- „Steinbrück ist keine Alternative zu Merkel“
Sie ist das Gegenmodell zum wutmächtigen Oskar Lafontaine. Die neue Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, über die leisen Töne in der Politik, das Bedingungslose Grundeinkommen und mögliche Telefonjoker bei „Wer wird Milionär?“
Frau Kipping, wer wären Ihre drei Telefonjoker bei „Wer
wird Millionär“?
Die Philosophin Frigga Haug, meine Bürochefin Katrin, und über den
Dritten muss ich nochmal nachdenken.
Und Ihr Co-Vorsitzender Bernd Riexinger? Auf dem
Parteitag sagten Sie, Sie müssten sich erst kennenlernen. Kennen
Sie sich mittlerweile?
Mit Bernd Riexinger verstehe ich mich super. Die Zusammenarbeit mit
ihm und auch mit dem Bundesgeschäftsführer Matthias Höhn ist sehr
angenehm. Dass wir uns erst kennenlernen müssten, war so ein
bisschen nonchalant dahingesagt. Wir kannten uns ja schon vorher.
Allerdings eher von der Zusammenarbeit in Bewegungen als von der
Parteiarbeit.
Sie haben es ohne den starken Ostflügel oder die WASG
quasi ganz blockfrei an die Spitze der Partei geschafft. Sind Sie
so etwas wie die Angela Merkel der Linken?
Ob das jetzt ein charmanter Vergleich ist oder nicht, lassen wir
mal dahingestellt. Ich habe bewusst gesagt, es braucht einen Weg
jenseits der festgefahrenen Blöcke. Das heißt aber nicht, dass ich
ohne Verankerung in der Partei wäre. Meine politische Heimat ist
Sachsen, der mitgliederstärkste Landesverband. Aber es gab in der
Partei ein größeres Bedürfnis nach Integration. Das war auch eine
der Aufgaben, der sich Bernd Riexinger und ich von Anfang an
gestellt haben: zuhören und Integrationsarbeit leisten.
Zur Integration gehört auch ein anderer Ton. Auf dem
Parteitag kündigten Sie an, dass Sie den Wettbewerb um Lautstärke
nicht gewinnen können, aber vielleicht für einen Wechsel in der
Tonlage sorgen könnten. Ist Ihr Vorhaben gelungen?
Lautstärke kann auch ohrenbetäubend sein. Ich will dafür sorgen,
dass die Linke hörbar ist. Und seit dem Parteitag ist es uns immer
mehr gelungen, Themen zu setzen. In der Strompreispolitik, oder bei
der Frage couragierter Reichtumsbesteuerung. Man kann hörbar sein,
ohne dass man laut sein muss.
Wie steht es um die Lautstärke innerhalb der Fraktion?
Spüren Sie den „Hass“, von dem Gregor Gysi gesprochen
hat?
Für den Streit in der Fraktion gab es Gründe. Wir sind eine
links-pluralistische Partei mit unterschiedlichen Traditionslinien.
Dass sich die unterschiedlichen Ansprüche unserer Wählerschaft auch
in unterschiedlichen Vorstellungen der Partei niederschlagen, ist
aber auch ein Zeichen von Demokratie. Insofern sind jetzt nicht
alle Konflikte weg, aber ich habe das Gefühl, dass wir die
Differenzen jetzt nicht mehr auf einer irrationalen Ebene
ausgetragen, sondern manchmal sogar mit einem Lachen.
Liegt das auch daran, dass Lafontaine und andere nicht
mehr so zu hören sind?
Das würde ich nicht sagen. Mit Lafontaine und Gysi haben wir eine
gute Kommunikationsebene.
Hat die EU den Friedensnobelpreis verdient?
Es ist natürlich fragwürdig, ob eine Organisation, die die größten
Rüstungsexportweltmeister beheimatet, wirklich einen solchen Preis
verdient hat. Ich finde nein. Ein Drittel aller Waffenexporte kommt
aus der EU. Aber ich streite für eine EU, die einen solchen Preis
tatsächlich verdient hätte.
Gerade Linke im Europäischen Parlament fahren rhetorisch
große Geschütze auf. Sabine Lösing sprach von einem
„Friedensnobelpreis für ein Militärbündnis“. Sabine Wils fragt
schlicht, ob der Friedensnobelpreis auf dem Schlachtfeld angekommen
sei. Harsche Worte für eine Partei, die europafreundlich sein
will.
Ich finde es interessant, dass die Empörung immer dann am größten
ist, wenn mit drastischen Worten ein drastischer Zustand
beschrieben wird. Länder der EU sind nun mal führend im
Rüstungsexport. Jeder, der Kriegswaffengeschäfte macht, macht ein
Geschäft mit dem Tod.
Es geht ja noch weiter: Sevim Dagdelen spricht gar
davon, dass die Preisverleihung „Orwell‘sche Züge“ trage. Und
weiter: „Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU ist für
freiheits- und friedensliebende Menschen ein Schlag ins Gesicht.“
Sind solche Aussagen für freiheitsliebende Menschen wie mich und
Linke wie Sie nicht viel eher ein Schlag ins Gesicht?
Ich verstehe Ihre Argumentation nicht. Es gibt so viele Menschen,
die sich couragiert für den Frieden einsetzen und diesen Preis
wirklich verdient hätten. Die EU ist jetzt nicht das Bündnis, was
einen konsequent antimilitaristischen Kurs fährt.
Aber hat die Linke nicht ein offensichtliches
Europaproblem, wenn sie nicht erkennt, dass die EU mehr ist als
Waffenexport, mehr als ein neoliberales Bollwerk. Dass sie der
Garant für jahrzehntelangen Frieden in Europa ist und in ihrem
supranationalen Kern für die Überwindung der nationalen Idee steht?
Eine Ur-linke Idee.
Die Überwindung des nationalen Tellerrandes ist in der Tat eine
Ur-linke Idee und ganz großartig. Aber die Kritik bezieht sich auf
die real existierende Politik der EU. Auch müssen Sie die
Institutionen unterscheiden. Gerade das Europäische Parlament wird
durch den Rat immer wieder ausgehebelt. Das Parlament hat
beispielsweise Beschlüsse gefasst, die mir politisch näher sind,
als Beschlüsse der Bundesregierung. Ich will ein demokratisches und
soziales Europa – und davon will ich deutlich mehr. Das heißt
nicht, dass man die jetzige EU-Politik kritiklos hinnehmen kann.
Klar ist auch: Linke Politik kann nur eine pro-europäische Politik
sein. Aber der Kurs, den Merkel mit der EU fährt, stürzt Europa
tiefer in die Krise.
Seite 2: Warum die Nominierung Steinbrücks auf einen Mangel an Alternativen zurückgeht
Frau Kipping, Sie haben Ihrer Partei mehr
Linkspopulismus empfohlen. In der Eurofrage scheint das schon ganz
gut zu funktionieren. Plötzlich haben Linke und Rechte ganz
ähnliche Positionen und Frau Wagenknecht teilt mit Herrn Gauweiler
das Podium.
Das eigentliche Problem ist doch, dass der Kurs von Merkel in
vielen europäischen Ländern rechtspopulistische Parteien stärkt.
Was die Populismus-Forderung betrifft: Ja, die Linke braucht eine
Doppelstrategie. Sie braucht zum einen Linkspopulismus, verstanden
als eine zugespitzte Ansprache, um jene prekarisierten
Gesellschaftsgruppen zurückzugewinnen, die von politischen
Entscheidungsprozessen nahezu vollkommen abgekoppelt sind. Diese zu
aktivieren ist unsere Aufgabe. Neben Linkspopulismus brauchen wir
eine gezielte Ansprache des kreativ-ökologischen Milieus.
Sie hatten in den vergangenen Wochen für eine
rot-rot-grüne Koalition unter bestimmten Bedingungen geworben.
Warum diese offene Anbiederei an die SPD? Die Mehrheit ihrer Partei
will doch gar nicht regieren.
Die Mehrheit in der Partei ist dafür, dass wir diese Gesellschaft
verändern. Die Konstellationsfrage ist für uns zweitrangig. Wir
wollen die Gesellschaft verändern in der Opposition, aber wir
verweigern uns auch nicht, sie in der Regierung zu verändern. Mir
geht es darum, die Frage – „Wie hältst du es mit anderen Parteien“–
, die einem als Parteivorsitzende ständig gestellt wird, nicht mit
angezogener Handbremse zu beantworten. Wir wollen nicht nur sagen,
was mit uns nicht geht, sondern auch, was wir auf jeden Fall
erreichen wollen. Dazu gehört der Rückzug der Truppen aus
Afghanistan, dazu gehört der Stopp von Rüstungsexporten, dazu
gehört, dass kein Mensch unter 1000 Euro im Monat fällt. Das ist
keine Anbiederung an die SPD, sondern es zeigt, dass es jenseits
von Merkel eine echte Alternative gibt.
Die Nominierung Steinbrücks ist doch aber die endgültige
Absage an die Linke.
Die Nominierung geht auf den Mangel an Alternativen zurück.
Steinmeier wollte nicht, Gabriel hat es sich nicht zugetraut, Kraft
hatte abgesagt. Ich glaube nicht, dass das eine strategische
Entscheidung der Partei war. Die SPD muss sich jetzt entscheiden,
folgt sie ihrem Herzen nach links oder ihrem Kandidaten nach
rechts. Es war nicht besonders klug von der SPD, ausgerechnet den
Honorarkönig des Bundestags zu nominieren. Aber das ist ihr
Problem. Entscheidend sind letztlich aber nicht Personen, sondern
die Positionen, die eine Partei einnimmt. Und ob Steinbrück für die
SPD nach den Wahlen tatsächlich am Verhandlungstisch sitzt, würde
ich mit einem Fragezeichen versehen. Möglicherweise ist seine
Halbwertszeit auf die Dauer des Wahlkampfes beschränkt.
Eine grundsätzliche Zusammenarbeit mit einer SPD unter
Führung Steinbrück schließen Sie nicht aus?
Wenn die Position stimmt, schließe ich nichts aus. Wir sind sehr
prinzipientreu, wenn es um die Inhalte geht, aber wir sind nicht
dogmatisch, wenn es um Personen geht. Wir haben doch diese Woche im
Bundestag gesehen, dass die Unterschiede zwischen Merkel und
Steinbrück kaum wahrnehmbar sind. Wenn Steinbrück Merkel wegen
ihrer Europapolitik attackiert, dann ist das so, als würde ein Dieb
einen Betrüger dafür anzählen, dass er sich auf Kosten anderer
Leute bereichert. Steinbrück steht einfach nicht für eine
Alternative zu Merkel, weil ihn alle in Gedanken eher neben als
gegen Merkel sehen.
Sie haben kürzlich Ihre Wahlkampfstrategie für 2013
beschlossen. Konkret geht es um die Öffnung der Partei über die
Partei hinaus. Im Internet sollen alle Bürger am Wahlprogramm
mitarbeiten. Damit schließen Sie doch aber einen großen Teil ihrer
Mitglieder aus, die Älteren, die sich nicht mehr so im Netz
tummeln.
Zum einen würde ich die Bewegung „Senioren ins Netz“ nicht
unterschätzen. Es gibt viele betagte Genossen, die sich im Netz
sehr viel besser auskennen als ich. Zum Zweiten finden sich genug
Partizipationsmöglichkeiten im echten Leben.
Wer führt die Linkspartei 2013 in den
Wahlkampf?
Wer in welcher Konstellation die Partei in den Wahlkampf führt,
werden wir nach der Niedersachsenwahl vorschlagen. Es wird aber
keine rein männliche Doppelspitze mehr geben.
Seite 3: Die Piraten verstehen sich eher als eine FDP mit Smartphone und ohne Frauen
Sie stehen wie keine Zweite für ein Konzept, dass über
die Parteigrenze hinaus Anhänger in fast allen politischen Lagern
findet: das bedingungslose Grundeinkommen.
Ja, es ist ein Thema, das an den großen Fragen rührt: Wie wollen
wir arbeiten, wie wollen wir leben, was ist eigentlich eine
Leistung an der Gesellschaft? Ist nur die Erwerbsarbeit eine
Leistung an der Gesellschaft? Dahinter würde ich ein großes
Fragezeichen setzten. Es gibt viele Formen der Nichterwerbsarbeit,
die unverzichtbar für eine Gesellschaft sind.
Die Grundeinkommensidee hat doch aber ordoliberale
Wurzeln. Wir finden sie bereits bei Milton Friedman oder heute bei
Thomas Straubhaar, in Form von Bürgergeld-Modellen, die den
Sozialstaat auf eine Einmalzahlung zusammenstutzen. Und die Idee
der Einkommensgarantie gab es wohl erstmals bei Thomas Morus, einem
ausgewiesenen Konservativen.
Aber auch bei den utopischen Sozialisten, es gibt ganz
unterschiedliche Traditionslinien. Auch in der Bibel ist diese Idee
schon angelegt. „Seht ihr nicht die Vögel, sie ernten nicht, sie
säen nicht, der Liebe Gott ernährt sie doch“, heißt es in der
Bergpredigt. Aber die Anforderung der Bewegung an ein
Grundeinkommen ist, dass es bedingungslos und emanzipatorisch ist.
Das heißt, dass es verbunden ist mit einer Umverteilung von oben
nach unten, und dass es die Sozialversicherungssysteme nicht
ersetzt, sondern nur einen untersten Sockel einführt. Vergleichbar
mit dem Verhältnis vom Mindestlohn zum Tariflohn. Als der
Mindestlohn in den 90ern zum ersten Mal von meiner Partei gefordert
wurde, haben die Gewerkschaften aufgeschrien und sahen die
Tarifhoheit gefährdet. Inzwischen ist allen klar, dass man im
Lohngefüge ein unterstes Sicherheitsnetz braucht. Beim
Grundeinkommen ist es ähnlich. Wir brauchen dieses Netz.
Und die Unternehmen würden sich freuen. Es gäbe quasi
einen riesigen Kombilohn und die Betriebe könnten die Mitarbeiter,
die über ein gesichertes Grundeinkommen verfügen, im Lohn drücken.
Ist das Grundeinkommen nicht eher eine Art Neoliberalismus durch
die Hintertür? Wenn alle den gleichen Betrag bekämen, dann wäre
jeder wirklich seines Glückes Schmied.
Nein. Gegenfrage: richtet sich denn der Lohn heute wirklich nach
den Bedürfnissen der Menschen? Wie kommt es, das einige einen
Stundenlohn von drei Euro haben? Wir wissen nicht, was passiert,
wenn tatsächlich ein Grundeinkommen eingeführt wird. Wir wissen
aber, was passiert, wenn es nicht eingeführt wird. Das erleben wir
zur Zeit und heißt: Hartz IV. Insofern herrscht heute das Gegenteil
von Grundeinkommen. Ein System von Schikane und Armut. Das führt
dazu, dass die Leute eher schlechte Löhne und Überstunden in Kauf
nehmen. Um diese Logik vom Kopf auf die Füße zu stellen, ist das
Grundeinkommen ein gutes Instrument.
Die Piraten sind auch dafür. Ein möglicher
Partner?
Nicht überall, wo Grundeinkommen drauf steht, ist auch
Grundeinkommen drin. Das Bürgergeld der FDP beispielsweise ist eher
eine Art Hartz sechs. Bei den Piraten werden zurzeit
unterschiedliche Modelle diskutiert. Aber es gibt zumindest ein
Grundbekenntnis.
Gibt es ansonsten Schnittmengen mit den
Piraten?
Bei der Frage von Transparenz, der Forderung nach kostenlosem
öffentlichen Nahverkehr, bei den Erneuerbaren Energien oder der
Netzneutralität gibt es echte Schnittmengen. Ich habe die Hoffnung
gehabt, dass sich die Piraten als Verstärkung des linkslibertären
Spektrums begreifen. Der Kurs, den der jetzige Vorsitzende
einschlägt, geht aber in eine andere Richtung. Die Piraten
verstehen sich eher als eine FDP mit Smartphone und ohne Frauen.
Denen fehlt einfach das Freibeutergen. Störtebeker wäre heute ein
Linker.
Und Ihr Selbstverständnis? Sie sprechen häufiger vom
„demokratischen Sozialismus“ oder vom „Sozialismus mit menschlichem
Antlitz“. Heißt das im Umkehrschluss, dass Sozialismus von sich aus
unmenschlich ist? Warum diese Beifügung, wenn sie doch vom
Sozialismus überzeugt sind?
„Mit menschlichem Antlitz“ ist eine historische Vokabel, die sich
auf den Prager Frühling bezogen hat. Es ist zentrale Erkenntnis aus
dem Staatssozialismus, dass Sozialismus heute nur mit Demokratie
und Freiheit denkbar ist. Gesellschaftliche Veränderungen, für die
wir kämpfen, sind nur auf demokratischem Wege zu erreichen.
Wie erleben Sie die aktuelle Diskussion um die
Plagiatsvorwürfe gegen Annette Schavan? Warum stehen eigentlich
immer Politiker aus dem sogenannten bürgerlichen Lager im
Kreuzfeuer der Kritik? Plagiieren Linke nicht?
Das weiß ich nicht. Ob Annette Schavan plagiiert hat, werden am
Ende die dafür vorgesehenen Gremien entscheiden. Bis dahin gilt in
dubio pro reo.
Ist Ihnen inzwischen Ihr letzter Telefonjoker
eingefallen?
Na Günther Jauch, der sitzt ja an der Quelle.
Frau Kipping, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Timo Stein
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