als auf Fakten. Es ist schlicht unmöglich, angesichts der unkontrollierten Massenzuwanderung die Motivation jedes einzelnen Migranten auch nur halbwegs abzuschätzen. Das Argument, die Menschen flüchteten vor dem IS und seien gerade deswegen friedlich gesonnen, mag noch zutreffen. Allerdings sind keineswegs sämtliche Zuzügler Bürgerkriegsflüchtlinge. Außerdem ist es erklärtes Ziel des IS, Europa zu destabilisieren. Vor diesem Hintergrund hätte der IS durchaus ein Interesse daran, eigene Kämpfer als vermeintliche Flüchtlinge nach Europa zu schicken. Es existieren erste Hinweise, dass dies auch geschehen ist. Nicht ohne Grund sind die französischen Sicherheitsdienste extrem besorgt wegen Deutschlands Politik der offenen Grenzen.
5.) Die Flüchtlinge wären auch ohne Merkels Willkommensgeste gekommen
Fakt ist, dass die Bundeskanzlerin mit ihrer Flüchtlingspolitik des „freundlichen Gesichts“ ein Signal setzen wollte. Vor dem Hintergrund elender Zustände in Flüchtlingscamps ist dies als humanitärer Impuls durchaus verständlich. Aber natürlich wurde dieses Signal praktisch in Echtzeit in die Flüchtlingscamps der syrischen Anrainerstaaten und in die Bürgerkriegsländer Syrien und Irak weitergeleitet – mit den entsprechenden Mobilisierungseffekten. Deutschland wurde zum Wunschziel Nummer 1, und die Länder entlang der Balkanroute (einschließlich Österreich) haben dies als Einladung verstanden, die Migranten umstandslos bis zur Bundesrepublik durchzuwinken. Die Zahl der Migranten mit dem Ziel Deutschland ist seit Merkels Schwenk in der Flüchtlingspolitik entsprechend gestiegen. Neuerdings machen sich auch immer mehr Menschen aus Ländern wie Ägypten, wo kein Bürgerkrieg herrscht, auf den Weg in die Bundesrepublik.
6.) Man kann die deutschen Außengrenzen ohnehin nicht kontrollieren
Die für den Grenzschutz zuständige Bundespolizei ist in diesem Punkt dezidiert anderer Meinung. Dort heißt es: Wenn es politisch gewollt wäre, könnte man binnen weniger Tage ein funktionierendes Grenzregime errichten und der unkontrollierten Massenzuwanderung fast vollständig Einhalt gebieten. Dies sei aber nicht erwünscht, weil die Politik um praktisch jeden Preis „unschöne Bilder“ vermeiden wolle.
7.) Asyl kennt keine Obergrenze
Dieser Satz stimmt nicht. Bei dem Individualgrundrecht auf Asyl handelt es sich nicht um ein Abwehrrecht, sondern um ein sogenanntes Leistungsrecht. Das bedeutet: „Wer Asyl beantragt, will nicht, dass der Staat ihn in Ruhe lässt, sondern er will etwas vom Staat, das er bisher nicht hatte, wie beispielsweise einen Studienplatz“, so der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau in der aktuellen Ausgabe von Cicero. Jedes Leistungsrecht unterliegt aber einem stillschweigenden Vorbehalt des Möglichen: „Wenn also alle Turnhallen voll sind, dann wäre schon von Rechts wegen Schluss auch mit dem individuellen Asylrecht.“
8.) Deutschland kann von der Zuwanderung nur profitieren
Diese Aussage ist schon deshalb problematisch, weil sie (humanitäre) Flüchtlingspolitik mit wirtschaftspolitisch motivierter Einwanderungspolitik vermischt. Wer einen Flüchtling bei sich aufnimmt, will dessen Not ja nicht ausnutzen, sondern ihm helfen. Wenn es also darum ginge, die Bundesrepublik durch Zuwanderung von Fachkräften fit für die Zukunft zu machen, bräuchte es klare Kriterien dafür, wer kommen soll und wer nicht. Das ist in der derzeitigen Situation naturgemäß nicht der Fall. Ob Deutschland von der derzeitigen Massenmigration tatsächlich profitiert, wird sich frühestens in ein paar Jahren zeigen. Die Voraussetzungen sind wegen der mangelnden Qualifikation der meisten Zuwanderer aber eher schlecht. Deswegen hängt alles von einer raschen und erfolgreichen Integration ab. Auch dafür sind die Vorzeichen eher schlecht. Das liegt nicht nur an der schieren Zahl der Zuzügler und an deren mangelnder Diversität (der ganz überwiegende Teil stammt aus dem islamischen Kulturkreis). Sondern auch an der Gefahr von Verteilungskämpfen am unteren Ende des Wohnungs- und Arbeitsmarkts. Die Weigerung von Bundesarbeitsministerin Nahles, bei Flüchtlingen Ausnahmen vom Mindestlohn zuzulassen, wird vielen den Zugang zum Arbeitsmarkt versperren. Bezahlte Arbeit ist jedoch eine der zentralen Voraussetzungen für gelingende Integration.
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