- Im Wörterbrei
Mehr Wörter, mehr Schrift, mehr Gedrucktes als heute war nie. Wir erleben eine Evolution in revolutionärer Zeit. In die klassischen Formen des Schreibens mischen sich Zeichen, Smileys, Tweets, News, Videos. Ein Beitrag in Kooperation mit dem Tagesspiegel
Ich spucke in einen riesigen Wörterbrei. Millionen andere tun es auch. Der Brei wird von unsichtbarer Hand langsam umgerührt. Die Wörter berühren sich, reiben sich aneinander, sinken nach unten. Von oben kommen immer neue Wörter nach, der Brei wird größer und größer. Manchmal werden Wörter von ganz unten wieder an die Oberfläche gerührt. Von denen sagt man dann, sie seien Klassiker.
Mit „Ich“ soll kein Essay beginnen. Mit einer Anekdote vielleicht oder mit Gedanken. „Ich“ ist zu nah, zu persönlich, erlaubt keine Distanz. Wer es gebraucht, will Nähe erzeugen, die verbindet, ohne unbedingt zu überzeugen. „Ich“ hat eine authentizitätsstiftende Funktion. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ standen vor kurzem zwei Leitartikel auf der ersten Seite, die in Ich-Form geschrieben waren, der eine zur Krise in der Ukraine, der andere zur Europawahl. Das „Ich“ hat Konjunktur. Vielleicht ist es ein Aufschrei gegen das Versinken im Brei. Ein Aufschrei unter vielen.
Mehr Wörter, mehr Schrift, mehr Gedrucktes und damit Öffentliches als heute war nie. Täglich entsteht eine Bibliothek. Ob über Online-Portale, soziale Netzwerke oder Kurznachrichtendienste: Stetig wächst nicht nur die Produktion von Wörtern, Sätzen, Geistesblitzen und Dummheiten, sondern auch deren Umlaufgeschwindigkeit. Die unsichtbare Hand, die den Brei verrührt, hat statt eines Kochlöffels längst den Mixer angestellt.
Ungefähr eine halbe Milliarde Tweets werden täglich gesendet. Mit dabei der Papst, Obama, Lady Gaga. Auch mit dabei viele Kollegen, Leitartikler, Chefredakteure, Herausgeber. Schreiben sie auf Twitter anders als in der Zeitung? Ist ein Tweet von Andrian Kreye, dem Co-Chef des Feuilletons der „Süddeutschen Zeitung“, anders zu lesen, zu bewerten als ein langes Feuilleton des Autors? Oder fließen Alltagschats, Netz- und Fetzensprache zusammen in etwas Neues, eine Art Mischform aus Stringenz und Spontaneität, in der sich der Schreibstil immer stärker am mündlichen Sprachgebrauch orientiert? Das gesprochene Wort wird gesimst oder getwittert, orthografische Normen sind zugunsten der schnellen Pointe aufgehoben. Abkürzungen und Bilder ergänzen den Informationsstrom.
Wer auf tagesspiegel.de/meinung klickt, kann in der rechten Spalte die Tweets von Lesern und Redakteuren verfolgen, die manchmal im Minutentakt einlaufen. Viele Zeitungen machen das. Online erlaubt Interaktivität. Diese Tweets erzeugen „ein Hintergrundrauschen“, wie es in der Fachsprache heißt. Wer das Hintergrundrauschen abstellt, könnte etwas Wichtiges oder Lustiges oder Interessantes verpassen – so jedenfalls hoffen die Geräuscheerzeuger. Das Hintergrundrauschen soll ein wenig süchtig machen, den Leser „bei der Stange“ halten. Rausch, Rauschen, Geräusch – kein Zufall, dass diese drei Worte denselben Wortstamm haben. Auf „Spiegel Online“ stand kürzlich dieser Text: „Entwurzelte Bäume, abgedeckte Häuser, überflutete Straßen: Auf Twitter dokumentieren die Nutzer eines der heftigsten Unwetter der vergangenen Jahre. Das Gewitter im Storify.“
Storify also. Immer beliebter werden auch Liveticker. Sie erzeugen die Illusion, unmittelbar dabei sein zu können, wenn etwas passiert. Sie sollen diese verdammte zeitliche Distanz zwischen der Tat und dem Bericht über die Tat überbrücken, vergessen machen, nivellieren. Vielleicht ist es ja doch möglich, in der wohltemperierten und sicheren Stube oder während der Arbeit, vor dem Computer sitzend, eine Art Erdbebenopfer zu sein – ein Gefühl, als ob der Bericht geschrieben wird, während er gelesen wird. Die Erfindung des Telefons erlaubte die Gleichzeitigkeit von geredeter Kommunikation an unterschiedlichen Orten. Durch Skype ist dies auch visuell möglich. Liveticker sind wie geschriebenes Skype.
Damit richtig umzugehen, ist nicht immer leicht. Die Frau eines Afghanistan-Soldaten erzählt, dass sie mit ihrem Mann gar nicht mehr skypt, weil die Welten, in denen sie leben, zu verschieden sind, um in kurzer Zeit echte Kommunikation zu ermöglichen. Während er von Ferne die Schüsse der Taliban hört, kocht ihre Milch gerade über, und die Kinder streiten sich. Das funktioniert nicht. Am besten seien Briefe, sagt sie.
Vor achtzig Jahren, im November 1934, hielt Gertrude Stein an der Universität von Chicago einen Vortrag über „Poesie und Grammatik“. Ein halbes Jahr später, im März 1935, baute sie ihre Gedanken zu dem kleinen Büchlein „Narration“ aus (auf Deutsch: „Erzählen“, Edition Suhrkamp). Mit der Interpunktion ging sie bewusst sparsam um, weil sie meinte, eine reduzierte Lesegeschwindigkeit erhöhe die Konzentration. Ein Beispiel: „Es ist eine sehr seltsame Sache dass eine Geschichte die von irgendwem über etwas erzählt wird das nicht wirklich aufregend gewesen ist spannend ist und eine Geschichte die über etwas erzählt wird das wirklich aufregend gewesen ist nicht spannend ist. Sie ist eine sehr seltsame Sache diese Sache.“
Eins werden mit der Rolle, in die man geschlüpft ist
Der Mixer im Wörterbrei dreht sich schneller. Was hilft dagegen? Brüllen, Flüstern, Verlangsamung, Nähe durch „Ich“ oder andere Formen der Authentizität schaffen, ein Markenzeichen erfinden? „Spiegel Online“ hat einige solcher Markenzeichen erfunden. Man könnte sie auch Posen nennen. Jan Fleischhauer nimmt sich im „schwarzen Kanal“ die Linken vor die Brust, Jakob Augstein – „im Zweifel links“ – zieht über die Konservativen her, Sascha Lobo sinniert übers Digitale. Woche für Woche. Wie der Kasperle dem Krokodil hauen sie ihren ideologischen Widersachern mit der Klatsche auf den Kopf. Das Publikum johlt. Mal ist der Jan das Kasperle, mal der Jakob.
Wer weiß, vielleicht wird sich auch das bald abnutzen. Und die Inhaber der Markenzeichen werden merken, dass sie eins geworden sind mit der Rolle, in die sie einst geschlüpft waren. Egal, was sie sonst noch zu sagen und schreiben hätten, sie finden sich immer schon vor – in den Erwartungen der Leser. Ihr Image ist die Haut, aus der sie nicht mehr herauskönnen. Klaus Kinski hat irgendwann nur noch Bösewichter gespielt – und war selbst einer. Jennifer Aniston bleibt auf ewig Rachel in „Friends“.
Auf die Gutenberg-Galaxis folgte die Turing-Galaxis. (Der britische Mathematiker und Informatiker Alan Turing hatte 1936 ein Berechenbarkeitsmodell für seine Turingmaschine entwickelt und damit das Zeitalter der automatischen Datenverarbeitung eingeleitet.) Es gibt Zeitungen, die in großer Schrift Tweets berühmter Blogger abdrucken. Was ist das, was dadurch entsteht? Ein Plakat, ein Gedicht, ein Aphorismus, Poesie, Prosa? Die Formen vermischen sich, assoziative Verknüpfungen triumphieren über Stringenz und Linearität. „Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt –, ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt“, heißt es bei Walter Benjamin in seinem 1935 im Exil verfassten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.
Viele Redakteure schreiben ihre Texte heute so, dass sie möglichst prominent von Google erkannt und entsprechend bei Google-News platziert werden. Es gibt eine Fülle solcher Aufmerksamkeitserzeugungstricks. Wortwiederholungen, Linkboxen, die richtige Verschlagwortung. Wer schafft es am erfolgreichsten, Google zu überlisten und die Suchmaschine mit ihren eigenen Waffen zu schlagen? Die Freude darüber, wenn es gelingt, ist manchmal größer als über eine gelungene Formulierung. Ein Franz Kafka, der bestimmt hatte, dass aus seinem Nachlass alles restlos und ungelesen zu verbrennen sei, ist der wohl radikalste Gegenentwurf dazu.
Das Ringen mit der Sprache, das Stellen der Schrift, wird zunehmend ergänzt, manchmal ersetzt durch das Ringen mit Aufmerksamkeitsdefiziten, Ignoranz, dem allzu raschen Versinken im Wörterbrei. Die Zahl der Facebook-Likes und Twitter-Follower wird zum zusätzlichen Gradmesser für Relevanz. Wer schreibt, bleibt. Wer schreit und schreibt, bleibt länger. Mit dieser Erkenntnis wurde der „Rant“ geboren, ein „subjektiver Wortschwall aggressiven Inhalts“, wie das Genre gelegentlich übersetzt wird.
Die Resonanz darauf wird mit Begriffen wie Candy- und Shitstorm beschrieben. Ältere Semester reagieren auf ihren ersten Shitstorm noch verstört, beschämt, verdruckst. Das Echo ist ihnen peinlich. Vielleicht werten sie ihn auch als Beleg für die Spaltung der Leserschaft oder überinterpretieren ihn auf andere Weise. Jüngere Kollegen dagegen nehmen das eher sportlich. Ihren ersten Shitstorm betrachten sie als eine Art Initiationsritual, als Eintrittskarte in die Welt des echten Journalismus. Der Umgang damit ist offen, bisweilen kokett. Womöglich müssen Absolventen von Journalistenschulen in ein paar Jahren Prüfungsarbeiten verfassen, die einen Shitstorm auslösen. „Bitte begründen Sie die Wahl Ihres Themas und beschreiben den Aufbau Ihrer Tirade.“
Gedächtnis, Schrift, Buchdruck, Digitalität, Wörterbrei: Diese zeitliche Abfolge in der Geschichte der Kommunikation lässt sich durchaus wertfrei, also eben nicht kulturpessimistisch betrachten. Wie die Schrift in gewisser Weise Gedächtnis und orale Überlieferung zerstörte, der Buchdruck die Verbreitung auch von Schund förderte, so entstanden andererseits Archive, Bibliotheken, Mikrochips – und das Wissen ums Wort wurde demokratisiert.
Das Denken ändert sich, aber es verkümmert nicht
Verkümmert das Denken im digitalen Zeitalter? Die Frage ist falsch gestellt. Das Denken ändert sich, es ruht nicht mehr länger in einem festen Kanon von Gelerntem, das nach Bedarf abgerufen wird, sondern formt sich sein Bild von der Welt aus einer Fülle von Zeichen, Smileys, Tweets, News, Videos. Die Frage nach Gut und Böse ist so sinnlos wie überflüssig.
Dieter Bohlen, der kluge Kopf, antwortete einmal auf den Hinweis, er möge doch bitte zuerst denken und dann reden, sinngemäß mit einer ungespielt ernsten Frage: „Wie soll ich denn wissen, was ich denke, wenn ich es nicht vorher ausgesprochen habe?“ In dieser Torheit steckt Genialität. Bedingt durch Produktionsmenge und -geschwindigkeit von Wort und Text könnte das Signum unserer Zeit die nachholende Erkenntnis ihrer selbst sein. Erst das geschrieben Vorhandene ermöglicht das Verständnis des vorangegangenen Denkprozesses.
Der Text, der in der Geschichte des Tagesspiegels am meisten gelesen wurde, stand vor zwei Wochen in der Zeitung. Es ist ein Nachruf – „Nichts auslassen, nichts bereuen“ heißt er. Darin erzählt der Kollege David Ensikat das Leben von Valerian Arsène Verny nach, der mit 20 Jahren beim S-Bahn-Surfen starb. Fast eine halbe Million Menschen haben diesen Nachruf bereits gelesen. Er verbreitete sich über Facebook, Twitter und andere soziale Netzwerke.
Denn auch das ist der Wörterbrei. Nichts in ihm geht je verloren. Keiner weiß, wann welches Wort wieder an die Oberfläche gerührt wird und wie lange es sich dort hält. Das tröstet und versöhnt. Brei bleibt Brei, er trocknet nicht aus, und keiner ersäuft in ihm. Der Brei ist die Konstante, alles in ihm eine Evolution in revolutionärer Zeit.
Kein Historiker wird die Zeugnisse unserer Zeit auch nur im Ansatz sichten können
In wenigen Tagen erzeugen die Menschen heute mehr Daten als vom Beginn der Zivilisation bis zum Jahr 2003. Diese Daten werden auf immer kleineren Trägern gespeichert, die ihrerseits wiederum hochmobil sind. Wort, Schrift, Zeichen und Bild sind als Amalgam in ihre noch kaum verstandene digitale Phase getreten. Überdies produziert unsere Zeit eine solche Fülle an Zeugnissen, Quellen, Bildern und Informationen, dass kein Historiker sie in hundert Jahren auch nur ansatzweise sichten kann, um zu verstehen, wie wir getickt haben. Vielleicht wird er sich Algorithmen ausdenken, die ihm dabei helfen. Vielleicht sucht er auch nur nach Analogien. Womöglich machen wir uns gegenüber der Zukunft gerade unverständlich.
Gertrude Stein schreibt: „Es kommt vor es muss einfach vorkommen dass es mit der Art etwas zu erzählen dahin kommen kann dass sie nichts mehr für den bedeutet der diese Sache erzählt.“ Die Formen des Erzählens verändern sich. Wie sie es immer taten, von Anbeginn der Welt. Doch das Erzählen bleibt, weil wir menschliches Leben ohne Erzählung nicht aushalten würden. Ist das ein gutes Ende? Kann sein.
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