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Psychiatrie - Die dubiosen Praktiken der Gutachter

Seit Gustl Mollaths Freilassung sind Zweifel an der Kompetenz psychiatrischer Gutachten aufgekommen. Völlig zurecht, denn nicht selten stehen Diagnosen auf einer wackligen Grundlage oder passen sich den Vorgaben der Justiz an. Bei den Bürgern wächst nun das Misstrauen gegenüber der Forensik

Autoreninfo

Studiert Politikwissenschaften in Hamburg und hat unter anderem für die Süddeutsche Zeitung geschrieben.

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Würde Dürrenmatt noch leben – er wäre von Gustl Mollath sicherlich begeistert. Man könnte aus seiner Geschichte fast eine Fortsetzung der „Physiker“ basteln. Ein geistig gesunder Mensch, der ein schwer wiegendes Geheimnis trägt, sitzt jahrelang im Irrenhaus ein. Nur dass Mollath nicht die Weltformel entdeckte und sich auch nicht mit der CIA, sondern nur mit der hiesigen Justiz herumschlagen musste. Ein bedeutsamer Unterschied ist zudem, dass er sich und sein Geheimnis nicht freiwillig im Zuchthaus versteckte, sondern im Gegenteil an die Öffentlichkeit wollte – und deswegen weggesperrt wurde. Nun hat Mollath die forensische Psychiatrie verlassen, allerdings nicht allein. Mit ihm ist ein altes Schreckgespenst entwichen, das derzeit munter in den Köpfen unbescholtener Bürger spukt und in den Medien umtriebig ist.

Die unbestimmte Angst, man könne aus heiterem Himmel des Wahnsinns angeklagt und unschuldig zum Zuchthausinsassen werden, hat durch die Person Mollaths an Kontur gewonnen. Jetzt rätseln Journalisten, Blogger und Kommentatoren in einschlägigen Foren teils lust-, teils angstvoll über die immer selbe Frage: Unschuldig in der Psychiatrie – wie kann das sein? Nicht nur aus Empörung und hehrem Gerechtigkeitsempfinden bekommt das Thema so viel Aufmerksamkeit, sondern nicht zuletzt aus Gründen der persönlichen Betroffenheit. Ganz subtil schwingt in jeder Pro-Mollath-Äußerung auch immer ein Fünkchen Unbehagen mit und insgeheim die Frage: „Bin ich womöglich der nächste?“ Denn: Die Kompetenz, zu entscheiden, was als psychisch gesund durchgeht und was nicht, liegt in der Hand einer überschaubaren Anzahl von Menschen. Und deren Arbeitsweise wird jetzt zurecht kritisch betrachtet.

Derzeit gerät eine Praxis ans Licht der Öffentlichkeit, die normalerweise im Verborgenen stattfindet und sich damit schwer angreifbar macht. Außer Ärzten und Kennern der Szene durchschaut kaum jemand die Arbeit der psychiatrischen Gutachter. Den Betroffenen – also Psychiatrie-Insassen oder ehemalige Patienten – wird in der Öffentlichkeit wenig Gehör und oftmals noch weniger Glauben geschenkt. Es ist nicht ganz unverständlich, wenn ihre Äußerungen als nicht zuverlässig abgetan werden, möglicherweise als zu sehr gefärbt vom persönlichen Leid.

Es fällt auch zugegebenermaßen erst einmal nicht leicht, einem als paranoid eingestuften Menschen zu glauben, dass sich Gericht und Medizin gegen ihn verschworen haben. Im Fall Mollath führte das verwinkelte System aus richterlichem Unvermögen und psychiatrischer Kurzsichtigkeit zu einer Flut an Begutachtungen, die in den seltensten Fällen auf persönlichen Gesprächen mit dem Patienten beruhten. Stattdessen wurde vielfach bei Kollegen abgeschrieben, man reproduzierte die Akten und kehrte konträre Meinungen unter den berühmten Teppich.

Gerade die bedeutsame Rolle der Gutachter wirft jedoch ganz neue Fragen auf, die im Fall Mollath nur ganz am Rande erwähnt werden, eigentlich aber ins Zentrum der Diskussion gehören. Wer entscheidet auf welcher Grundlage über die Freiheit von Menschen und kommt Gutachten nicht zu viel Gewicht zu?

Zu diesem Thema äußert sich auch die Münchner Psychiaterin Hanna Ziegert. Sie gehört zu den wenigen, die es wagen, als Insider unverblümt Kritik an der eigenen Zunft üben. Dem Publikum in der Talkshow von Reinhold Beckmann (Sendung vom 14.8.2013) gab sie zu verstehen, dass die Qualität von Gutachten oft zu wünschen übrig ließe, dass es ohnehin nur eine Handvoll Experten gebe, die mit den Gerichten und Staatsanwaltschaften zusammenarbeiten. Demgegenüber betonte sie ihre eigene Unabhängigkeit, da sie neben ihrer Gutachtertätigkeit eine kassenärztliche Praxis betreibe und nicht auf gerichtliche Aufträge angewiesen sei.

Eine präzise Antwort auf die Frage, die sich einem förmlich aufdrängt, wie man denn nun mit Sicherheit herausfinden kann, ob ein Mensch gesund ist oder krank, ob ein Täter ins Gefängnis gehört oder doch in den Maßregelvollzug, kann Frau Ziegert jedoch auch nicht liefern. Im Gegenteil: Sie selbst würde sich keiner Begutachtung unterziehen wollen, laut eigener Aussage. Wenn aber Gutachter – ob unabhängig oder nicht – an ihrer eigenen Tätigkeit zweifeln, wie kann man solch ein Verfahren dann einem Menschen zumuten, für den die Diagnose über die nächsten Monate oder Jahre seines Lebens entscheidet? Noch dazu, wenn der Wiedereinstieg in die Gesellschaft nach einem mehrjährigen Psychiatrieaufenthalt sehr heikel ist.

Bisher, so Ziegert weiter, habe der Umstand, dass Diagnosen oft auf Grundlage der Akten, manchmal ohne dem Patienten jemals begegnet zu sein, erstellt werden, niemanden so recht interessiert. Obwohl es sich um eine Praxis handelt, die sie als regelrecht „kühn“ bezeichnet. Hinzu kommt, dass sich die Justiz ab und an gerne diejenigen Experten herauspickt, die eine bestimmte, intendierte Diagnose stellen. Kann es gerecht oder auch nur ansatzweise angemessen sein, wenn das Urteil schon ex ante feststeht?

Dummerweise geraten stets nur die wenigen Fälle an die Öffentlichkeit, die besonders brisant sind. Wenn es etwa um Kindsmörder oder Sexualstraftäter geht, dann kommt es den Wenigsten in den Sinn, zu fragen, ob sich der Psychiater lange genug mit dem Verurteilten beschäftigt hat. Die anderen, weniger aufsehenerregenden Fälle spielen sich hinter fest verschlossenen Türen ab. Insofern könnte der Fall Mollath dazu beitragen, dem Thema nun endlich mediale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Immerhin.

Aber nicht nur Ziegert übt Kritik an der Gutachter-Szene. Klemens Dieckhöfer, emeritierter Professor des Universitätsklinikums Bonn, hat kürzlich eine Klage gegen die bayerische Justizministerin Beate Merk eingereicht, weil diese seine Analyse der Mollath-Gutachten als „unwissenschaftlich“ abtat. In seiner Stellungnahme prangert Dieckhöfer, der unter anderem Mitglied der Walter-von-Baeyer-Gesellschaft für Ethik in der Psychiatrie ist, die Arbeit des Bayreuther Chefarztes Klaus Leipziger sowie seines Doktorvaters Professor Pfäfflin an, die maßgeblich an Mollaths jahrelanger Unterbringung mitwirkten.

Die Gutachter-Szene sieht Dieckhöfer zwar nicht als grundsätzlich fehlgeleitet an. Dennoch bemängelt er, dass Mollaths Geisteszustand zu einseitig beurteilt wurde und dass vor Gericht lediglich die Ehefrau zu Wort kam – keine wirkliche Grundlage für eine ausgiebige Fremdanamnese. „Das Zusammenspiel zwischen Justiz und Psychiatrie verläuft nicht zufriedenstellend“, moniert er. „Es hat keinen Zweck, dass Richter oft dieselben Gutachter nehmen, die dann stromlinienförmig entscheiden“. Zudem gebe es kaum forensisch gut ausgebildete Juristen und ebenso wenig Psychiater, die in rechtlichen Belangen geschult seien.

Trotz der öffentlichen Kritik von Experten wie Ziegert und Dieckhöfer ist es eher unwahrscheinlich, dass ein offensichtlich eingerostetes System wachgerüttelt wird. Eher ist zu befürchten, dass die Debatte nach Abklingen der Empörung über den Mollath-Fall wieder einschlafen wird. Außerdem driftet die Diskussion in eine wenig produktive Richtung ab, wenn wir uns, wie so oft, zwischen Extremen bewegen: Eben noch wurden psychisch kranke Straftäter als nicht in die Gesellschaft rückführbare Monströsitäten wahrgenommen, nun wähnt man hinter den Mauern der psychiatrischer Einrichtungen reihenweise Unschuldige. Beides ist mehr als unwahrscheinlich.

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