- „Man kann auch ohne Würde leben“
Ronald Dworkin ist Amerikas berühmtester Rechtsphilosoph, der keine politische Auseinandersetzung scheut. Im Gespräch mit dem Cicero plädiert er für die Einheit von Recht und Moral
Herr Dworkin, die Suche nach der „großen Sache“, wie Sie
es in Ihrem neuen Buch nennen, führt manchmal zu Gott. In Ihrer
Heimat USA spielt die Religion eine große Rolle in der öffentlichen
Debatte.
Gott kommt in der amerikanischen Debatte auf unterschiedliche Weise
vor, leider manchmal als Rechtfertigung für Krieg oder eine gewisse
Passivität in der Umweltpolitik. In der Religion gibt es eine
wissenschaftliche Seite, die zum Beispiel versucht, den Urknall zu
erklären. Was mich interessiert, ist aber ein anderer Aspekt,
nämlich die Wertefrage. Dass Leute eine Verantwortung haben, etwas
aus ihrem Leben zu machen, dass wir unseren Nächsten behandeln
müssen, wie wir gerne behandelt werden wollen. Das alles sind
Fragen, die von der Theologie begründet worden sind.
Sie greifen diese Fragen auf und konzentrieren sich auf
die Idee der Würde. Was bedeutet dieser Begriff?
Ich schlage eine eigene Definition dieses oft schwammig anmutenden
Begriffs vor. Würde ist für mich eine Verantwortung und eine
Leistung. Nicht jeder besitzt sie, man kann auch ohne sie leben.
Sie beinhaltet zwei Ideen: Erstens die Selbstachtung, das
Bewusstsein darüber, dass das eigene Leben objektiv wichtig ist.
Damit geht eine Verantwortung einher: zu identifizieren, was eine
gelungene Lebensführung bedeutet, und zu versuchen, so zu leben.
Zweitens die Authentizität, nämlich dass Menschen eine
Verantwortung haben, das gute Leben für sich zu definieren und
nicht die Definition anderer zu übernehmen. Keine Würde zu haben,
bedeutet, diese ethische Selbstständigkeit nicht zu schätzen.
Ist aber Ihre Definition nicht allzu anspruchsvoll? Die
Forderung nach Selbstreflexion scheint eine sehr hohe Hürde zu sein
– insbesondere für diejenigen, die keine Möglichkeit oder keine
Zeit zum Nachdenken haben, weil sie mit ihrer Grundversorgung
beschäftigt sind.
Eine Verantwortung zu übernehmen, heißt nicht automatisch, sein
ganzes Leben damit zu verbringen. Ich fordere Menschen nicht dazu
auf, tagtäglich über die gute Lebensführung nachzudenken. Eine Frau
meint zum Beispiel, sie möchte ihre Kinder betreuen, weil es für
sie sehr wichtig ist, während andere lieber arbeiten gehen. Das ist
Authentizität, und es erfordert weder viel Bildung noch viel
Zeit.
Aber es setzt voraus, dass diese Frau alternative
Lebensformen in Erwägung zieht. Ist das nicht an sich ein Privileg
der Gebildeten?
Menschen, die herausfinden, dass sie keine Wahl haben, reflektieren
auch über das gute Leben. Kommen wir zu unserer Frau zurück. Sie
mag denken, Kindererziehung entspricht ihrer Auffassung von dem,
wie ihr Leben sein sollte. In diesem Fall führt sie ein
authentisches Leben. Wenn sie zu dem Schluss kommt, ihre
wirtschaftliche Situation lässt nichts anderes zu, dann ist sie
nicht weniger authentisch!
Unwürdig wäre, die Wahl zu haben und sich nicht zu kümmern. Was jedoch diejenigen betrifft, die tatsächlich nur einen einzigen Weg beschreiten können und nicht in der Lage sind, das infrage zu stellen: Sie werden von der Gesellschaft betrogen. Denn die Gesellschaft schuldet ihnen Bildung – in den Regionen der Welt, wo dies zumindest realisierbar ist. Wenn sie das nicht anbietet, dann beraubt sie diese Menschen ihrer Würde.
Selbstverwirklichung und Authentizität mögen nicht nur
elitär anmuten, sondern auch typisch für eine individualistische
Gesellschaft sein, in der das Wohlbefinden des Einzelnen über der
Gemeinschaft steht.
Die Vorstellung, dass jeder permanent in sich gekehrt lebt, ist
eine Parodie meiner Theorie. Und wenn man zum Beispiel die
individuelle Verantwortung gegen alte Dogmen der Kirche abwägt,
dann bin ich gern für ein wenig Egoismus.
Auf der folgenden Seite: Wie die Politik Gerechtigkeit in der Gesellschaft voranbringen kann
Warum ist Würde eine Frage der Gerechtigkeit und eine
Angelegenheit der Politik?
Es ist die Verantwortung der Regierung, Bedingungen zu schaffen,
damit Individuen in Würde leben. Ansonsten ist Regieren einfach
Tyrannei, auch in einer Demokratie. Die Minderheit wird dazu
gezwungen, gegen den eigenen Willen zu handeln. Das ist nicht
kompatibel mit meiner Definition der Würde. Gleichzeitig ist eine
Regierung notwendig, zum Beispiel um die Versorgung der Bürger zu
organisieren. Nun muss gefragt werden – und das ist das
Grundproblem der politischen Philosophie: Unter welchen Bedingungen
ist die Regierung nicht nur ein notwendiges Übel, sondern gerecht
gegenüber denjenigen, die schlechter dastehen als andere? Meines
Erachtens muss diese Regierung ihnen sagen können: Ja, ihr gehört
vielleicht zu den Verlierern in dieser Gesellschaft, aber wir
behandeln euch mit gleicher Berücksichtigung und gleicher
Achtung.
Was genau kann man sich darunter
vorstellen?
Gleiche Berücksichtigung hat mit gerechter Verteilung von
Ressourcen zu tun. Ich habe eine ganze Theorie darüber entwickelt,
wie ein Steuersystem und ein Versicherungssystem gestaltet werden
müssten. Die Regierung müsste den Benachteiligten sagen können: Ja,
andere sind reicher, aber wir haben euch genauso wie die anderen
berücksichtigt, als wir dieses System geschaffen haben. Dies
erscheint mir wünschenswerter als die alte Konzeption der
Gleichheit, wonach alle gleich viel besitzen müssen. Wir suchen ja
nach Prinzipien, die attraktiv sind, und nicht nach angeblich
wertneutralen Definitionen von Freiheit und Gleichheit.
Warum braucht man auch das zweite Prinzip, die Idee von
gleicher Achtung?
Damit meine ich, dass wir die Verantwortung jedes Einzelnen
respektieren müssen – die Verantwortung für die Entscheidung
darüber, was als gute Lebensführung gilt. Die Politik kann nicht
jedem erlauben, bei der Gestaltung des Steuersystems mitzureden,
oder ihn glauben lassen, er könne mit anderen umgehen, wie er
wolle. Aber in ethischen Fragen – also in der Sache der
Authentizität – muss jeder seine Meinung bilden können. Sonst gibt
es keine Würde.
Wie sollen diese Prinzipien konkret umgesetzt
werden?
Es gibt einfache Antworten: Meinungsfreiheit und Bildung für alle
sind Voraussetzungen. Dann kommen schwierige Fragen wie zum
Beispiel, wie viel Geld Frauen für die Kinderbetreuung zusteht.
Ist Demokratie eine Voraussetzung?
Nur mit Vorbehalt. Wenn wir Demokratie bloß als System definieren,
in dem die Mehrheit macht, was sie will, ist sie nicht vorzuziehen.
Eine Demokratie, die nicht alle gleich behandelt, ist auch
Tyrannei. Es gibt keinen triftigen Grund anzunehmen, dass das
Mehrheitsprinzip automatisch mehr Fairness mit sich bringt.
Bewegungen wie Occupy-Wall-Street skandieren „Wir sind
die 99 Prozent“ und fordern mehr Partizipation, mehr direkte
Beteiligung des Volkes. Eine zukunftsträchtige
Perspektive?
Occupy vertritt aber nicht 99 Prozent der Wähler. Ich bin im
Allgemeinen nicht sehr optimistisch, was mein Land und die
bevorstehenden Wahlen angeht. Im Fernsehen sieht man ständig
Werbespots, in denen gefordert wird, die Steuern müssten für die
Reichen gesenkt werden. Und das funktioniert! Die Amerikaner wählen
diejenigen, die so etwas planen. Der Historiker und Journalist
Thomas Frank hatte am Beispiel des Bundesstaats Kansas gezeigt, wie
die Wähler Jahr für Jahr politische Maßnahmen unterstützen, die
schlecht für sie sind. Das Gesetz zur Reform der
Gesundheitsversicherung ist das Beste, was den armen Menschen und
darüber hinaus der Mittelschicht seit langem passieren konnte. Aber
dieses Gesetz ist sehr unbeliebt.
Die Richter des Supreme Court hatten darüber zu
entscheiden. Ist ein solches Gericht klüger als das Volk – eine
Institution, die besser für Gerechtigkeit und Würde
einsteht?
Ich habe vor kurzem in der New York Review of Books geschildert,
warum die Richter das „Obamacare“-Gesetz bestätigen sollten.
Abgesehen davon ist ein Verfassungsgericht mit einer solchen Macht
wie der Supreme Court nicht per se problematisch. Es kommt darauf
an, wie die Institution entscheidet, selbst wenn diese Aussage ein
bisschen gemogelt klingen mag. In den USA arbeitete der Oberste
Gerichtshof früher sehr gut – mit Richtern, die für ihre Kompetenz
als Juristen ausgewählt wurden. Seit der Entscheidung zur
Abtreibung im Jahr 1973 wurde er zunehmend zur politischen
Institution. Die Republikaner wollten nur noch Mitglieder aus dem
rechten Lager nominieren. Es war keine Verbesserung. Aber ehrlich:
Außerhalb vieler konservativer Kreise kümmern sich nur wenige
Amerikaner darum, was und wie der Supreme Court entscheidet.
Auf der folgenden Seite: Mehr Moral an der Wall Street für eine bessere Welt
Soziale Ungerechtigkeit wächst in Amerika wie
andernorts. Im Schlusswort Ihres Buches erwähnen Sie eine „zwischen
Wohlstand und hoffnungsloser Armut zerrissene Nation“ und einen
„makabren Tanz von Gier und Wahn“, bei dem die Reichen immer
reicher werden. Bemerkenswert ist Ihre Behauptung, dass es dabei
keinen Gewinner gibt – nicht mal die Reichen, die „ebenso
leiden“.
Auch wenn die Armen sich dieses Leides bewusster sind! Was ich
sagen will, ist, dass die Reichen ihr Leben damit verbringen,
anderen Menschen Geld zu entwenden, das sie nicht brauchen. Ich
nenne sie ethische Schlafwandler. Sie führen kein Leben, auf das
sie mit Stolz zurückblicken können. Außer Warren Buffett oder Bill
Gates vielleicht. Aber wie kann man an seinem Lebensabend
behaupten, man hatte ein gutes Leben, wenn man in einer
Gesellschaft gelebt hat, in der man auf ungerechte Weise etwas
erworben hat?
Mehr Moral an der Wall Street: Ist es das, was Sie sich
wünschen?
Ja. Ansonsten werden einige feststellen, dass sie mit einem Anteil
an Wohlstand gelebt haben, der nicht gerecht war, und der ihnen
auch nicht zustand.
Würden Sie behaupten, dass das Leben heute weniger
würdevoll als früher ist, gerade weil soziale Ungerechtigkeit
zunimmt?
Historische Vergleiche sind immer schwierig. In den USA des späten
19. Jahrhunderts waren die sozialen Gefälle noch größer. Aber
gewissermaßen ja, Menschen leben heute weniger gut, weil die
Gesellschaft sie betrügt und ihnen nicht die Bedingungen für Würde
anbietet – Bildung und Chancen und das, was ich gleiche Achtung
nenne.
Welche Gefahren könnte das für die politische
Gemeinschaft haben? Einen Rückzug ins Private?
Ich habe eine junge, sehr intelligente Frau aus der Occupy-Bewegung
über die bevorstehenden Wahlen befragt und sie sagte: „Wir stehen
über der Politik.“ Das fand ich erschreckend, weil Veränderung,
Verbesserung nur durch und mithilfe der Politik möglich sind. Es
sieht außerdem so aus, dass die Schwarzen sich an den Wahlen
diesmal in viel geringerer Zahl beteiligen werden. Dass die Armen
lieber ihren Garten bestellen und dass dies eine Gefahr wäre,
glaube ich dennoch nicht. Denn dazu müssten sie erst mal einen
Garten haben.
Sie mischen sich regelmäßig in öffentliche Debatten ein
– wie kürzlich in Sachen „Obamacare“. Ist es die Rolle eines
Intellektuellen, zu warnen und zu mahnen?
Diesen Begriff des Intellektuellen haben wir in den USA nicht. Aber
wenn ich die Chance habe, den Gegenstand meiner philosophischen
Arbeit, meine Ideen an der Realität zu prüfen und zur Aufklärung
bestimmter Probleme meinen Beitrag zu leisten, dann lasse ich mir
das nicht entgehen. Wenn das die Definition des Intellektuellen
ist, dann bin ich einer, ja. Das ist zumindest meine Ambition.
Ist das Ihr Weg, gut zu leben?
(Lacht) Ja, durchaus. Ich habe Schwieriges durchgestanden in meinem
Leben, als meine erste Frau gestorben ist. Jetzt bin ich wieder
frisch verheiratet!
Gratulation!
(Lacht) Jedenfalls bin ich relativ zufrieden, wenn ich auf mein
Leben zurückblicke. Ich wünschte, die politischen Verhältnisse in
meinem Land wären erfreulicher. Leider habe ich das Gefühl, dass es
eher in die gegensätzliche Richtung geht als in die, die ich stets
zu weisen versuche. Das ist vielleicht eine Enttäuschung in meinem
öffentlichen Leben.
Ist das der Grund, warum Sie weiter arbeiten, denken,
schreiben?
Wir dürfen nicht die Waffen strecken. Wir haben keine Ausrede
dafür. Egal welche Energie einem bleibt, wir müssen das
Bestmögliche tun. Das ist das, was es bedeutet, ein gutes Leben zu
führen.
Ronald Dworkins ist Professor für Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie an der New York University und am University College in London.
Das Interview führte Claire-Lise Buis
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