- „Souveränität gibt es nur in der EU“
Am Sonntag stimmt die Schweiz über die Initiative gegen Masseneinwanderung ab. Sie richtet sich auch gegen EU-Bürger. Der Ausgang der Volksabstimmung gilt als offen. Doch es gibt auch Schweizer, die einen EU-Beitritt ihres Landes fordern
Herr Naef, die Neue Europäische Bewegung Schweiz (NEBS), der Sie angehören, fordert den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union. Warum? Die Schweiz fährt doch sehr gut soweit: hohe Lebensqualität, neutrale Rolle auf der Weltbühne, funktionstüchtige direkte Demokratie…
Es geht um die Schweizer Souveränität.
Wie bitte? Tritt ein Staat der EU bei, gibt er doch Souveränität ab.
Souverän ist nur, wer mitbestimmt. Und das tun wir in Europa gerade eben nicht.
In anderen Nicht-Mitgliedsländern beschwert sich auch niemand darüber, in der EU nicht mitbestimmen zu können.
Wissen Sie, wir Schweizer machen alles gründlich. Wir sind nach Deutschland wohl das Land, das am meisten EU-Recht in nationales Recht umgesetzt hat. Wir nennen das autonomer Nachvollzug. Wir übernehmen also Recht, auf das wir keinen Einfluss ausüben. Wir können nicht mitentscheiden. Das ist Pseudosouveränität, eine Selbstlüge. Es ist das Gleiche wie mit Menschen, die zwar in einem Land leben, aber dort kein Wahlrecht haben, weil sie die Staatsbürgerschaft nicht besitzen. Das ist eine Frechheit. Souverän ist man nur, wenn man Dinge beeinflussen kann, die einen betreffen.
Souveränität. Mit demselben Wort argumentiert die rechts-konservative Schweizerische Volkspartei (SVP) in ihrer Initiative gegen Masseneinwanderung. Ist die NEBS ein linkes Projekt mit nationalem Anstrich oder umgekehrt?
Weder noch. Aber es ist schon interessant: hier stößt man auf den Widerspruch des Schweizer Nationalismus, es gibt ja kein internationaleres Land als die Schweiz. Die NEBS ist überparteilich, aber sicher nicht nationalistisch. Meine Partei, die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) ist als linke Partei internationalistisch ausgerichtet.
Wie reagieren Sie auf die SVP-Initiative?
Wir müssen erklären, dass die Schweiz ins europäische Konzert gehört und dass die Bürger direkt negativ beeinflusst würden, sollte die Initiative Erfolg haben.
In wie fern?
Ein maßgeblicher Teil der Wirtschaft ist auf die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU angewiesen. Dazu gehören neben der Personenfreizügigkeit auch andere für den Zugang zum Binnenmarkt wichtige Abkommen. Sollte die SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung erfolgreich sein, würde das bilaterale Abkommen über die Personenfreizügigkeit nichtig – und damit andere fundamentale Abkommen, da sie mit einer sogenannten Guillotine-Klausel verknüpft sind. Will heißen: Wenn eines fällt, dann fällt noch viel mehr.
Man merkt erst, dass man etwas vermisst, wenn man es nicht mehr hat. Die Rufe nach Europa könnten in einem solchen Szenario wieder lauter werden.
Ja, das wäre die Verelendungstheorie: Den Schweizern geht es innert kurzer Zeit so schlecht, dass sie den EU-Beitritt wollen. Dieses Szenario ist aber nicht zu wünschen. Wir müssen heute informieren und, auch wenn der Wind eisig bläst, Haltung zeigen.
Der Wind in der Schweiz bläst meist nicht in ihr Segel. Die Schweizer sind gegenüber der EU skeptisch, gar misstrauisch. Warum?
Die EU hat ein Problem der Legitimation und ein Subsidiaritätsdefizit. Außerdem ist die Positionierung der EU in der Welt der Schweiz fremd. Die Schweizer denken: Alleine kann man immer am besten. Obwohl wir ja keine Insel irgendwo im Meer sind. Es gibt bei uns aber auch linke Kritik an der EU als kapitalistisches Projekt - (lacht) aber was ist dann erst die Schweiz?
Ein Vorbild für die EU?
Es gibt zwar, wenn man so will, kein europäischeres Land als die Schweiz. Ich glaube aber nicht, dass sich Europa verschweizern sollte. Wir sollten uns nicht anmaßen: „Macht es so und so.“ Dennoch könnten wir unsere demokratischen Werte und Erfahrungen als EU-Mitglied einbringen: Die Schweiz ist ein austariertes System der Integration verschiedener Sprachen, Kulturen und Religionen. Und auch wir haben Erfahrung mit einer Währungsunion – das war nach der Gründung des Bundesstaates 1848.
Sollte die Schweiz – angenommen, sie träte der EU bei – den Euro übernehmen?
Eine Währungsunion ist wichtig für den Zusammenhalt. Den Schweizer Franken abzulegen, steht aber nicht auf der Agenda.
Steht eine Volksinitiative zum EU-Beitritt in nächster Zeit auf Ihrer Agenda?
Im Moment weiß man nicht, worüber man abstimmen sollte – das weiß niemand in Europa. Die EU hat ein System entwickelt, dass man nicht mit Waffen übereinander herfällt. Aber heute wird die europäische Idee schlicht als Verwaltung empfunden.
Was ist dagegen zu tun?
Die EU steht an einem Punkt, wo sie entscheiden muss, ob es mehr Integration – Stichwort Fiskalunion – braucht, und ob man sie auch vollziehen möchte. Man braucht eine neue Vision. Um mit dem Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten, Martin Schulz, zu sprechen: "Man muss über Europa diskutieren, nicht darüber, ob Ölflaschen in Restaurants offen oder geschlossen sein müssen."
Wird zu wenig über Europa diskutiert?
Interessanterweise wird fast nirgends so sehr in der Öffentlichkeit über Europa diskutiert wie in der Schweiz – auch weil das Thema durch die bilateralen Verträge in der Mitte der Schweizer Gesellschaft angekommen ist. Ich habe aber das Gefühl, dass sich im Diskurs innerhalb der EU etwas bewegt. Auf einer Delegationsreise zum deutschen Bundestag wurde beispielsweise die Frage der Bürgerbeteiligung erörtert.
Die Bürgerbeteiligung in der Schweiz entschleunigt politische Prozesse. Wie handlungsfähig wäre eine EU mit der Schweiz als Mitgliedsland?
Die Schweizer Prozesse sind sehr mühsam – aber wirken langfristig. Diesen Grundkonflikt würde es weiterhin geben.
Was ist eigentlich mit dem EG-Beitrittsgesuch von 1992?
Das liegt in irgendeiner Schublade in Brüssel.
Wie müsste es umgeschrieben werden?
Das ist eine wirklich drollige Diskussion, die wir auch letztens in Genf mit der außenpolitischen Kommission hatten. Die Rechten haben gefordert, das Gesuch zurückzuziehen. Im Endeffekt hat man sich aber darauf geeinigt, das Blatt als "gegenstandslos" zu bezeichnen.
Ist ein Schweizer EU-Beitritt für Sie persönlich gegenstandslos?
Nein, aber etwas in die Ferne gerückt.
Martin Naef ist Vorstandsmitglied der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (NEBS). Der Sozialdemokrat ist Mitglied der Außenpolitischen Kommission des Nationalrates, der Bundeskammer des Schweizer Parlamentes. Er ist zudem Co-Präsident der Parlamentarischen Gruppe Schweiz-EU.
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