- Das System Streeruwitz
Man nehme maulende Moralismen, aggressives Schmollen, Bigotterie und Schmerzlüsternheit – und fertig ist die Trivial-Feministin. Eine Handreichung zur Lektüre einer Geschlechterkriegsgewinnlerin
«Wie kommt die dazu, mir mein Leben vorzuschreiben?» Der empörte Ausruf einer Wiener Kulturarbeiterin, 30, tönte hell über das etwas müde Feuilleton-Echo auf den im Frühling 2004 erschienenen fünften Roman von Marlene Streeruwitz hinweg. Mit «Jessica, 30» hatte die österreichische Autorin ein Phantombild der Wesens-, Lebens- und Leidensarten weiblicher Thirtysomethings vorgelegt. Wie stets hatte Streeruwitz auch für diese Post-Girlie-Fiktion reale und mediale Ereignisse kompiliert, um diese dann – topografisch korrekt und modisch up to date – in wiedererkennbare Wiener Lokalitäten einzupassen.
Dabei situiert die Autorin, die sich vorzugsweise radikalfeministisch, establishment-kritisch und bürgerschreckend gebärdet, ihre Kunstfigur Jessica erneut in einer vertrauten Topografie: Waren es in ihrem Roman-Erstling «Verführungen» (1996) die bourgeoisen Wiener Bezirke 19 und 4, Döbling und Wieden, situierte sie ihre einsame Heldin der Erzählung «Majakowskiring» (2000) im stockbürgerlichen 8. Bezirk und ließ ihr «Partygirl» (2002) Madeline in der Wiener City sowie in der ehemaligen k. k. Kur-Kleinstadt Baden leiden – so stieß sie mit ihrer «Jessica, 30» erstmals in den neuerdings chicen 6. Bezirk am Naschmarkt vor. Die Mädels, die Streeruwitz als Freundinnen ihrer Jessica in den coolen Gastronomie-Inseln nahe dem menschelnden Marktgetriebe platziert, könnten allerdings auch in jeder Berlin-Mitte-Kaffeebar sitzen: Den Austausch von Karriereplänen und Liebesgeschichten pflegt man eher bei Caffé Latte als bei einem Döner.
Der Empörungsruf der jungen Kulturarbeiterin angesichts der Darstellung ihrer eigenen Generation in «Jessica, 30» galt also zunächst der Tatsache, dass sich hier eine Ältere (Streeruwitz ist Jahrgang 1950) in das lokale Bezugssystem der Jüngeren eingeschlichen hat und als hip verkennbare Romankulisse nutzt. Der größere Groll der jungen Wienerin bezog sich allerdings auf das – eher trübe – Portrait des feministischen Status quo der vermeintlichen «Generation Sex and the City». Denn: mit ihrer spätjugendlichen Protagonistin Jessica zeichnet Marlene Streeruwitz eine tief bürgerlich in der Wolle gefärbte Kulturdienstleisterin, die zwischen angepasstem Karrierestreben und emanzipatorischem Dissidenzwunsch, ach! zwei Seelen unter ihren Brüsten trägt. Die berufliche und erotische Faszination durch die Männermacht führt das bittersüße Mädel in einen Teufelskreis der fortgesetzten Demütigung. Diese gipfelt in einem Tête-à-Tête mit dem heimlichen Geliebten, bei welchem Anlass der aufstrebende Konservativpolitiker – der sonst laut die Familienwerte im Munde führt – die junge Frau zu einem Blowjob zwingt, während er gleichzeitig am Handy seine alkoholkranke Gattin vertröstet.
Engagement-Kitsch in Stummelsätzen
Mit den charakteristischen Schauplätzen, dem allmächtigen Vaterprinzip, den Katarakten von Demütigungen, der psychosomatisch krankenden Hauptfigur sind wir bereits mitten im «System Streeruwitz», das sich beim aufgeklärten Publikum einer ehrfürchtigen Wertschätzung als «feministisch engagiert» erfreut. Die charakteristischen Stummelsätze haben der Autorin dabei nicht minder den Touch der Radikalität verliehen als ihre ausufernde Essay-Produktion, in welcher, nachzulesen etwa in der jüngsten Vortrags-Anthologie «Gegen die tägliche Beleidigung» sowie im neuen, allseitig affirmativen Text+Kritik-Band, kulturkonservative Skeptizismen, Engagement-Kitsch und trivial-feministische Positionen eine unreine Mischung eingehen. Da die Autorin ihre aggressiv schmollende Agenda der Anklage auch öffentlichkeitswirksam einzusetzen weiß, lädt man sie gerne ein, Podiumsdiskussionen ein wenig aufzupfeffern beziehungsweise die in Serie hergestellten Ableger ihrer Großessays in den Wochenendbeilagen bürgerlicher Zeitungen zu publizieren.
In der Tat ist es dieser Autorin mit ihrer gezielten Lancierung der «Marke Streeruwitz» auf dem Literaturmarkt durch Werk, Wirkung und Werbung gelungen, ihre maulenden Moralismen in einer unüberblickbaren Anzahl von Interviews unterzubringen, sich dabei jedoch stets einen widerspruchsfreien Raum zu sichern. Denn wer mag schon etwas einwenden gegen die Buch für Buch für Buch vorgeführten Einzelfallgeschichten um eine je einsame, je leidende Frau, die über kurz oder lang an der Herrenwelt seelisch und körperlich zerbricht? Gegen das kasuistische Kalkül auf Betroffenheit ist nun mal kein rationales Argument gewachsen – zumal dieses von der Autorin prompt mit der Argumentationskeule der phallozentrischen Abstraktion zurückgeknüppelt würde.
Im Literarischen
tragen narrative Kunstgriffe wie die Erlebte Rede oder der Innere
Monolog dazu bei, die Grenzen zwischen den Ansichten der fiktiven
Figur und deren realer Autorin zu verwischen. Die Lektüre der
Essays lässt indes ermessen, wie viel gemeines Meinen von der
Schöpferin in ihre Figuren fließt. Im moralischen Schutzraum eines
absolut ironiefreien Pathos geht die Autorin bei der Verfertigung
ihrer Bücher nach einem Baukastensystem vor: Wie Module kombiniert
sie die Protagonistinnen, Szenarien und Schmerz-Syndrome für
jedes Werkstück neu.
Nobel-Heldinnen nie ohne Nobel-Namen
Nehmen wir uns etwa Marlene Streeruwitz’ jüngstes literarisches Opus vor, das anspruchsvoll mit «Novelle» untertitelte Prosastück «Morire in levitate». In dem schmalen Büchlein begegnen wir derart vielem aus den Vorgängerwerken Bekannten, dass uns die Heldin, eine auf die sechzig zualternde Ex-Sängerin, und deren an den Gestaden des Neusiedler-Sees Gassi geführtes gebrochenes Herz wie alte Verwandte anmuten.
Das beginnt bei dem ausgesucht (groß-)bürgerlichen Namen Geraldine, welcher sich fugenlos in den Nobelnamenkatalog der früheren Protagonistinnen einreiht: von dem gegensätzlichen Freundinnen-Duo Helene und Sophie in den «Verführungen» über die Journalistin Leonore in der Erzählung «Majakowskiring», das von Edgar Allan Poe inspirierte «Partygirl» Madeline bis hin zu der auch als «Margaux» oder «Greterl» figurierenden Margarethe. Diese bricht im Roman «Nachwelt» (1999) zu einer kalifornischen Expedition auf den Spuren der historischen Anna Mahler – Tochter Almas und Gustav Mahlers – auf.
Die Illustrierten-Namen Lisa («Lisa’s Liebe», 1997) und Jessica reserviert die Autorin für jene Papierfiguren, welche programmatisch an der Grenze zum Trivialen siedeln. Kehren wir zu Geraldine und «Morire in levitate» zurück. Schon der Aufbau dieser «Novelle» zwingt zum direkten Vergleich mit dem Vorgängerwerk «Jessica, 30». Die Ähnlichkeiten des als Schwanengesang angelegten Prosastücks mit jenem Mode-Polit-Sex-Roman sind dabei ebenso aufschlussreich für das «System Streeruwitz» wie die Differenzen.
Beide Male wird eine alleingängerische Frau in Bewegung vorgeführt. Wird der «Jessica»-Roman von einem über 91 Seiten hinweg monologisierten Dauerlauf des Fräuleins eröffnet (es gilt, die Kalorien der letzten Heißhunger-Attacke zu verbrennen), so widmet sich die Protagonistin Geraldine 96 Seiten hindurch dem Marschieren, um so – einer bewährten literarischen Tradition gemäß – ihren Gedankenfluss in Gang zu halten.
Wie sämtliche Streeruwitz-Frauen steuert sie dabei auf einen nebulosen Fluchtpunkt zu. Die Trasse ist diesmal nicht die bei urbanen Joggern beliebte Wiener Prater-Hauptallee, sondern die weite Schilf-Einsamkeit des Neusiedler-Sees, will meinen: die Melancholie des Ostens, der Caspar-David-Friedrich-Horizont, die fremden Weiten des Steppensees, der auch «Pannonisches Meer» genannt wird. Wo Streeruwitz’ elegischer Spaziergängerin Geraldine auf ihrem buchstäblichen «Weg ins Freie» à la Arthur Schnitzler ein ebenso buchstäblicher kalter Wind entgegenbläst, entspricht dies in unmissverständlicher Deutlichkeit ihren fortgeschrittenen Lebensjahren und Lebensmiseren.
Unterm Stoffmantel bricht das Herz entzwei
Die Buchstäblichkeit der symbolischen Pathosbilder erklimmt in Streeruwitz’ jüngstem Buch mitunter realsatirische Ausmaße. Man lese etwa den Beginn: «Herzen brachen. Sie steckte ihre Hände tiefer in die Manteltaschen. Herzen konnten brechen. Sie hätte die Daunenjacke anziehen sollen. Der Stoffmantel nicht warm genug. Ihres. Ihr Herz. Das würde diese dünne Linie entlang. Diese Linie. Links. Links vom Brustbein. Diesen scharfen Schmerz entlang. Innen. Diesen Schmerz entlang. Der aus der Erinnerung aufstieg.»
Ein solcher Einstieg entspricht nicht nur dem Niveau einer Anfänger-Lektion in Creative Writing («Mitten in die Geschichte springen!», «Wechsel von symbolisch-gedanklichen und konkreten Situationsanzeigern!»), sondern ordnet das sprichwörtlich «gebrochene Herz» in grotesk direkter Weise dem physischen Leidenssyndrom der Herz- bzw. Lungenkrise zu. Dass die ausgebildete Opernsängerin pathologisch an Atemnot leidet, überrascht unter so buchstäblichen Umständen ebenso wenig wie der Umstand, dass Geraldine als Sängerin, als Patientin, als Liebhaberin und als alternde Frau längst stumm geworden ist: «Keine Paßwörter mehr» gewähren ihr Zutritt zur geschlossenen Erfolgsgesellschaft, keine «Opernschreie» führen sie mehr einem jubelnden Publikum zu, und auch ihr Arztgatte, dem sie stets eher als «Diagnose» denn als vollinhaltliche Frauensperson von Bedeutung war, ist längst unter der Erde. Dort, wohin es die Heldin – wie sämtliche ihrer Leidensschwestern – tendenziell ebenfalls zieht.
Der Todeswunsch, die Selbstmordphantasie, das schmerzlüsterne Auskosten möglicher Todesarten ist eines der Hauptmodule im literarischen Baukastensystem des «Systems Streeruwitz» und entspricht auf einer existenziellen Ebene der wiederkehrenden geografischen Fluchtphantasie. Die insgesamt fünf Todespassagen in «Morire in levitate» sind – in fast wörtlicher Übereinstimmung – aus früheren Büchern bekannt und umfassen diesmal das Spektrum von Schlafmittel-Missbrauch, Erfrieren im Schnee (einer Psychiatrie-Patientin, die über zwei Jahre hinweg Sedativa in ihrer Vagina hortete) bis hin zur Selbsttötung eines jungen Mädchens vor dem Zug: «Den Körper zerschneiden lassen. Schleifen. Zertrümmern. Zermörsern. So glatt den Kopf ab.»
Dass es aber nie zum Äußersten kommt, dass es die Heldinnen bei Signal-Suizidversuchen bewenden lassen und es dafür aber umso brachialer die anderen Frauen trifft, führt direkt ins Zentrum der Bigotterie von Streeruwitz’ vorgeblich feministischem Themenkatalog: Es ist der schmerzlüsterne Voyeurismus und damit genau jene kannibalistische Augenweide, welche die Autorin in ihren Poetik-Vorlesungen als «Herrenmoral» angeprangert hat, die angeblich auch den abhängigen Frauen von früh an eingeprägt wird: «So werden wir», verlautbarte Streeruwitz in ihren Tübinger Vorlesungen, «selbst zu Voyeur-Voyeuren.»
Ein bisschen Pornografie gefällig?Was die Autorin wortreich an den gesellschaftlichen Institutionen des Theaters und der Oper (insbesondere in «Morire» erscheint die Oper als konzertierte Stimulation für erigierende Nazi-Schwellkörper), letztlich auch an den visuellen Medien und der Pornografie kritisiert, das nützt sie in ihrer eigenen Textproduktion – zur Reizsteigerung.
So lässt Streeruwitz in der Erzählung «Majakowskiring» – immer unter dem Deckmantel feministischer Aufklärung – ihre Protagonistin Leonore in der Berliner Gästewohnung des ehemaligen DDR-Schriftstellerverbandes über dort vollzogene Orgien phantasieren: «Was war hier geschehen. Was war in diesem Zimmer vor sich gegangen. Die Delegationen. Wenn die Delegationen dann betrunken die Frauen über die Lehnen der Polstersessel gebeugt raten hatten lassen, wessen Schwanz in sie hineingesteckt. Und den nächsten Wodka, wenn sie es nicht erraten und am Ende die Flasche in den Hintern bekommen.»
Diese Leonore steht nicht an, das Prinzip totalitärer Verfügung über Frauenfleisch auf die erotischen Ersterfahrungen ihrer bürgerlich beschützten Jugend anzuwenden: «Dieses Mitgehenmüssen nach dem Tanzstundenkränzchen, mit dem, der gefragt.» Das muss ebenso als blanker Hohn auf die realsozialistischen Opfer erscheinen wie die in jüngerer Zeit häufig auftauchenden Anspielungen an die Judenvernichtung. Zumal die erotische Faszination der Macht nicht nur in «Majakowskiring» freimütig zugestanden wird: «Aber warum rutschen alle DDR-Phantasien immer ins Sexuelle.» Wo der leibliche Vater mit einem politischen Diktator gleichgesetzt wird, gehen unter dem Signum der Viktimisierung sämtliche Maßstäbe und historische Koordinaten den Bach runter.
Peep-Show mit Untergeherinnen
Zugegeben: Marlene Streeruwitz lässt sich nicht zur direkten Gleichsetzung aktueller weiblicher Todesarten mit den Opfern der Shoah hinreißen. Vielmehr wählt sie neuerdings den Umweg über Täter-Töchter (in «Partygirl») oder Nazi-Enkelinnen (in «Morire in levitate»), um durch das ererbte oder «eingeprägte» patriarchalisch-totalitäre Gewaltprinzip den Hang zur Selbstzerstörung zu legitimieren. All diese Frauenkörper, die nach Tabletten-Überdosen in Lachen von Erbrochenem erwachen (siehe «Verführungen» oder «Majakowskiring»), die sehenden Auges in Vergewaltigungen schlittern (etwa in «Partygirl», «Lisa’s Liebe» oder «Majakowskiring»); all diese Frauenkörper, welche die Selbstzerstörung durch Hungern oder Binge Eating betreiben (in «Partygirl», «Nachwelt» oder «Jessica, 30»); all die Frauenkörper, die sich mit eigener Hand und Messerklingen verletzen («Partygirl», «Majakowskiring»): all diese Frauenkörper dienen nur zum Peeping auf Untergeherinnen, über welche die unbeschadet schmökernde Leserin nach der Devise «Schiffbruch mit Zuschauer» triumphiert.
So häufig Marlene Streeruwitz betont, dass die Zuschauergesellschaft eine «Täterge-meinschaft» aus Gewalt-Akteuren, medialen Agenten und deren weiblichen Komplizinnen bilde, von der Opernsängerin bis zum Nacktmodell, von der Erfolgs-Tussi bis zum devoten Heimchen am Herd, so wenig verschmäht es die Autorin, ihre eigenen Texte mit einschlägigen Szenen zu würzen.
Ein Schelm, wer dialektisch Böses dabei denkt, wenn zu bemerken ist, dass die Bücher der Marlene Streeruwitz mit ihren Leid-Protokollen, Verletzungschroniken, Demütigungs-Checklisten und Selbstverletzungs-Szenen zu, sagen wir: 30 Prozent auf die Schaulust des Publikums spekulieren. Kombiniert mit 30 Prozent Einladung zur Selbstidentifikation mit den dargestellten Opferrollen und Minderwertigkeits-komplexen sowie einem letzten Drittel aus detailgenauen Schilderungen von konkreten Kulissen, Lokalen und Requisiten (etwa der Mode-Labels oder dem Stuhlgang der Heldinnen), ergeben diese drei Komponenten nichts anderes als dies: eine feministisch und aufklärerisch verbrämte Spezies von Trivialliteratur für das weibliche akademische Stadtproletariat.
Hinzu kommt, dass die Autorin mit jedem weiteren Buch systematisch eine neue Quell- und Zielgruppe von gekränkten Frauen anspricht. In den Romanen «Verführungen» und «Jessica, 30» sind es die Dreißigerinnen; in «Lisa’s Liebe» und «Nachwelt» kommen die knapp Vierzigjährigen dran; mit der Leonore aus «Majakowskiring» tritt eine 52-Jährige auf den Plan und in «Morire in levitate» eine Gerade-noch-nicht-Sechzigerin.
Wenn die klassische Lateinerin zuschlägt
Der Selbstmitleid- und Therapie-Gesellschaft richtet Marlene Streeruwitz eine bunte Tupperparty an, in welcher jedes Leidtöpfchen sein Syndromdeckelchen findet. Wo es in allen diesen Körpern ständig «zieht» und «sticht» und «schwindelt» und «bricht», fehlt zwar jeweils das genaue Wort einer «Diagnose» (eine Abstraktion übrigens, die laut Streeruwitz genuin maskulin «kolonisierend» ist), auf der Ebene der symbolischen Buchstäblichkeit indes bleibt kein Ausdruckswunsch offen. In den Worten aus «Morire in levitate»: «Dann. Nachdem sich die Geschichte an diesen Personen ausgetobt hatte. Dann ließ die Geschichte die Menschen los. Schlug Wunden und überließ einen dann der Zeit. Und die Zeit. Die zerstörte die Wunden. Zerstörte die Wunden in Narben. Und das war dann das Leben gewesen. Das Zusammenziehen des klaffenden Fleisches in schmale weiße Streifen. Blutlose schmale Bänder. Blutlose schmale gefühllose Bänder. Schmerzunempfindlich. Narben gehörten nicht zu einem. Narben gehörten nicht mehr ganz zu einem. Narben waren schon ein erstes Gestorbenes an einem. Diese nichts fühlenden Wülste. Eingewachsene Barometer. Der Vater immer voraussagen hatte können, ob es regnen würde. In 2 Tagen.»
Wenn sich der kalte Tag während Geraldines Novellen-Gang gegen Ende hin dem Abend zu neigt und die getriebene Spaziergängerin letztlich «abwärts. Zum Wasser» gelangt, benötigt die bildungsbegüterte Leserin kein Barometer, um Undine und Ophelia aufsteigen zu sehen. Numinos verhaucht der Schwanengesang dieser angeblichen Novelle (die sich in keinem kompositorischen Deut von der Erzählung «Majakowskiring» oder der Trivialsatire «Lisa’s Liebe» unterscheidet) mit dem Satz: «Die Wasserfläche dunkel.»
So buchstäblich hier das Todesmotiv in das – dem Weiblichen zugeordnete – Element des Wassers eingeschrieben ist, so buchstäblich schief ist die anspruchsvoll lateinisch gehaltene Titelgebung der Novelle. Streeruwitz legt mit «Morire in levitate» den stoischen Spruch vom «Sterben in Leichtigkeit» nahe; Verb und Substantiv ergeben allerdings, streng genommen, einen anderen Sinn. «Facile mori» würde der Slogan wohl korrekt in klassischem Latein lauten. «Morire in levitate» hingegen heißt nichts anderes als: «Stirb leichtsinnig.»
Christiane Zintzen, Literaturkritikerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik, lebt in Wien.
Marlene Streeruwitz
Morire in levitate. Novelle
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2004. 96 S., 18 €
Marlene Streeruwitz
Gegen die tägliche Beleidigung. Vorlesungen
S.
Fischer, Frankfurt a. M. 2004. 160 S., 18,90 €
Heinz Ludwig Arnold (Hg.)
Marlene Streeruwitz. Text+Kritik, Band 164
Edition Text+Kritik, Göttingen 2004. 92 S., 14 €
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