- „Da stimmt etwas nicht in unserem System“
Deutschland, deine Großprojekte: Erst scheiterte Stuttgart 21 fast an der Wut der Bürger, jetzt droht sich die Eröffnung des Flughafens Berlin-Brandenburg ein weiteres Mal zu verschieben. Der Städteplaner Albert Speer – Sohn des gleichnamigen NS-Generalbauinspektors – erklärt, wieso Politiker gerne die einfach Lösungen ignorieren
Herr Professor Speer, Sie sind ein international
gefragter Städteplaner und kommen für Ihre Projekte viel in der
Welt herum. Einmal ganz allgemein gefragt: Sind sich die Deutschen
des Ausmaßes an Globalisierung überhaupt richtig
bewusst?
Ganz ehrlich: nein. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir die Rolle
in der Welt, die wir mit unserem Know-how, mit unserem Wissen, mit
unserer Kompetenz spielen könnten, auch tatsächlich wahrnehmen.
Woran liegt das?
Das liegt zum einen daran, dass wir es in der Vergangenheit
überhaupt nicht nötig hatten, im Ausland zu arbeiten, und darin
auch keine Tradition haben – anders als zum Beispiel die
Niederländer oder die Briten. Das hat auch damit zu tun, dass
Deutschland nie Kolonien besaß. Dann kommen noch die sprachlichen
Verständigungsschwierigkeiten dazu. Und zum Dritten hatten wir
immer genügend in Deutschland zu tun. Aus diesem Grund ist unsere
Rolle in der Welt immer noch unterentwickelt.
Immerhin ist Deutschland
Exportweltmeister …
Das ist richtig, aber viele unserer Ideen, Entwicklungen und
Vorstellungen kommen eben immer noch in anderen Ländern zur
Serienreife. Wir sind da nicht gut genug aufgestellt. Wir sind zu
provinziell und zu langsam.
Für Katar hat Ihr Büro die Planungen für die Fußball-WM
2022 gemacht und damit sogar den Zuschlag bekommen; in China
entstehen unter Ihrer Regie ganze neue Städte. In Deutschland
dagegen kommt es wegen des geplanten Umbaus des Stuttgarter
Hauptbahnhofs zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Ist unsere
Gesellschaft vielleicht ein bisschen zu wohlstandsverwöhnt
geworden?
Die Frage kann man sich durchaus stellen. Stuttgart 21 ist für mich
allerdings ein Sonderfall, den man in die allgemeine Entwicklung
großer städtebaulicher Projekte eigentlich nicht einordnen kann,
weil der lange Planungszeitraum von mehr als 15 Jahren nicht in
Fehlplanungen begründet ist. Sondern darin, dass die Auftraggeber
und die Politik über Jahre hinweg das Projekt gar nicht mehr
wollten. In dieser Zeit ist dann überhaupt nichts passiert. Das ist
natürlich für die Umsetzung eine Katastrophe. Ich bin der
Überzeugung, dass große Infrastruktur- und Architekturvorhaben
einen fest umrissenen Zeitrahmen brauchen. Wenn es innerhalb von
sagen wir mal fünf Jahren nicht gelingen sollte, mit dem Bau
überhaupt zu beginnen, sollte man ein Großprojekt einstellen und
eine Generation warten.
Das heißt, Stuttgart 21 wäre nicht wegen des Widerstands
der Bürger, sondern wegen des falschen politischen Managements
beinahe gescheitert?
Am Anfang der Planungen gab es für Stuttgart 21 überhaupt kein
Akzeptanzproblem. Was dann aber folgte, waren Managementprobleme
der Politik und der öffentlichen Verwaltung mit den
Genehmigungsverfahren und allem, was daran hängt. Ich bin der
Überzeugung, dass wir auch da unsere Kompetenzen nicht
ausspielen.
[gallery:Der Streit um Stuttgart 21]
Was müsste also verbessert werden?
Das ist von Projekt zu Projekt verschieden, weil jedes individuelle
Organisationsstrukturen erfordert. Unser Büro ist immer bemüht, für
eine ganz bestimmte Zeitspanne die Zuständigkeiten und die
Interessen zu bündeln und somit schnell und schlagkräftig agieren
zu können. Wir brauchen eine Organisationsstruktur auf Zeit. Der
Bau der Allianz-Arena in München ist ein Beispiel dafür.
Aber es kommt doch vor allem auch darauf an, der
Bevölkerung das Erfordernis eines solchen Großprojekts zu
vermitteln …
Das ist selbstverständlich ein ganz großes Thema, das von vielen
Fachleuten immer noch weit unterschätzt wird. Im Fall der
Allianz-Arena haben wir der Stadt München dazu geraten, selbst
einen Bürgerentscheid zu organisieren und nicht zu warten, bis
Bürgerinitiativen auftreten. Bei diesem Entscheid haben dann sogar
mehr Bürger abgestimmt als vor kurzem, als es um die dritte
Landebahn des Münchener Flughafens ging – und über 60 Prozent waren
dafür.
Das jüngste Debakel eines deutschen Großprojekts ist der
Flughafen Berlin-Brandenburg, dessen Eröffnung mindestens auf März
verschoben wurde. Jetzt schieben sich das Land Brandenburg, die
Stadt Berlin und der Bund als Anteilseigner gegenseitig den
Schwarzen Peter zu, von den beteiligten Architektur- und
Ingenieurbüros einmal ganz abgesehen. Sind in der föderalen
Bundesrepublik die Kompetenzen womöglich zu zersplittert, um ein
Planungsvorhaben dieser Dimension vernünftig zu
stemmen?
Einen großen Flughafen zu bauen, ist eine sehr komplexe und
anspruchsvolle Aufgabe. Wenn versucht wird, so etwas in den
gewöhnlichen Genehmigungs- und Verwaltungsmühlen durchzusetzen,
wundere ich mich überhaupt nicht, dass es da zu Kompetenzgerangel
kommt. Es kann doch nicht sein, dass ein Beamter des Landkreises
Dahme-Spreewald verantwortlich ist für das gesamte
Brandsicherungssystem. Genau in solchen Fällen braucht es eine
Kompetenzbündelung, mit der sich klare Entscheidungen treffen
lassen. Wir haben vor Jahren in Berlin die Wissenschaftsstadt
Adlershof mitgeplant, aus dieser Zeit kenne ich die Berliner
Besprechungsgewohnheiten ganz gut. Wenn in Frankfurt eine
Besprechung stattfindet, sind daran vielleicht zehn oder 15 Leute
beteiligt; in Berlin sind es ungefähr 40. Und ich glaube, daran hat
sich bis heute nicht viel geändert.
Seite 2: Die Planung von Großprojekten sei auch in anderen Ländern genauso schwierig, meint Speer
Das heißt, die rechtlichen Grundlagen in Deutschland
sind kein Hindernis, sondern eher die Verwaltung?
Ich würde schon sagen, dass auch das Planungs- und Baurecht nicht
mehr den gesellschaftlichen Anforderungen von heute entspricht. Da
besteht ein enormer Handlungsbedarf.
Inwiefern?
Das ist sehr komplex. Aber um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn die
Bundesregierung jetzt stolz darauf ist, dass sie eine Novelle des
Baugesetzes organisiert hat, wonach in reinen Wohngebieten
Kindergärten „bis zu einer gewissen Größenordnung" gestattet
werden, dann stimmt doch das ganze System nicht.
Heute wird ja viel darüber sinniert, ob westliche
Demokratien überhaupt noch in der Lage sind, mit den schnellen
Entscheidungswegen in Ländern wie China mitzuhalten. Haben Sie
manchmal den Eindruck, dass wir mit unserem politischen System
Gefahr laufen, wirtschaftlich ins Hintertreffen zu
geraten?
Nein. Wenn es darauf ankommt, sind wir ja in der Lage, auch große
Dinge zu vollbringen. Aber in der Demokratie sind Großprojekte eben
nur dann fristgerecht durchsetzbar, wenn ein konkreter Endtermin
feststeht. Wir haben fünf Jahre lang die Weltausstellung in
Hannover geplant; da war klar, dass an einem bestimmten Tag alles
fertig sein muss, weil die Ausstellung eben beginnt. Wir können es
also, aber wir leisten uns oft Verzögerungen. Dann kommt zum
Beispiel ein Genehmigungsverfahren vier Wochen lang zum Erliegen,
nur weil der zuständige Beamte in Urlaub ist. Das geht übrigens
fast immer auf Kosten der Steuerzahler. Die Elbphilharmonie in
Hamburg ist ein schönes Beispiel dafür. Es fehlt an der Disziplin.
Und oft auch am Willen, nach Alternativen zu suchen.
Ist die Elbphilharmonie eine Fehlplanung?
Auf einen früheren Speicher eine Philharmonie draufzusetzen, ist
komplex genug. Aber darüber noch einmal ein großes Hotel zu bauen,
das halte ich für ausgemachten Schwachsinn. Die Philharmonie wäre
längst fertig, wenn man das Hotel nebendran gebaut hätte. Das
technisch Machbare verführt Politiker und Planer dazu, einfachere
Lösungen zu ignorieren.
[gallery:Das Berliner Stadtschloss – ein modernes Schauermärchen]
Ist es für Sie einfacher, in China oder in Ländern des
Mittleren Ostens zu arbeiten als in Deutschland?
Überhaupt nicht. Es ist anders. Und auch in solchen Ländern geht es
nicht unbedingt einfacher als in Deutschland. In China haben wir
uns erst einmal sehr daran gewöhnen müssen, dass es dort 5000 Jahre
alte Traditionen gibt, die bis heute durchschlagen. Das Denken und
die Kultur des Miteinander-Redens sind völlig anders als bei
uns.
Als gelegentlicher China-Besucher könnte man den
Eindruck gewinnen, dass zum Beispiel der Denkmalschutz dort keine
besonders große Rolle spielt.
Das tut er mittlerweile sogar sehr. Da hat längst ein großes
Umdenken stattgefunden. Trotzdem geht immer noch sehr viel kaputt.
Aber die Chinesen sind ja auch clevere Geschäftsleute, die wissen,
dass man mit Denkmalschutz und alter Bausubstanz viel Geld
verdienen kann.
Es ist also nicht so, dass in China irgendwelche
Politiker etwas beschließen, und am nächsten Tag rollen die
Bagger?
Überhaupt nicht. Auch in China gibt es bei großen Bau- und
Infrastrukturprojekten einen erheblichen Diskussionsprozess, der
auch gegenläufig ist – von der Stadtebene zur Staatsebene und
umgekehrt. Aber daran sind wir als Planungsbüro nicht
beteiligt.
Wie denken Ihre chinesischen Geschäftspartner heute über
Deutschland?
Mein Eindruck ist, dass nicht nur in China, sondern auch in vielen
anderen Staaten Deutschland immer noch mit das höchste Ansehen in
der Welt hat. Leider nutzen wir dieses Ansehen in Deutschland nicht
genug.
Umgekehrt verbinden viele Deutsche mit China immer noch
billige Massenproduktion.
Was ein Fehler ist. Man muss sich doch nur einmal anschauen, welche
riesigen Anstrengungen die Chinesen etwa auf dem Gebiet der
Energieeffizienz geleistet haben. Auch bei den alternativen
Energien sind sie inzwischen dabei, uns zu überrunden. Das ist dort
ein sehr wichtiges Thema. Die Chinesen wollen sich auf diesem
Gebiet auch deshalb keinen internationalen Regeln unterwerfen, weil
sie der Überzeugung sind, es besser machen zu können. Solche Themen
werden in Deutschland kaum gewürdigt. Überhaupt wird China in den
deutschen Medien immer schlechter dargestellt, als es der Realität
entspricht.
Sie arbeiten ja auch viel für Regierungen, die
demokratisch nicht legitimiert sind. Haben Sie da manchmal ein
ungutes Gefühl?
Die Frage stellt sich auf der Ebene nicht, auf der unser Büro in
solchen Ländern arbeitet. Denn wir haben mit der Politik wenig zu
tun. Aber grundsätzlich finde ich schon, dass die Frage berechtigt
ist. Wer wie ich seit 40 Jahren auch in Saudi-Arabien arbeitet,
muss sich einfach klarmachen, dass das eine andere Welt ist, die
aus dem Beduinentum entstammt. Dort kann übrigens jeder Bürger zu
einer Audienz beim König kommen und findet Gehör. Man kann nicht
alles an unserer doch sehr jungen Demokratie messen. Ich bin aber
überzeugt davon, dass wir in jedem Land arbeiten können sollten,
mit dem die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhält.
Im Handelsblatt war unlängst zu lesen, dass die
ständigen Verweise aus Deutschland bezüglich Menschenrechten in den
betroffenen Ländern zu einer Benachteiligung deutscher Firmen
führten. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?
Nein.
Seite 3: „Katar ist in der Lage, die WM zu stemmen"
Die Entscheidung, eine Fußball-Weltmeisterschaft im
Wüstenstaat Katar abzuhalten, wurde hierzulande heftig kritisiert.
Sie selbst waren ja maßgeblich daran beteiligt, dass das Emirat den
Zuschlag dafür erhielt. Hat es Sie nicht selbst ein bisschen
erstaunt, dass es geklappt hat?
Ich war schon überrascht. Ich saß zu Hause vor dem Fernseher und
habe die Übertragung der Endausscheidung gesehen. Scheich Mohammed,
einer der Söhne des Emirs von Katar und Vorsitzender des
Bewerbungskomitees, rief hinterher bei mir an und sagte: „I love my
Germans!"
Was erwidern Sie denn Kritikern wie Franz Beckenbauer,
der eine WM in Katar schon aufgrund der dortigen Klimaverhältnisse
ablehnt?
Wir haben nachgewiesen, dass es trotz der Hitze mit hohem
technischem Aufwand und unter Verwendung von Solarenergie möglich
ist, dort eine Fußball-WM zu veranstalten. Dass es ökologisch
sinnvoller wäre, den Termin in den Herbst oder Winter zu
verschieben, ist eindeutig. Aber es geht auch so. Ich bin zudem der
Überzeugung, dass diese Region ein Recht darauf hat, trotz der
klimatisch schwierigen Bedingungen ein solches Großereignis
durchzuführen.
Franz Beckenbauer hat den Katarern mehr oder weniger
offen unterstellt, die WM gekauft zu haben …
Da liegt er völlig verkehrt. Wir haben nachgewiesen, dass Katar in
der Lage ist, die WM zu stemmen. Und natürlich gehört Lobbying
immer dazu, um den Zuschlag zu erhalten; das machen alle anderen
Bewerber genauso. Aber dass die Katarer die Fußball-WM „gekauft"
haben, halte ich für völlig ausgeschlossen.
[gallery:Die Lieblingsmonumente der Deutschen]
Werden Sie im Ausland eigentlich oft auf Ihren
berühmt-berüchtigten Vater angesprochen?
Überhaupt nicht. Das ist nur in Deutschland Thema. Ich gebe aber
offen zu, dass das Interesse an meiner Person mit meinem Vater
zusammenhängt. So ist es halt.
Gibt es in anderen Ländern eine Faszination für
Großprojekte, die wir in Deutschland auch aufgrund der Erfahrungen
aus der Nazizeit verloren haben?
Den Eindruck habe ich nicht. Wir haben in Deutschland wegen der
schrumpfenden Bevölkerung schlicht keinen Bedarf mehr, zum Beispiel
ganze Stadtviertel neu zu planen. Das ist in einem Land wie Ägypten
ganz anders, wo wir für Alexandria einen Masterplan bis zum Jahr
2033 erstellen – die Stadt wird bis dahin von 3,5 Millionen auf 5,5
Millionen Einwohner gewachsen sein. Da braucht es einfach neue
Städte und eine neue Infrastruktur.
Sie haben einmal gesagt, Ihr persönliches Motto laute:
„Das Leben ist Risiko." Ist uns Deutschen die Bereitschaft zum
Risiko abhandengekommen?
Generell kann man das nicht sagen. Aber um Risiken einzugehen,
braucht es ein erhebliches Maß an Eigeninitiative.
Kommen Sie von Ihren vielen Reisen gern nach Deutschland
zurück?
Ja. Wir leben hier auf einer Wohlstandsinsel von ungeheuren
Ausmaßen – von der Infrastruktur bis hin zur Kultur. Um das alles
zu erhalten, müssen wir uns zukünftig mehr anstrengen.
Das Gespräch führte Alexander Marguier
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