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Jauch, Varoufakis, Böhmermann - Lektionen aus dem Fingergate

Kolumne: Zwischen den Zeilen: Am Anfang war der Finger. Am Ende dann doch Jan Böhmermann. Ein Fake und seine Folgen. Gedanken zum Finger

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Es begann mit einem Finger und der Frage: Hat Varoufakis oder hat er nicht? Der mediale Stinkefinger wuchs und wuchs, wurde größer als der Schuldenberg der Griechen. Eine einfache Geste zeigt Europa, dass es dann doch irgendwie eine gemeinsame Sprache spricht.

Doch was macht ihn eigentlich so gefährlich, so anders? Diesen Finger? In der Gruppe ist er nur einer von vielen, der Größte, gewiss, aber doch unschuldiger Mittler zwischen Ring- und Zeigefinger. Wehe aber, seine Nachbarn tauchen ab. Erst in der Isolation wird er zum Bösewicht. Wird erst so richtig stinkig, wenn man ihn alleine lässt. Ihm die Solidarität kündigt. (Analogie gewollt!) Dabei ist die Symbolik des muffigen Fingers längst globalisiert.

Dieser Mittelfinger verlor seine Unschuld im antiken Griechenland. Wollte Varoufakis vielleicht einfach nur an Traditionen anknüpfen? In der Antike nutzten Ärzte ihren längsten Finger, um Salben aufzutragen, auf Stellen, die nur durch den Längsten zu erreichen waren. Dann wurde der Finger zum Phallus erotisiert und schließlich zum „digitus impudicus“ erklärt: Zum unzüchtigen Finger. Der Ruf war ruiniert.

Zum Leidwesen von Varoufakis. Der aber bleibt dabei: Ich wars nicht, ruft er den Deutschen zu. Videoexperten zogen durchs Land, erklärten ihn für echt, den Finger.

Und dann kam Jan Böhmermann: Der dachte sich, ein Finger ist ein Finger ist kein Finger – diese Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Er ließ montieren, was das Zeug hielt, gab sich als Urheber des Fingers aus und band den schier unversöhnlichen Kombattanten ein wunderbar humoriges Schleifchen um. Mit seinem Glanzstück satirischer Videokunst trieb Böhmermann, der fleischgewordene Mittelfinger öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten, eine ganze Branche in den Wahnsinn.

Er lieferte das fehlende Teil des Puzzles, begann eine spannende Geschichte vor die doch längst müd-erzählte Posse zu spinnen. Konstruiert, aber plausibel genug, um für einen halben Tag das Erregungspotential neuer Medien voll auszuschöpfen.

Und wir? Staunen und lernen.

Die zehn Lektionen:
 

1. Man kann einen Stinkefinger aus dem Zusammenhang reißen.

2. Die Reaktion auf die Satire zeigt, wie Medien funktionieren und wie Medien auf keinen Fall funktionieren sollten.

3. Lerne: Überprüfe deine Quellen. Das gilt für die Redaktion von Günther Jauch, die den Finger in einen Kontext stellte, in den er nicht gehörte. Und für den Rest, die der neuen Erzählung folgten, weil sie daran glauben wollten.

4. Internetexperten gibt es nicht! Es hat wenig Sinn, sie nach der Echtheit eines Videos zu fragen. Beim nächsten Mal: Klassisch recherchieren. Schließlich waren genug Menschen beim Varoufakis-Vortrag vor Ort.

5. It‘s not the stinkefinger, stupid: In der Eurokrise ist ein Mittelfinger das kleinste Problem.

6. Jauch und Politik ist wie Grünkohl mit Pinkel: Die Kombination bekannt, aber schwer verdaulich.

7. Nur ein gedruckter Finger ist ein echter Finger: siehe Focus-Titel. Oder war das etwa auch ein Fake?

8. Wir sind paranoid! Alle! Natürlich sind wir das! Medien hyperventilieren und neue Medien hyperventilieren absolut.

9. Gute Satire trifft alle: die Medien, die Politik, die Diskussionskultur und auch den griechischen Finanzminister Varoufakis. Spätestens dann, wenn der via Twitter von Jauch und Co. eine Entschuldigung fordert, sich also auf Böhmermanns Interpretation der Wahrheit bezieht, um wiederum seine Interpretation der Wahrheit zu beweisen.

10. Der Stinkefinger hat ein deutsches Pendant: den Zeigefinger. Bei Jauch traf der Stinkefinger auf den deutschen Moralfinger. Oberlehrerhaft rüffelten Söder und Co. die Griechen für "nichtgemachten Hausaufgaben". Insofern sind diese beiden Finger das artgerechte Symbol für das derzeitige deutsch-griechische Verhältnis. Oberlehrer-Finger trifft Leck-mich-doch-Finger. Aber: Sie bleiben Nachbarn. Zwei Finger der selben Hand.

Und Böhmermann? Der vermeldet: „Niemals würden wir die notwendige journalistische Debatte über einen zwei Jahre alten aus dem Zusammenhang gerissenen Stinkefinger derart skrupellos der Lächerlichkeit preisgeben“

Mission erfüllt, Böhmermann. Den falschen Finger in die echte Wunde gelegt.

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