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Môsieur J./Flickr/CC

Sex. Drogen. Neukölln-Bibliothek. - „Wir sind abends breit“

Kondome auf dem Klo, Dealer im Lesesaal, Brandstiftung, Sexismus: Die Helene-Nathan-Bibliothek in Berlin-Neukölln ist in die Schlagzeilen geraten. Ab März bewachen Sicherheitskräfte den Zugang. Was macht das mit den Angestellten und den Lesern? Ein Besuch

Autoreninfo

Philipp Daum ist Schüler an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München. Vorher hat er Politik, Geschichte und Jura in München und Santiago de Compostela studiert. Er schreibt für Cicero Online.

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Freitag, 11 Uhr in Deutschlands gefährlichster Bibliothek. Auf dem Boden fletscht Lauritius, ein türkisfarbener Lederdrachen mit breiten Flicken an der Seite, seine Zähne. Daneben sitzt eine Gruppe Kindergartenkinder. Die Kleinen schauen gebannt, teils mit offenen Mündern zu der Frau auf der Holztribüne, die ihnen eine Geschichte vorliest.

Darin erklärt eine Maus einem Fuchs, wie die Bibliothek funktioniert. Der Fuchs interessiert sich offenbar für Hörbücher: „‚Bring die CDs vollständig und unzerkaut wieder zurück‘, ermahnt ihn die Maus.“ Eine Kunstpause. „Aber da war der Fuchs mit der CD schon verschwunden, ohne Ausleihschein.“

Ab März kann der Fuchs sowas vergessen. Denn ab März gibt es hier Wachschutz.

Sex, Drogen, Brandstiftung


Sex, Drogen, Brandstiftung, Polizeieinsätze – all das kam in der Neuköllner Bücherei immer wieder vor. Der Ort werde als Umschlagplatz für Rauschmittel „oder auch als Verabredungsplatz für Kuriere benutzt“, hieß es etwa in einem Schreiben, in dem die Mitarbeiter der Stadtbibliothek Anfang Februar ihre Notlage schilderten. Sie beantragten einen Sicherheitsdienst. Vor einer Woche entschied das Bezirksamt Neukölln positiv. Ab März läuft eine dreimonatige Testphase an.

Leben die Mitarbeiter der Bibliothek „in Angst“?

An diesem „schwer erträglichen Ort“?

Passt das überhaupt – eine Bibliothek zu Neukölln?

Mehr als 300.000 Menschen leben in diesem Berliner Bezirk. Neukölln, das ist in den Worten des noch amtierenden Bürgermeisters, Heinz Buschkowsky, jener Stadtteil, „wo an der roten Ampel möglichst alle stur geradeaus schauen, um nicht von den Streetfightern aus dem Wagen nebenan angepöbelt zu werden: ‚Hast Du Problem? Könn‘ wir gleich lösen!‘ Wo junge Frauen gefragt werden, ob sie einen Befruchtungsvorgang wünschen. Wo kleineren Kindern von größeren Jugendlichen eine Benutzungsgebühr für das Klettergerüst abverlangt wird.“

Buschkowsky warnte in seinem Buch: „Neukölln ist überall.“ Auch hier, in der Bibliothek?

Es fängt ja schon mit der Lage an: in einem Einkaufszentrum. Die Bücherei thront über einem riesigen Bau aus Stahl und Glas, direkt neben dem Rathaus und der alten Brauerei, den Neukölln-Arcaden. Ganz oben führt eine schmale Treppe am Parkdeck und Cineplex-Kino hinauf in die Bücherei.

Müll in den Mülleimer!


Drinnen bedeckt ein grau-lila-hellblauer Teppichboden 3000 Quadratmeter, verteilt auf zwei Stockwerke. Die Holzregale haben runde Löcher an den Seiten. Die Bibliothek hat drei Abteilungen; die Erwachsenen-, Kinder-, Jugend- und Musikabteilung. Zusätzlich ein Lernzentrum mit Hausaufgabenhilfe für Schüler. Und ein Sprachenzentrum.  

Brigitte Lichtfeld sagt: „Die Bibliothek ist einfach ein attraktiver, offener, geschützter Ort.“

Es gehört zu Lichtfelds Beruf, solche Sachen zu sagen. Sie arbeitet seit 1979 in der Bibliothek, momentan als kommissarische Leiterin. Lichtfeld sorgt sich um den Ruf ihrer Bücherei. Sie hat Angst, dass die Menschen nach den Schlagzeilen nun denken: „Das ist ein schmutziger Ort.“ Das kann sie nicht brauchen. Einerseits.

Andererseits ist sie erleichtert über den Wachschutz. Sie und ihre Mitarbeiter waren überfordert. Das Schlimme, sagt sie, seien nicht die Polizei- oder Feuerwehreinsätze, die gebe es vielleicht zweimal im Quartal.

Das Schlimme seien die kleinen, täglichen Konflikte: Nicht essen, bitte, nicht schreien, nicht rennen! Müll in den Mülleimer! Nur zwei Leute pro Gruppenarbeitsplatz! Warum? Frag nicht! Wer den ganzen Tag kämpfe, dass die Regeln eingehalten werden und dann dreimal hintereinander erlebt, dass er dieselbe Gruppe Störer rauswirft, die eine halbe Stunde später grinsend wieder hereinmarschiert, „der ist abends breit“, sagt Lichtfeld.  

29 Menschen arbeiten in der Bücherei, darunter viele ältere Frauen. Alles Deutsche. Die Belegschaft tue sich schwer mit der „für uns ungewohnten männlichen Klientel“, sagt Lichtfeld. Damit meint sie: Jugendliche mit muslimischen Migrationshintergrund, die sich von Frauen nichts sagen lassen. In den Zeitungen ist von „Sexismus“ die Rede.

Sexismus? „Vor allem Araber!“


Lichtfeld spricht engagiert und überdeutlich. Sie ist mit den Idealen von 68 groß geworden. Sie wohnt um die Ecke, in Kreuzberg. Sie gehe gelassener mit dem Stress und der Angst um als andere Mitarbeiterinnen, sagt sie. Draußen in Neukölln treffen nun mal Welten aufeinander, und drinnen sei das nicht anders. Jede Gruppe habe andere Bedürfnisse. 

Welche Gruppen? Mohammed, Bilal und Mohammed grinsen und zählen auf. Da gebe es die Gangs, von denen jetzt überall in den Zeitungen zu lesen ist („eigentlich nur Jungs, die Faxen machen“); die zeitungslesenden Rentner („Billigheimer, die die Arbeitsplätze besetzen“); die Studenten („komische Typen, aber seitdem die in Neukölln sind, sind die Straßen nachts heller“). Und über allen wacht die ungeliebte Bibliotheksaufsicht („wenn du nur atmest, schreien die dich an“).

Mohammed, Bilal und Mohammed sitzen in einer Ecke am Fenster der Jugendabteilung. Neben ihnen hängt ein Schild, darauf steht: „Bitte den Müll in den Abfalleimer und nicht aus dem Fenster!“ Die Jungs sind derzeit jeden Tag hier, von 14 bis 20 Uhr, wenn die Bücherei schließt. Sie lernen für ihre Abiturprüfung an der ehemals berüchtigten Rütli-Schule. Die Einrichtung, die vor neun Jahren durch einen Brandbrief der Lehrer bundesweit in die Schlagzeilen geraten ist, ist heute eine erfolgreiche Gemeinschaftsschule. Die Plätze sind begehrt. Das Land Berlin hatte den Campus für 32 Millionen Euro umgebaut.

Zur Helene-Nathan-Bibliothek sagen die drei Rütli-Schüler: „Wir sind hier zuhause.“ Sie kennen das Soziotop, sie kennen die Vorwürfe. 

Dass es jetzt einen Wachschutz geben soll, halten sie für übertrieben. Klar, es gebe schon Ärger manchmal, aber alles normal. Sexismus? Ja, stimmt schon, sagt Mohammed, Kurde aus dem Libanon, „vor allem Araber“.

Kondome auf dem Klo


„Nein, Mann, das sind die Kurden!“, sagt der andere Mohammed, arabischer Libanese.

„Ich wünschte, es wären keine Araber, um dich nicht zu beleidigen. Aber das sind Araber, wallah!“

„An sich ist die Bibliothek sehr gut“, sagt Mohammed. Stimmt nicht, winkt der andere Mohammed ab. „Es gibt hier viel zu wenig Plätze. Übertrieben wenig.“

Brigitte Lichtfeld seufzt, wenn sie so etwas hört. Die Bibliothek hatte ja mal mehr Arbeitsplätze. Auch eine extra Jugendecke mit Sofas. „Aber das konnten wir nicht durchhalten: Knutschzone.“ Auf den Toiletten wurden Kondome gefunden. Heute stehen hier keine Sofas mehr, die Gruppenarbeitsplätze sind für maximal zwei Personen vorgesehen, überhaupt gibt es nur noch wenige Arbeitsplätze in der Bibliothek. Anders lässt sich das alles nicht kontrollieren. An guten Tagen kommen bis zu 2000 Menschen hierher.

Pauken fürs Abi


Mohammed, Bilal und Mohammed sitzen auf Plätzen in der Kinderabteilung; eigentlich sollten sie das nicht, aber dort hinten ist Platz, und man kann miteinander reden. Und sie werden geduldet. Aber warum arbeiten sie nicht einfach zuhause? „Zuhause? Da ist der Kühlschrank, der Fernseher, Internet, die kleine Schwester. Viel zu viel Ablenkung.“ Zuhause warten vier (Mohammed), sechs (Bilal) und zwei weitere Geschwister (Mohammed). Zuhause, das bedeutet wenig Platz und ziemlich viel Trubel. Und dagegen ist eine Bibliothek, auch eine, die Wachschutz braucht, willkommen.

Es ist spät geworden an diesem Freitag. Keine Zwischenfälle heute. Brigitte Lichtfeld schiebt einen Stapel mit Büchern weg, die beiden Mohammeds und Bilal packen zusammen, morgen werden sie wieder da sein, von 10 bis 13 Uhr, länger hat die Bibliothek samstags nicht offen. Auch in der nächsten Woche werden sie da sein, sie werden da sein, wenn der Wachschutz im März die Türen sichert.

Und wenn die Security Ende Mai wieder abzieht, werden sie mit Glück ihr Abitur gemacht haben. Wenn es klappt, wäre Bilal der erste und Mohammed der zweite in der Familie mit Abitur. Was wären die drei ohne die Helene-Nathan-Bibliothek? „Wenn die dichtmacht, gehen wir streiken.“

Fotos:  Môsieur J./Flickr/Creative Commons (Spritze), picture alliance (Stadtteilbibliothek)

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