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Armutsbericht - Von der Wichtigkeit, Armut zu messen – und der Schwierigkeit es zu tun

Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat eine Debatte über Armut in Deutschland ausgelöst. Die Autoren stehen in der Kritik. Mitautor Christian Woltering wehrt sich. Ein Plädoyer für einen kontroversen sowie sachlichen Umgang mit Statistiken zur Armutsmessung

Autoreninfo

Referent für fachpolitische Grundsatzfragen und Autor des Armutsberichts Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V.

So erreichen Sie Christian Woltering:

Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat in den letzten Tagen eine Debatte darüber losgetreten, ob und wie Armut in unserer insgesamt wohlhabenden Gesellschaft vorhanden ist und gemessen werden kann. Kritiker, auch aus der Wissenschaft meinen, der methodische Ansatz des Armutsberichts sei ungeeignet, um Armut darzustellen. Als „total übertrieben“ stellte Guido Bohsem in der Süddeutschen Zeitung die Zahlen des Verbandes dar.

Auch wir Autoren des Armutsberichtes stellen sich seither die Frage: Wie berechtigt ist die Kritik? Das wird klarer, wenn wir uns nochmals vor Augen führen, was genau dort als „Armut“ bezeichnet wird.

Im Zentrum der Debatte steht das international übliche Maß zur Messung von Armut, das nach Kriterien der OECD, der WHO und der Europäischen Union die Armutsgrenze bei 60 Prozent des durchschnittlichen, bedarfsgewichteten Einkommens zieht (sog. Nettoäquivalenzeinkommen). An dieser Grenze, so die Kritiker, werde deutlich, dass hier nicht Armut, sondern wenn überhaupt nur die Einkommensungleichheit in unserer Gesellschaft dargestellt wird. Diese Tatsache unterschlägt auch der Paritätische Wohlfahrtsverband nicht, sondern wiederholt sie Jahr für Jahr und Bericht für Bericht.

Laut Verband ist aber weniger die 60-Prozent-Grenze an sich von Bedeutung. Diese ist zwar willkürlich. Aber nach jahrzehntelanger Diskussion international einheitlich festgelegt. Damit besitzt sie eine nicht zu unterschätzende Legitimation. Vielmehr ist jedoch der konkrete Schwellenwert von Bedeutung, der sich daraus ergibt. Erst an diesem Wert lässt sich erkennen, ob die 60-Prozent-Grenze tatsächlich einen armutsnahen Bereich beschreibt oder ob sie an der Realität vorbei geht.

Anekdoten mit schwacher Aussagekraft
 

Die Schwelle lag bei einem Single-Haushalt im Jahr 2013 bei 892 Euro, bei einem Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 1.873 Euro. Sicherlich gibt es Menschen, die mit 892 Euro im Monat auskommen, ohne sich arm zu fühlen, zum Beispiel viele Studenten. Wahrscheinlich gibt es noch mehr Menschen, die deutlich mehr verdienen, sich aber trotzdem den „Armen“ zugehörig fühlen. Wenn man versucht, ein möglichst objektives Bild der Armut in einem Land zu zeichnen, hilft es aber nicht weiter, von „gefühlter Armut“ zu sprechen oder, wie Herr Bohsem, Anekdoten über Fahrradtouren in Mecklenburg-Vorpommern als Beweis fehlender Armut vorzubringen. Nicht umsonst gilt anekdotische Evidenz aufgrund ihrer schwachen Aussagekraft als Gegensatz zur statistischen Evidenz.

Der objektivste Maßstab, der uns zur Verfügung steht und den auch der Paritätische Wohlfahrtsverband anlegt, ist der Vergleich mit denjenigen in unserer Gesellschaft, die sogar laut Bundesverfassungsgericht am Existenzminimum leben: den Empfängern von Grundsicherungsleistungen (z.B. Hartz IV).

Vergleicht man die Hartz-IV-Bedarfsschwelle mit dem Schwellenwert der amtlichen Statistik, wird deutlich, dass die 60-Prozent-Grenze ziemlich genau den Personenkreis umfasst, der an oder unter Hartz-IV-Niveau lebt. Die vierköpfige Modellfamilie mit ihren 1.873 Euro liegt in Greifswald zwar mit 57 Euro noch knapp über dem Hartz IV-Niveau, in Wiesbaden jedoch aufgrund hoher Lebenshaltungskosten bereits 206 Euro darunter. Die 60-Prozent-Grenze beschreibt damit also recht zielgenau die Bevölkerungsteile, denen wohl nur hartgesottene Armutsleugner das Attribut „armutsgefährdet“ absprechen würde.

Aber auch die regionalen Unterschiede, etwa bei der Kaufkraft, sind Jahr für Jahr Ziel der Kritik. Wiederkehrend wird die Frage gestellt, ob es sinnvoll sei, eine einheitliche Armutsschwelle für die gesamte Bundesrepublik als Messlatte der Entwicklung anzusetzen. Dürfen Einkommensverhältnisse in Bremerhaven überhaupt mit denen in München verglichen werden? Darf man das Ruhrgebiet mit Stuttgart „über einen Kamm scheren“? In der Tat sind die Kaufkraftunterschiede ein Makel der Berechnungen. Aber es gibt keine akzeptable statistische Alternative. Unter methodischen Gesichtspunkten würde die sehr kleinräumige Berechnung regionaler Armutsschwellen schlicht und einfach dazu führen, dass die Armut „verschwindet“. Wo keiner etwas besitzt, gibt es auch keine Einkommensungleichheit und damit keine Armut. Eine Armutsstatistik in dieser Form wäre nutzlos.

Unverständnis und vorsätzlicher Unsinn
 

Das abwegigste Argument, das momentan vorgetragen wird, um den Armutsbericht zu diskreditieren, lautet aber wie folgt: Angenommen, alle Menschen in Deutschland würden auf einen Schlag 100-mal so viel verdienen wie bisher. Das Land und seine Einwohner wären reicher als jeder andere Staat der Welt. Noch immer läge die rechnerische Armutsquote bei 15,5 Prozent.

Der Grund: Am 60-Prozent-Verhältnis zwischen arm und reich hätte sich nichts verändert. Indes: Wer so argumentiert zeigt, dass er entweder die Statistik nicht verstanden hat, oder vorsätzlich Unsinn verbreitet. Das vorgebrachte Gedankenspiel würde zu Ende gedacht nichts anderes zur Folge haben als ein massives Wachstum der Inflation. Man hätte zwar mehr Einkommen, aber es würde auch alles mehr kosten. Oder salopp gesagt: Wer glaubt, während der Hyperinflation in den 1920er Jahren hätten die Menschen in größerem Wohlstand gelebt, weil sie ein Einkommen in Milliardenhöhe bezogen haben, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.

Das Thema Armut hat es verdient, dass wir kontrovers darüber diskutieren. Weder anekdotische Erzählungen noch statistische Wolkenkuckucksheime werden der Bedeutung dieses Themas gerecht. Hinweise auf die Fehlbarkeit von Statistiken sind wichtig und notwendig, denn nur dadurch können wir langfristig zu besseren Werkzeugen für die Armutsmessung gelangen. Diejenigen, die die Statistiken veröffentlichen, müssen sich dieser Kritik stellen. Aber eine pauschale Verurteilung ist nicht nur kontraproduktiv für die Debatte, sondern birgt auch die Gefahr, dass wir das Thema Armut in unserer Gesellschaft aus dem Blickfeld drängen.

Zum Glück muss in unserem Land fast niemand an Mangelernährung oder an fehlender Gesundheitsversorgung sterben. Aber zu behaupten, Armut wäre in unserer Gesellschaft kein Thema, ist schlichtweg ignorant.

Christian Woltering ist Referent für fachpolitische Grundsatzfragen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und Co-Autor des Armutsberichts

 

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