- „EU-Parlament muss ESM kontrollieren“
Der grüne Europapolitiker Sven Giegold über eine gemeinsame europäische Steuerpolitik und Wege aus der Krise. Er plädiert für mehr Zurückhaltung bei Urteilen über die Lage in Griechenland - erst wenn der Troika-Bericht vorliege, gebe es dafür die notwendige Informationsbasis
Herr Giegold, würden Sie derzeit eine Wette über den
Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone abschließen?
Ich wette nicht, außer über Dönekes.
Ist die Lage so aussichtslos oder handelt es sich um
eine Grundeinstellung?
Griechenland wird in der Euro-Zone bleiben. Die Kosten für einen
Austritt sind schlicht und ergreifend zu hoch. Außerdem wird es
aller Voraussicht nach nicht notwendig sein: Die Griechen haben
laut einer Studie der Irischen Zentralbank etwa 20 Prozent des
gesamten Bruttoinlandsprodukt eingespart. Davon machen sich
besonders in Deutschland viele keine Vorstellung. Die Agenda 2010
ist gegen diese Sparanstrengungen ein laues Lüftchen.
Trotzdem wird die Forderung nach dem Austritt
lauter.
Die Leute sind verzweifelt auf der Suche nach einer einfachen
Lösung – und die gibt es nicht. Wir brauchen in dieser Krise
Disziplin.
[gallery:Prominenter Protest: Köpfe gegen den ESM]
Was meinen Sie damit?
Wenn vereinbart ist, dass die Troika einen Bericht über den
aktuellen Zustand Griechenlands abgibt, dann macht es keinen Sinn,
ständig auf äußerst dünner Informationsbasis harte Urteile zu
fällen. Ein Mehr an Disziplin bedeutet eben nicht nur, dass in
Krisenländern gespart wird, sondern auch, dass Leute wie Herr
Dobrindt (Generalsekretär der CSU, Anm. d. Redaktion) sich
zurückhalten und abwarten. Bereits der letzte Bericht von IWF, EZB
und EU hat gezeigt, wie hochkomplex die Einschätzung der
griechischen Sparanstrengungen wirklich sind. Es handelt sich um
über 100 Einzelverpflichtungen, die nun evaluiert werden
müssen.
Was sagen Sie denn zum Vorschlag vom Ifo -Chef
Hans-Werner Sinn, man solle einfach die Drachme in Griechenland
wieder einführen?
Griechenland selbst wäre dann vollständig überschuldet. Herr Sinn
meint, dass man die Schuldenkrise durch eine Abwertung der
schwächeren Staaten löst. Die Schulden werden dann allerdings nicht
zurückgezahlt, woraus nicht absehbare Folgen entstünden. Ich finde
erstaunlich, dass solche Forderungen in Deutschland überhaupt so
viel Aufmerksamkeit bekommen.
Der Grexit bleibt also ein Schreckgespenst?
Manche behaupten, die Folgen wären inzwischen kontrollierbarer.
Aber nur weil etwas Zeit vergangen ist, heißt das noch lange nicht,
dass es keine Ansteckungseffekte für andere Länder geben würde.
Wenn ein Land die Zone verlässt, werden die Risiken für die nächst
schwächeren Länder dramatisch steigen.
Seite 2: Gemeinsame Steuerpolitik als Lösungsstrategie
In der vergangenen Woche war der griechische Premier
Antonis Samaras mit der Bitte um mehr Zeit nach Berlin gekommen.
Kanzlerin Merkel hat das abgelehnt. Hätten Sie einer Streckung der
Kredite zugestimmt?
Frau Merkel hat hier keine ihrer roten Linien mit begrenzter
Halbwertzeit gezogen, sondern deutlich gemacht, dass der
Troika-Bericht abgewartet werden muss. Das ist richtig so.
Griechenland hat derzeit nicht das Problem, dass es die Ausgaben
drastisch weiter kürzen muss – das würde das Land nur noch weiter
in die Rezession führen.
Also mehr Zeit?
Das muss nach dem Bericht entschieden werden. Vor allem muss
Griechenland aber solche Einnahmequellen mobilisieren, die die
Konjunktur wenig schädigen. Gemeint sind Milliarden an
Vermögenswerten, die unbesteuert in der Schweiz oder anderen
Steueroasen liegen. Europa muss Griechenland durch eine gemeinsame
Steuerpolitik helfen, dieses Geld zu besteuern.
Wie kommt Europa ganz konkret an das Geld der
Steuerhinterzieher?
Zu viele Menschen mit Geld profitieren von der uneinheitlichen
Steuerpolitik der EU. Sie entziehen sich der Besteuerung, indem sie
sich in Steueroasen begeben oder das Geschäft in niedrig besteuerte
Tochterfirmen verlagern. Wir brauchen grenzüberschreitenden
Informationsaustausch und Mindeststeuersätze.
Wie hoch sollten diese Sätze sein?
Auch Mindeststeuersätze von 25 Prozent wären ein riesiger Schritt
und auch für die schwächeren Staaten machbar. Auf dieser Basis
könnte mit Steueroasen geschlossen verhandelt werden, so wie es die
USA bereits tun.
Was sind die konkreten Schritte, die Griechenland tun
muss?
Griechenland hat seine Maßnahmen abzuarbeiten – das sind in erster
Linie Strukturreformen. Ich werde jetzt nicht schon wieder fünf
möglichst drastisch klingende Maßnahmen aufsagen – dafür müssten
Sie jemanden von der CSU fragen. Die Griechen haben sich zu einer
langen Liste verpflichtet. Leider fehlt die soziale Balance.
Hat Griechenland wirtschaftlich denn überhaupt eine
Perspektive? In der Debatte wird der Eindruck erweckt, es gebe nur
die Olivenöl-Industrie…
Auch innerhalb Deutschlands sagt man nicht jeder Region, dass sie
so aussehen soll wie Baden-Württemberg. Man kann sehr gut in einer
gemeinsamen Währungszone sein und sich verschieden spezialisieren.
Ich habe den Eindruck, dass solche Aussagen von Leuten kommen, die
sich nie die Außenwirtschaftsstatistik Griechenlands angesehen
haben. Griechenland hat zum Beispiel eine große Pharma-Industrie,
die milliardenschwer ist.
Lassen Sie uns den Blick auf das Europäische Parlament
richten, in dem Sie ja seit 2009 sitzen. Es wird zwar ständig von
Europa geredet – diese europäische Politik wird aber bestimmt von
der nationalen Exekutive. Welche Rolle spielt die europäische
Legislative noch?
Das Europäische Parlament hat mehr Macht denn je. Deshalb werden
wir auch tagein tagaus von Tausenden von Lobbyisten belagert. An
diesem Maßstab kann man gut erkennen, wo von außen die Macht
gesehen wird. In der Gesetzgebung spielen wir eine wichtige Rolle –
zeigt sich gerade bei der Finanzmarktregulierung.
Seite 3: Europäische Entscheidungen sollten europäisch getroffen werden
Das Krisenmanagement aber liegt bei den
Nationalstaaten…
Leider! Das Europäische Parlament hat Budgetrecht über ein Prozent
des Bruttoinlandsprodukts der EU – und damit können Sie keine große
Finanzkrise managen.
Gibt es ein Demokratiedefizit?
Ja. Der Ministerrat hat die akute Finanzierung der
Krisenbewältigung der EZB überlassen. Deshalb wurde die Bilanz der
Europäischen Zentralbank zweieinhalbfach vergrößert, auf über 3.000
Milliarden. Der Haken ist: Die EZB wird viel zu wenig demokratisch
kontrolliert.
Der ESM wird durch 18 nationale Parlamente kontrolliert.
Das lähmt doch vor allem.
Es führt zu Ineffizienz. Wenn Sie einen europäischen Fonds von 18
nationalen Parlamenten kontrollieren lassen, kommen Entscheidungen
nicht in der notwendigen Geschwindigkeit. Aus meiner Sicht muss der
ESM unter die Kontrolle des Europäischen Parlaments.
Wie schätzen Sie die Chancen der europäischen
Legislative ein?
Die gesetzgebende Macht stimmt, es fehlt aber noch immer an
Aufmerksamkeit. Die nationale Öffentlichkeit bindet sich nach wie
vor an nationalen Regierungen und Parlamente. Wir brauchen ein
neues europäisches Wahlrecht.
[gallery:Eine kleine Geschichte des Euro]
Was stellen Sie sich vor?
Zumindest zum Teil sollten Kandidaten auf europaweiten Listen
antreten dürfen. Im Falle des Wahlerfolgs sollten die
Spitzenkandidaten die zentralen Funktionen der EU-Kommission
übernehmen. Durch einen solchen Schritt entstehen europäische
Köpfe. Wenn mit einer Europa-Wahl Richtungsentscheidungen verbunden
sind, richten die Menschen den Blick auch über den nationalen
Tellerrand.
Wie wahrscheinlich sind solche Pläne?
Das Parlament diskutiert genau das im Moment. Zum Einsteig könnte
man zumindest 25 Kandidaten über europaweite Listen wählen. Derzeit
gibt es leider sehr viel Widerstand gegen diesen Vorschlag – sowohl
in der konservativen Fraktion, als auch bei den
Sozialdemokraten.
Sie sind Mitbegründer des globalisierungskritischen
Netzwerks Attac. Inzwischen spricht sogar die CDU von einer
Finanzmarkttransaktionssteuer, von Attac aber hört man immer
weniger.
Finden Sie? Gerade in den letzten Wochen ist die neue Kampagne zum
Thema „Umfairteilen“ angelaufen. Der Ansatz ist wirklich gut: Hohe
Schulden, die die Länder haben, sind begleitet von hohen Vermögen –
und die haben bisher zur Bewältigung der Krise wenig beigetragen.
Die Kampagne hat relativ viel mediales Echo bekommen. Aber es ist
klar, wenn man der Einzige ist, der die Regulierung der
Finanzmärkte fordert, wird man natürlich mehr wahrgenommen. Heute
geht es darum, wer eine Forderung am präzisesten und am lautesten
ausdrückt.
Sven Giegold ist Volkswirt und seit 2009 Abgeordneter im Europaparlament für die Grünen. Er ist ihr finanz- und wirtschaftspolitischer Sprecher. Zuvor war Giegold Mitglied im Koordinierungskreis von Attac Deutschland.
Das Gespräch führte Timo Steppat.
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