- Zurück zu nationalen Währungen
Eine Änderung der europäischen Verträge zu diesem Zeitpunkt wäre einseitig und falsch, sagt der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf im CICERO-ONLINE-Interview. Statt schärferer Stabilitätskriterien wünscht er sich vom EU-Gipfel, dass die Europäische Zentralbank verstärkt Staatsanleihen aufkaufen darf
Herr Scharpf, auf dem EU-Gipfel in Brüssel geht es jetzt um alles oder nichts – die Rettung des Euro. In Ihrem jüngsten Aufsatz haben Sie die Euro-Hilfen jedoch scharf kritisiert. Warum?
Meine These ist, dass die jetzige Krisenpolitik, die ausschließlich an der Staatsverschuldung ansetzt, völlig an den Ursachen vorbeigeht – und die Krise deswegen auch nicht bewältigen kann. Die deutschen Vorschläge gehen alle davon aus, dass das einzige Problem der Währungsunion die mangelnde Disziplin bei der Staatsverschuldung ist. Die Krisenstaaten sind aber nicht generell an ihrer jetzigen Lage Schuld. Das gilt zwar teilweise für Griechenland. Aber Spanien und Irland haben ihre Staatsverschuldung in den vergangenen Jahren sogar dramatisch gesenkt, weit unter die Maastricht-Kriterien von 60 Prozent – und damit weit unter das deutsche Niveau. Die Staatsschuldenkrise ist in diesen Ländern also keine Folge hemmungsloser Staatsverschuldung, sondern eine Folge der internationalen Finanzmarktkrise von 2008.
Merkel und Sarkozy wollen für ihre Rettungspläne am liebsten die europäischen Verträge ändern. Damit soll dauerhafte Währungsstabilität gesichert werden.
Das Programm erscheint mir zu einseitig und deshalb falsch.
Warum?
Das erste Land, das den Stabilitätspakt verletzt hat, war doch Deutschland. Die Währungsunion hat uns damals eine langwierige Rezession beschert. Die Steuereinnahmen sanken, die Arbeitslosigkeit stieg steil an – und damit auch die Sozialausgaben. Weil Deutschland zugleich die niedrigste Inflationsrate hatte, war die Verletzung des Stabilitätspakts aber ökonomisch gerechtfertigt. Denn in einer Rezession kann man nicht noch zusätzlich die Staatsausgaben drastisch senken. Ein Stabilitätspakt, der in einer solchen Situation Verschuldung nicht erlaubt, ist wirtschaftspolitisch schädlich. Die staatliche Finanzpolitik muss in Reaktion auf Konjunkturschwankungen atmen können. Sie muss in der Rezession zulegen können und sie muss in der Hochkonjunktur Rücklagen bilden.
Das ist aber eine sehr keynesianische Sichtweise.
Nein, das ist auch aus monetaristischer Perspektive richtig. Der Monetarismus funktioniert nur, wenn die nationale Geldpolitik Konjunkturschwankungen ausgleichen kann, weil sie präzise auf die Bedingungen der nationalen Wirtschaft passt. Dann braucht die staatliche Finanzpolitik in der Tat nicht mehr viel zu tun. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) dagegen ist eine einheitliche, die sich auf den Durchschnitt des Euroraums bezieht. Sie passt also gerade nicht auf Länder, die in einer Rezession stecken – und sie passt auch nicht auf Länder, die in einer Überkonjunktur stecken. Und deshalb muss hier die Finanzpolitik korrigierend eingreifen.
Dann heißt das in anderen Worten, dass Sie den Sparplan für Griechenland in diesem Moment für Wahnsinn halten?
Ökonomisch ist er kontraproduktiv. Man sieht das ja, die Wirtschaft schrumpft und schrumpft, die Steuereinnahmen gehen zurück, die Schulden steigen. Alles Folgen dieser extremen Sparauflagen, die von der Europäischen Kommission formuliert und von der Troika [dem Dreiergespann aus EU, EZB und Internationalem Währungsfonds, Anm. der Red.] durchgesetzt werden.
Würden Sie mit dem selben Argument auch die Schuldenbremse ablehnen, die Deutschland hat und jetzt am liebsten in anderen Staaten durchsetzen möchte?
Das hängt sehr davon ab, wie sie ausgestaltet wird. Im Prinzip ist Staatsverschuldung natürlich schlecht. Aber wenn Geldpolitik nicht passt und die Länder deshalb gezwungen sind, alleine mit Wirtschaftskrisen, Rezessionen und Überkonjunkturen fertig zu werden, dann brauchen sie wenigstens Spielraum für die Finanzpolitik, um ihre Wirtschaft managen zu können. Eine generelle Schuldenbremse ist daher richtig. Wenn sie aber zu eng gehandhabt wird, dann wird sie wirtschaftspolitisch katastrophal.
Warum Scharpf mit Keynes argumentiert, auf der nächsten Seite
Sie argumentieren an anderer Stelle, dass Staatsinsolvenzen einen so tiefen Schock erzeugen, dass Regierungen ihren Bevölkerungen leichter die Rolle des Sanierer verkaufen können – wohingegen sie jetzt als böse Strukturanpasser daherkommen. Würden Sie also nach wie vor mit dem Bankrott der Pleitestaaten liebäugeln?
Die Staatsinsolvenz kann ja nur positiv wirken, wenn gleichzeitig das Land auch die Währungsunion verlässt. Politisch ist das jedoch unrealistisch, da die Staatenlenker am Euro festhalten wollen. Wenn man aber frei überlegen könnte, was in der jetzigen Lage zu machen ist...
...das dürfen Sie jetzt...
…dann wäre es sinnvoll, über eine gemeinsame Rückkehr der Euroländer zum früheren europäischen Währungssystem nachzudenken. Das war ein sehr leistungsfähiges System. Die Währungen waren an den ECU („European Currency Unit“) angebunden. Dadurch wurden Wechselkursschwankungen sehr wirksam gedämpft. Wenn aber die Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten zu groß wurden, konnten sie gemeinsam über Abwertung oder Aufwertung beschließen. Überlegungen dieser Art stehen aber zurzeit nicht auf der Tagesordnung.
Wie also stellen Sie sich eine sinnvolle Änderung der europäischen Verträge vor?
Was will man mit den Verträgen erreichen? Wenn man die automatischen Sanktionen auch noch in die Verträge reinschreibt, wird das alles noch unflexibler. Wenn man die Verträge ändert, dann sollte man viel eher versuchen, die Grundfehler der alten Währungsunion zu korrigieren.
Die da wären?
Erstens, dass die Geldpolitik völlig einheitlich gehandhabt wird und keine Rücksicht auf die ganz unterschiedlichen Probleme einzelner Länder nimmt. Und zweitens, dass die EZB keine Möglichkeit hat, Staatsdefizite direkt zu finanzieren. Die nationalen Zentralbanken in den USA, in Großbritannien und in anderen Ländern dürfen und tun das. Diese Lösung, die auch die Franzosen bevorzugen, wird aber von Frau Merkel konsequent abgelehnt. Von Deutschland kommen die falschen Vorschläge.
Sie wollen also, dass die EZB weitere Staatsanleihen ankauft und damit zum Inflationsmacher wird?
„Inflationsmacher“ – das ist eine Interpretation, die man bestreiten kann. Weder die Amerikaner noch die Briten haben eskalierende Inflationsraten. Schon zu Beginn der Finanzkrise 2008, als die Nachfrage zusammenbrach obwohl die Produktionskapazitäten weiterhin zur Verfügung standen, hätte die Bankenrettung durch EZB-Kredite finanziert werden sollen, statt auf die Kapitalmärkte zu gehen. Die Inflation wäre dadurch nicht angeheizt worden, und die Staaten könnten durch die Finanzmärkte weniger erpresst werden.
Trotzdem bestünde doch die Gefahr, dass die EZB mit einem solchen Freibrief massiv Geld druckt, den Euro entwertet und sich die Haushalte weiter verschulden...
Wenn Sie sich die Wirtschaftsdaten der betroffenen Länder ansehen: Die Inflations- und Wachstumsraten dort sind derart im Keller, dass eine direkte Finanzierung der Staatsschulden keine Inflationsprobleme auslösen könnte. Und der EZB diese Kompetenz zu geben, hieße ja nicht, dass sie dann blindwütig Geld drucken würde. Wirtschaftspolitischer Sachverstand wäre dort nach wie vor nötig und vorhanden. Mit der Inflationsangst werden bei uns Monster an die Wand projiziert, die ganz unrealistisch sind.
Was sollte darüber hinaus getan werden?
Man sollte nach Möglichkeiten suchen, wie die Geldpolitik wieder national differenziert werden kann. Entweder sollte die EZB gegenüber Spanien eine andere Geld- und Zinspolitik verfolgen als gegenüber Deutschland – oder man sollte wieder einen Teil der geldpolitischen Verantwortung von der EZB an die nationalen Zentralbanken zurückgeben.
Lesen Sie weiter, ob ein nationaler Spielraum für Finanzen die bessere Lösung sein könnte
Derzeit werden aber komplett andere Vorschläge diskutiert: supranationale Institutionen, Eurokommissare, die möglicherweise in die Haushalte hineinregieren.
Hier muss man unterscheiden zwischen der deutschen Position, die ausschließlich auf die öffentlichen Haushalte und die Staatsverschuldung zielt, und dem, was die Kommission jetzt durchgesetzt hat. Neben einem verschärften Stabilitätspakt enthält das Maßnahmenprogramm auch ein Verfahren zur Bekämpfung von makroökonomischen Ungleichgewichten: eine Feinsteuerung der nationalen Wirtschaften von Brüssel aus. Da sollen auch die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, in Griechenland sogar Gesundheits-und die Bildungspolitik und die freien Berufe reformiert werden. Was die Kommission will, ist eine umfassende Steuerung der nationalen Wirtschaften durch Brüsseler ökonomischen Sachverstand…
...den Sie als nicht so weit her beurteilen…
Nein, die Ökonomen in Brüssel sind so gut wie anderswo. Es gibt dort Monetaristen ebenso wie reformierte Keynesianer. Nur bei uns ist der Monetarismus noch die absolut herrschende Lehre. Die Frage ist vielmehr, ob eine völlige Zentralisierung aller Kompetenzen besser ist als mehr nationaler Spielraum für die Geldpolitik. Wie soll die Kommission bitte für 17 Mitgliedstaaten das nötige Wissen über die Strukturen und Funktionsweisen von Ökonomie, Verwaltung, Arbeitsbeziehungen oder des Bildungs- und Gesundheitswesens haben? Und wie will sie es schaffen, die besonders kritischen Faktoren – nämlich die Lohnentwicklung und die private Verschuldung – zu kontrollieren? Das ist ein übermenschliches Programm! Zudem sehe ich massive Demokratieprobleme, wenn man all diese hochpolitischen Entscheidungen bei einer expertokratischen Instanz in Brüssel zentralisiert. Angesichts dieser Informations-, Effizienz- und Legitimationsprobleme kann der Versuch einer zentralen Steuerung eher noch mehr Unheil anrichten.
Um dem noch eins draufzusetzen, soll das Ganze ja in einem atemberaubenden Akkordtempo durchlaufen. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy will den Ratifizierungsprozess umgehen, gleichzeitig soll der permanente Euro-Rettungsschirm ESM von 2013 auf kommendes Jahr vorgezogen werden. Ist diese Geschwindigkeit angemessen?
Angesichts des zunehmenden Drucks der Finanzmärkte wäre sie angemessen, wenn die Pläne richtig wären. Ob das, was jetzt vorgeschlagen wurde, die Kapitalmärkte beeindruckt, weiß ich nicht. Sie wären aber beeindruckt, wenn man eine EZB-Finanzierung zulassen würde.
Unterstützen Sie eine europäische Ratingagentur?
Ich verspreche mir davon nicht viel. Wenn eine europäische Ratingagentur europäische Anleihen durchweg günstiger bewerten würde als Standard&Poor‘s, würden sich die Kapitalanleger doch ihren Teil dabei denken.
Fürchten Sie, dass die Europäer derzeit auseinanderregiert werden?
Das ist nicht nur eine Gefahr, das ist längst im Gang! In Griechenland bemalen die Protestierenden Bilder von Frau Merkel mit Hakenkreuzen und in Deutschland schimpft man auf die faulen und betrügerischen Griechen. In der Bevölkerung wächst so nicht die europäische Solidarität, sondern die wechselseitige Abneigung zwischen den Gläubiger- und Schuldnerländern. Wenn wir zu europäischer Solidarität mit den Griechen aufgefordert werden, dann weckt das bei den Griechen keine Dankbarkeit. Sie denken, dass es uns primär um unsere eigenen Arbeitsplätze geht. Und so ist es doch: Wir retten den Euro, weil wir eine Bankenkrise abwenden wollen – und weil sich sonst die deutschen Exporte verteuern würden. Und wir bestehen dafür auf Sparprogrammen, die die griechische Wirtschaft ruinieren.
Was ist mit dem Argument, dass man mit der Eurorettung – und den Vertragsänderungen – die EU auch demokratischer gestalten will?
Die Eurokrise ist aus meiner Sicht das falsche Vehikel, um eine europäische Demokratie voranzutreiben. Die Währungsunion war ein Fall von ökonomischer Überintegration. Man hat Nationalwirtschaften zusammengeführt, die noch nicht zusammenpassen. Und nun versucht man, die falsche Zentralisierung der Geldpolitik zu ergänzen durch eine noch falschere Zentralisierung der Finanzpolitik und möglicherweise der Lohnpolitik. Dabei sind die Mitgliedsstaaten und ihre Bevölkerungen dafür überhaupt noch nicht reif. Man sollte sich bei der Integration Europas lieber auf Themen konzentrieren, in denen die Mitgliedsstaaten gemeinsame Interessen haben, etwa beim Klimaschutz. Wenn man das Gegenteil tut, schädigt man die Chancen der Demokratisierung.
Ganz ehrlich: Wie viele Monate geben Sie dem Euro noch?
Wenn der EZB erlaubt wird, Staatskredite zu finanzieren, dann wäre er unbegrenzt lebensfähig. Wenn dagegen etwas ökonomisch Schädliches beschlossen wird, kann es bald zu Ende sein.
Herr Scharpf, vielen Dank für das Interview.
Der Politik- und Rechtswissenschaftler Fritz W. Scharpf war bis 2003 Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung. Er lehrte an mehreren Universitäten, darunter in Paris, Stanford, Florenz und Uppsala, und ist Ehrendoktor der Berliner Humboldt-Universität. Für seine Forschung erhielt Scharpf zahlreiche Auszeichnungen, etwa das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik.
Das Interview führte Petra Sorge. Foto: MPIfG
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