- Warum in Russland der Rassismus tobt
Unruhen im Moskauer Süden: Nachdem ein mutmaßlicher Immigrant einen Russen mit einem Messer getötet hat, demonstrieren Tausende, stürmen Läden von Einwanderern, liefern sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Krawalle im Bezirk Birjuljowo sind das Symptom einer Fremdenfeindlichkeit, die tief in der russischen Gesellschaft verankert ist
Die täglichen Anfeindungen, welchen er seiner Herkunft wegen ausgesetzt ist, haben seinen Humor geschwärzt, seine Bemerkungen mit Bitterstoffen versetzt. Nach zehn Uhr abends verlässt er nie seine Wohnung, die Moskauer Vororte meidet er. Zu sehr fürchtet G., von rechtsextremen Skinheads verprügelt zu werden. Er hat Angst. Deshalb ersetzt in diesem Artikel ein Großbuchstabe den gesamten Namen eines jungen Usbeken, dessen Erlebnisse exemplarisch die Lage vieler Einwanderer beschreiben, die in Russland und vor allem in der Hauptstadt ihr Glück suchen – und über kleine Steinchen stolpern, die sich zu einem großen Mosaik von einem Land zusammenfügen lassen, das sich offenbar vor Fremdem ängstigt.
Etwa vier Millionen Zentralasiaten könnten in Moskau leben
„Für sie bin ich schwarz“, meint der 27-Jährige G. verbittert, aber abgeklärt. „Sie“, das sind die Moskowiter, „schwarz“ bedeutet zentralasiatisch oder kaukasisch. Sie sind zahlreich in Moskau. Etwa 92 Prozent der Einwanderer in die Russische Föderation stammen aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Sie benötigen für die Einreise kein Visum. Nach Moskau kämen vor allem Tadschiken und Usbeken, erklärt der Föderale Migrationsdienst Moskau. Einige kehren zwar zurück, gleichen damit aber nur einen Bruchteil des Zustroms aus.
Die gut dreieinhalb Milliarden Rubel Strafzahlungen, die in den beiden letzten Jahren vom Moskauer Migrationsdienst verhängt wurden, lassen erahnen: Wie viele Menschen tatsächlich nach Moskau kommen und dort bleiben, ist kaum einzuschätzen. Ein Verband tadschikischer Arbeitsmigranten gibt dennoch eine vage Vorstellung: Etwa vier Millionen Zentralasiaten könnten derzeit in Moskau leben.
Voreingenommenheit geht mit radikalem Rassismus Hand in Hand
Moskau sei quasi die zweitgrößte armenische Stadt nach Jerewan, sagt Aschot Ajrapetjan halb im Scherz und nippt an seinem Kaffee in seinem kalten Kellerbüro in einem Moskauer Hinterhof. Auf einem Tisch stehen Tonmännchen, die einander an den Händen halten, Ajrapetjans Schreibtisch ziert ein Aufkleber mit der Aufschrift „Cooperation is better than conflict“. Als Direktor der Nichtregierungsorganisation „Zentrum für interethnische Zusammenarbeit“ kümmert er sich seit 15 Jahren um die Prävention von Fremdenfeindlichkeit in der russischen Jugend. Gerade in Moskau, dem „neuen Babylon“, wie er sagt, sei das wichtig. Eine Vielvölkerstadt, in deren Straßen noch harmlose Voreingenommenheit mit problematischer Fremdenfeindlichkeit und radikaler Rassismus Hand in Hand gehen.
Betroffen sind meist Menschen aus den südlichen Republiken der Föderation und die so genannten „gastarbajter“. So werden Menschen aus den Ländern Zentralasiens und dem nichtrussischen Kaukasus landläufig genannt. Der Russe scherzt, echauffiert sich hin und wieder, einige schimpfen über das Verhalten der meist männlichen Einwanderer - aber auch zu recht.
G. weiß das und sagt, dass sich einige von ihnen leider „frech“ - im Russischen ist dieses Wort äußerst negativ konnotiert - benähmen. Natalja Sorkaja vom unabhängigen Lewada Zentrum sieht darin allerdings eine natürliche Reaktion: „Stellen Sie sich vor, Sie sind Fremder in einer feindlichen Welt …“
Ein wütender Mob im Moskauer Bezirk Birjuljowo versucht, in ein Geschäft von Migranten einzudringen
„Kaukasier benehmen sich wie Tiere“
Schichtübergreifend begegnet man Zentralasiaten und Kaukasiern immer wieder voreingenommen. „Wenn ich an einem Kiosk stehe, bedient man manchmal einfach Leute hinter mir“, meint G. Viele sprächen mit ihm, als verstehe er kein Russisch – seine Muttersprache. Aber auch in höheren Bildungsschichten sitzen Vorurteile tief. „Kaukasier benehmen sich wie Tiere“, sagt der Jurastudent Oleg zum Beispiel. Sein 20-jähriger Kommilitone Maxim hält die Usbeken für eine „dreckige Nation“.
Russen sind keinesfalls die einzigen mit Vorurteilen. Unter den Menschen aus den Teilrepubliken der einstigen Sowjetunion gibt es ebenfalls Missgunst und Ablehnung, die sich in der Vergangenheit auch gewaltsam ihre Bahnen brach. Tadschiken haben es in Usbekistan nicht einfach, die Probleme zwischen Armeniern und Aserbaidschanern könnten jederzeit wieder kriegerisch eskalieren. In Russland, wo sie kollektiv verurteilt werden, halten sie aber zusammen. „Wenn ich jemanden mit dunklem Haar auf der Straße treffe, spreche ich ihn gleich mit ‚Bruder‘ an“, meint G.
G. und „seine Brüder“ werden den Schmutz aber nicht los, der ihnen ob ihrer Herkunft vermeintlich anhaftet. Sucht man auf russischen Internetseiten nach Zimmern, wird von den künftigen Mitbewohnern häufig ein Slawe oder sogar ein „sauberer Russe“ gewünscht. Meldet sich ein Deutscher, ist das natürlich auch okay.
Die Regio Grupp beispielsweise vermittelt Zimmer und Betten in Wohnhäusern von vornherein getrennt: Die einen sind für die „gastarbajter“. Die man dem Autor zeigt, sind für Slawen und Europäer. Man habe ein gutes Kontrollsystem, damit das so bleibe. „Wir haben entsprechende Anweisungen von der Stadt“, rettet sich die Firma aus der Verantwortung.
Zu wenig Geld für Präventionsarbeit
Ob die russischen Behörden eine solche Praktik unterstützen, bleibt anzuzweifeln. Sicher scheint allerdings, dass sie kaum gegen Fremdenfeindlichkeit angehen, oder nur ineffektive Programme lancieren, wie das Moskauer Büro für Menschenrechte jedenfalls konstatiert. „Staatliche Unterstützung sehen wir nicht“, schlägt Aschot Ajrapetjan vom Zentrum für interethnische Kooperation in die gleiche Kerbe. Die Töpfe für Präventionsarbeit seien nicht voll genug. Deshalb wendet er sich an ausländische Geldgeber wie die Europäer oder die USA.
Aber seit Krisen und Kriege im Westen Löcher in die Staatsetats reißen, stellen auch sie immer weniger Geld zur Verfügung, das Ajrapetjan beispielsweise in Workshops stecken kann. Zuletzt versuchte der gebürtige Armenier mit Studenten unterschiedlichen ethnischen Hintergrundes, in Rollenspielen Konfliktsituationen zu lösen, die auf Angst vor dem Fremden und Überfremdung gründen. Im Sozialismus, so Ajrapetjan, habe es solche Konflikte nicht gegeben.
Die Mär vom toleranten Kommunismus
Probleme zwischen den Volksgruppen seien in Russland erst ausgebrochen, als sich einzelne Republiken von der Sowjetunion lossagten, glaubt Ajrapetjan. „Wenn jemand aus einer Familie austritt, ihr den Rücken zuwendet, dann ist klar, dass die Beziehungen danach nicht mehr so gut sind“, erklärt Ajrapetjan die Antipathie, die besonders Kaukasiern und Zentralasiaten entgegenschlägt. Der Haussegen habe so lange gerade gehangen, wie die Bewohner ihr Nationalitätsdenken vor der Schwelle des großen sowjetischen Hauses abgestreift hätten.
Diese Mär vom Neuen Menschen, der sich nicht über eine Volksgruppe, sondern nur über seine Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse definierte, glaubte indes nicht einmal der Staatsapparat selbst. So gestattete Stalin Ende der 20er Jahre unter dem Motto der „Korenisazija“ den einzelnen Völkern, ihren eigenen Weg zum Sozialismus zu suchen – um sie kurz darauf zu russifizieren. Die allmähliche Verdrängung jüdischer Kommunisten aus dem Zentralkomitee deutet auf antisemitische Tendenzen hin, Spannungen und Gewalt im Kaukasus straften den Homo Sovieticus Lügen, der als Übermensch eigentlich auch über ethnischen Differenzen hätte stehen sollen. Erst jedoch, als das System in sich zusammenfiel, brachen die Spannungen offen aus, die zum Beispiel zu einem fünfjährigen Bürgerkrieg in Tadschikistan führten.
Natalja Sorkaja vom Lewada Zentrum führt die offene Xenophobie in Russland auf enttäuschte Erwartungen und wirtschaftliche Unsicherheit zurück, die mit einem Werte-Kollaps einhergingen. Schließlich war mit der Sowjetunion auch eine Ideologie zusammengebrochen. Heute spielt der Staat mit der Angst vor Souveränitätsverlust – aber auch mit der vor Überfremdung. Dies nennt Sorkaja einen „postsowjetischen Komplex“, den sich die Politik zu eigen mache. „Immer wieder bemüht man das Bild, wir säßen in einem Turm von Feinden umringt“, erklärt Sorkaja.
Darunter ist aber nicht nur der Westen zu verstehen.
Einerseits soll die russische Kultur gegen Fremde verteidigt werden, andererseits möchte man kein Tadschikistan der Neunziger auf russischem Boden – ein Dilemma für die Offiziellen.
Die „kernrussische“ Befestigung des Nationalstaats
Auf der einen Seite hat beispielsweise für die kremltreue Jugendorganisation „Naschi“ die russische Souveränität höchste Priorität; eine Abteilung des Sport- und Jugendministeriums kümmert sich um die „bürgerliche und patriotische Erziehung“ von Kindern und Jugendlichen – was das Zentrum genau macht, lässt sich allerdings nicht näher betrachten; niemand nimmt dort den Telefonhörer ab und E-Mail-Adressen funktionieren nicht. Auf der anderen Seite spricht sich Vater Staat offen gegen Nationalismus und für den Vielvölkerstaat aus.
So schrieb Wladimir Putin im Januar letzten Jahres in der „Nesawissimaja Gaseta“ ein Plädoyer für eine „multiethnische Zivilisation“. Er konstatierte jedoch auch, die Menschen seien „schockiert über den Druck auf ihre Traditionen“ und hätten Angst, ihre Identität als Nationalstaat zu verlieren – ein Staat mit einer „kernrussischen“ Befestigung.
Fragt man das Carnegie Zentrum Moskau ist dieses Wort stärker nationalistisch konnotiert, als man auf Anhieb vermuten würde.
Der Staat nimmt sich kaum des Themas Fremdenfeindlichkeit an
Fremdenfeindlichkeit als gesellschaftliches Problem, so scheint es, ist ein Thema, dessen sich der Staat dennoch kaum annimmt. Das vermag auch nicht die zivile Öffentlichkeit ausgleichen – laut Sorkaja ist sie zu schwach. Auch Vertreter der Minderheiten halten sich zurück: Zwar willigt die „Assoziation der Armenischen Jugend in Moskau“ zuerst ein, über das Problem in Moskau zu sprechen, rudert dann jedoch zurück. Man wolle lieber die Finger von derart „heißen politischen Themen“ lassen. „Sie können sich denken, warum“, heißt es.
Auch die Kirchenväter, erklärt Sorkaja, griffen die Thematik nicht kritisch auf. „Die orthodoxe Kirche sieht sich als monoethnische slawische Religion und ist stark mit dem Staat verwoben.“ Die Betroffenen selbst sind ebenfalls kaum bereit, über Anfeindungen zu sprechen: Auf dem Basar im Moskauer Stadtteil Wychino verstehen die aserbaidschanischen Verkäufer plötzlich kein Russisch mehr, wenn sie nach Problemen gefragt werden.
Ironie und Ignoranz als Schutzhülle
G. hat seine Sprache jedoch nicht verloren. Einmal habe er sich in einer Bank lautstark beschwert, da eine Überweisung nicht funktionierte. Sein Name war falsch transliteriert worden. „Die Leute haben geschaut wie: ‚Hilfe, Überfall, ein Usbeke!‘“, sagt G. und muss selbst ein wenig dabei lachen. Ironie und Ignoranz sind Möglichkeiten für ihn, sich zu schützen, den Alltag zu meistern, ohne dabei verrückt zu werden. „Manchmal schließe ich einfach die Augen.“
Manchmal geht Fremdenfeindlichkeit aber so weit, dass man nicht wegsehen kann. In den vergangenen neun Jahren zählte das Sova-Institut über 4 000 aktenkundige Körperverletzungen mit rassistischer Motivation. Die Dunkelziffer der gewalttätigen Übergriffe, so schätzt das Institut, liegt um mindestens 20 Prozent höher. Opfer sind zumeist Menschen aus dem Kaukasus und Zentralasien – letztes Jahr bezahlten 16 von ihnen ihre Herkunft mit dem Leben.
Insgesamt sinkt allerdings die Zahl der registrierten Gewalttaten von Rechtsextremisten: Bis zum September letzten Jahres wurden 139 gezählt – ein Viertel der Zahlen von 2009.
Aggressionspotenzial mit kurzer Lunte
Davon merkt man im Moskauer Bezirk Birjuljowo jedoch nichts. Die Moscow Times spricht von Tausenden, die sich am Wochenende auf der Straße versammeln, um gegen Immigranten zu demonstrieren. Sie stürmen Geschäfte, zerschlagen Scheiben. In einem Video ist zu sehen, wie junge Männer „White Power“ rufen und versuchen in einen Laden einzudringen. Nur mühsam können die zentralasiatischen Menschen im Innern die Türen geschlossen halten.
Die kurze Lunte, die das fremdenfeindliche Aggressionspotenzial in Russland hat, war plötzlich abgebrannt, als ein Mann einen Russen vor den Augen von dessen Freundin mit einem Messer tötete. Der Täter hat vermutlich einen kaukasischen oder zentralasiatischen Migrationshintergrund.
In Russland liegen viele solcher Zündschnüre. Und in einer Gesellschaft, in der es viel Reibung gibt, dauert es nicht lange, bis der nächste Funke fliegt.
Die erste Fassung des Artikels erschien in der Moskauer Deutschen Zeitung.
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