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Islamismus - Warum Extremisten Bildung hassen

Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh will die Radikalisierung von Migranten mit Bildung bekämpfen. Was für Deutschland richtig ist, gilt erst recht für arabische Länder. Ein Text in Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

Appenzeller, Gerd

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In einem hellsichtigen Text in der jüngsten Ausgabe des „Spiegel“ hat Raed Saleh, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, auf die Zusammenhänge zwischen fehlender Bildung und politischer Radikalisierung hingewiesen und geradezu leidenschaftlich dafür plädiert, „den sozialen Aufstieg der jungen Leute mit fremden Wurzeln zu organisieren“. Gelänge dies nicht durch eine, wie er es nennt, „hinschauende Integrationspolitik“, könnten der soziale Friede und der Wohlstand unseres Landes sehr bald bedroht sein.

Die Linken wollten Multikulti - für die Konservativen war Deutschland kein Einwanderungsland
 

Raed Saleh weiß, wovon er spricht. Er war fünf Jahre alt, als seine Familie 1977 aus dem Westjordanland, wo er geboren wurde, nach Berlin zog. Über seine Kindheit und Jugend in Spandau sagt er realistisch, sie hätte wohl wie bei vielen anderen seines Alters und ähnlicher Herkunft in die Zukunftsperspektive „Hartzer“ gemündet, wäre er nicht in einer Familie „ohne mentales Rückflugticket“ aufgewachsen. Wenn er für eine „hinschauende“ Integrationspolitik plädiert, dann grenzt er diese kaum verhüllte Forderung nach einem selbstbewussten und fordernden Staat gegen amtliches und offizielles Fehlverhalten in der Vergangenheit ab. Für die politische Linke (zu der die Berliner SPD übrigens zählt) habe es keine Integrationsprobleme geben dürfen, weil die Idee der multikulturellen Gesellschaft das nicht zugelassen habe. Die Konservativen hingegen hätten weggeschaut, weil Deutschland kein Einwanderungsland sein durfte. Das eine war so falsch wie das andere.

Saleh wendet seine Kernthese, wonach nur Bildung vor Vorurteilen schützt und nur Integration in die Gesellschaft sozialen Aufstieg ermöglicht, vor allem im Hinblick auf den Antisemitismus an, wie er sich seit Beginn des Gazakrieges in vielen europäischen Staaten bei Demonstrationen äußert. Fast alle Schlussfolgerungen des 37-Jährigen lassen sich aber auch auf die meisten der Herkunftsländer der jungen Migranten beziehen – schlimmer noch, sie gelten dort in weit größerer Massivität als in Deutschland.

Fast alle arabischen Staaten haben in den vergangenen Jahrzehnten die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen einer dynamischen Bevölkerungsentwicklung sträflich missachtet. Die nah- und mittelöstlichen Diktaturen setzten ihre Machtmittel zur Absicherung der eigenen Herrschaft und Versorgung der ihnen wichtigen oder nützlichen Schichten ein. Wer dazu nicht gehörte, hatte keine Chance. Die Perspektivlosigkeit der jungen Generation haben die Regime in Kairo so missachtet wie die in Algier, Bagdad oder Kabul. In Afghanistan sind 42,6 Prozent der Menschen jünger als 15 Jahre, im Irak sind es 38 Prozent. Erweitert man den Betrachtungsrahmen auf die Bevölkerung, die unter 25 Jahre alt ist, zeigt sich die ganze Dramatik noch schonungsloser. In Algerien sind dies 43,6 Prozent aller Einwohner, in Ägypten sogar 50,5 Prozent.

Wer gebildet ist, den kann man nicht so leicht belügen
 

Wo aber Millionen junger Menschen weder eine Chance auf Bildung noch eine Hoffnung auf Arbeit haben und in politischer Unmündigkeit aufwachsen und gehalten werden, finden politische und religiöse Radikalismen den idealen Nährboden. Kein Mensch wird zum Selbstmordattentäter, wenn er im irdischen Leben seine Erfüllung finden kann. Islamistische Ideologien erreichen mit ihren Heilsversprechen nur dort Aufmerksamkeit, wo das Hier und Jetzt als endloses Jammertal erscheint. Da alle Staaten, über die der Feuersturm der Arabellion hinweg zog, in den Jahrzehnten zuvor das Entstehen und Wachsen demokratischer Strukturen mit Gewalt verhindert hatten, gab es auch nie eine Chance auf gesellschaftliche Partizipation und politischen Einfluss durch Wahlen. Die einzige Hoffnung, das erlittene Unrecht, das Ausgeschlossensein, zu überwinden, war die Revolution.

So weit ist man in Deutschland aus Salehs Sicht nicht. Aber Frieden und Wohlstand sieht er eben doch bedroht, wenn nicht auf dem Bildungsweg von der Kita bis in Hochschulen die Partizipation aller Schichten erreicht wird. Keine Ahnung, ob sein „Spiegel“-Text von irgendjemand ins Arabische übersetzt wird. Aber vielleicht hätte einer, der selber palästinensischer Herkunft ist, in der Heimat seiner Eltern mehr Chancen, gehört zu werden, als US-Amerikaner oder Deutsche, denen im Zweifelsfall Ahnungslosigkeit oder Eigeninteresse unterstellt wird. Fakt ist: Wer gebildet ist, wer Schulen besucht hat, wer gelernt hat, sich selbst ein Urteil zu bilden, den kann man nicht so leicht belügen. Aber wahrscheinlich sträuben sich totalitäre Regime gerade deshalb gegen Bildung.

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