Die Familie. Ein Roman - Das Schweigen der Väter

Familienromane II: Die neuen jüdischen Clan-Chroniken erzählen vom Verstummen und verbergen sich hinter Witzeln oder Palavern

«Familienbande»: ein hinterlistig vielsinniges Wort. Im Plural gebraucht, stehen sie für das Bündel des Beziehungsgeflechts innerhalb eines Clans. Wie schnell sich diese Bande auch als Fesseln erweisen können, verrät das moderne Wort «Bindung»: gut, wo sie hält und das Individuum trägt; schlecht, wo sie es in seiner Beweglichkeit hindert. Damit wird die Familie auch zur Bande, die – wie jede Verschwörer- oder Räuberbande – den Zusammenhalt durch einen Werte- und Regelkodex sicherstellt. Als zentrales Bindungsmittel fungieren dabei Familienmythen: immer wieder erzählte Stories und Anek­doten, auf die man sich am Familientisch gerne beruft, um die Gemeinsamkeit zu bündeln. Mindestens ebenso zusammenkettend ist allerdings das Schweigen. Davon erzählt eine neue Welle jüdischer Familienliteratur. Diese Bücher zeigen: Das Nichtwissen um die Vergangenheit kann à la longue ebenso bindend oder fesselnd wirken wie der palavernde Konsens.

Man kann es auf die «Renaissance des Erzählens» schieben oder auf die expandierende Gedenkindustrie, wenn deutsche Verlage nun gleich reihenweise jüdische Familienromane vorstellen, die aus der Perspektive der zweiten oder dritten Generation das beschwiegene Unsägliche der Shoah (zurück-)erobern – durch Sprache. Gemeinsam ist diesen Romanen, dass sie deutsche und österreichische Familiengeschichten erzählen: Das gilt für Gila Lustigers Erkundung «So sind wir» ebenso wie für Peter Singers Spurensuche «Mein Großvater», für Eva Menasses Clan-Saga «Vienna» wie für Zvi Jagendorfs Episoden um «Die fabelhaften Strudelbakers» und für Jakob Hessings Generationen-Tableau «Mir soll’s geschehen».

Gemeinsam ist diesen Familienchroniken darüber hinaus, dass ihre Ursprünge sämtlich im Ostjudentum wurzeln. Die ausdrücklich aus dem Hier und Heute der Autoren formulierte Frage nach der Möglichkeit und den Bedingungen «jüdischer Identität» wird – schon rein geografisch – näher am Abgrund des Holocaust gestellt als in der amerikanisch-jüdischen Literatur, welche eine eigene Erzähl­tradition begründet hat (man denke an Isaac Bashevis Singer, Saul Bellow, Philip Roth oder Woody Allen). Dass aus Sicht der transatlantischen jüdischen Dias­pora die Frage nach Natur und Kultur des «Jude-Seins» anders ausfällt – und sich aus der Distanz auch gewitzter formu­lieren lässt –, als dies im Lebenskontext der «Täterländer» möglich ist, liegt auf der Hand. Illustrieren kann man das am Beispiel der Storys des jüngsten der hier vorgestell­ten Autoren, des 1973 in Riga geborenen David Bezmozgis.


«So jung und schon Jüdin – wie schade»

Unter dem Titel «Natascha» fügt Bezmozgis die Erlebnisse der aus Lettland nach Toronto immigrierten Familie teils zu bizarren Szenen, teils zu hübsch arrangierten Schaubildern. Die Familie ist in einem russisch-jüdischen bzw. italienisch-katholischen Einwanderer-Ghetto gelandet: Dies ist die Grenze, auf die der Wunsch nach Einbindung in die kanadische Gesellschaft stößt. So gesehen unterscheiden sich Bezmozgis’ Schnurren über des Vaters rührend hoffnungsfrohen Versuch, sich als Masseur selbständig zu machen und so am gesellschaftlichen Aufstieg zu basteln, wenig von den Little-Italy- oder Ostjudengeschichten, die man aus der New Yorker Stadtlite­ratur kennt.

Der spät geborene Erzähler David Bezmozgis erfährt seine «jüdische Identität» im Kontrast zur kanadischen Umwelt: Das «Jüdische» seiner Familie beruht auf überlieferten Riten und Sitten und definiert sich nicht im Bezug auf die Shoah. Das Wissen über die historischen Verbrechen sitzt gleichwohl in den Hinterköpfen. Das beweist die Bemerkung einer Lehrerin – Bezmozgis zitiert sie als bösen Witz –, welche die Kinder nach deren Nationalitäten fragt: «‹Jüdin›, sagte Dima. ‹Wie schade›, sagte die Lehrerin. ‹So jung und schon Jüdin.›»

Unbeschwert von mitteleuropäischer Geschichts-Altlast begreift der sechsjährige David die Einwanderung und das jüdische Anders-Sein seiner Familie als persönliche Herausforderung zur Assimilierung. Als Erster wird er die englische Sprache erlernen und den Familientisch mit Coke und Pizza bereichern ­– wäre da nicht die jüdische Schule, in der er lernen soll, «was es heißt, Jude zu sein». Nicht die folkloristisch absolvierten Chanukka- oder Purim-Feste sind es, die dem Heranwachsenden das «Jude-Bewusst-Sein» einimpfen; es ist vielmehr eine Strafe, die der Rabbi dem rauflustigen Schüler wegen einer Ran­gelei am Holocaust-Gedenktag verpasst. Ob er ein Nazi sei, dass er sich just am Trauertag so aufführe? Nein, so der Schüler kleinlaut, er sei doch Jude. Er möge dies, befiehlt der Rabbi, bitteschön, so laut sagen, «dass meine Onkel in Treblinka dich hören können!» Aus Angst vor weiteren Nötigungen schreit der Junge seinem Lehrer ein verzweifeltes «Ich bin Jude!» ins Gesicht. Da lässt der Rabbi von ihm ab und sagt: «Jetzt begreifst du vielleicht, was es heißt, Jude zu sein.»


Offenbarungseifer und Bekenntniszwang

Von einer ähnlichen Beschämungsszene berichtet die 1963 in Frankfurt geborene Gila Lustiger. Hier ist es ein penibel antifaschistischer Lehrer, der vor versammelter Klasse seiner Schülerin ein Bekenntnis abringt. Die Frage, die vom Katheder aus mit den Schreckensnamen «Auschwitz, Majdanek, Theresienstadt, Treblinka» ergeht, löst in dem Mädchen Verstörung aus: «Ja, antwortete ich, mein Vater sei dort gewesen.»

Es ist die Aus- und Bloßstellung wider Willen, in welche die Kinder der Überlebenden von einer politisch korrekten Gesellschaft immer wieder getrieben werden. Die Hefe einer diffus gedachten Kollektivschuld ergibt – im Multipack mit ideologischer Selbstgerechtigkeit und sentimentaler «Opfer»-Empathie – eine moderne Form der archaischen Jahrmarkt-Schaulust: Nun sind die Schau-Objekte eben nicht mehr Kälber mit zwei Köpfen, sondern die «Zeitzeugen» oder «Opfer» des Nazi-Regimes. «Todtraurige jüdische Augen», ätzt Gila Lustigers literarisches Alter Ego, «stehen in Deutschland hoch im Kurs. Die Deutschen sind regelrecht in todtraurige jüdische Augen vernarrt.»

Das Bekenntnis «Ich bin Jude» prägt – im Offenbarungseifer wie im Konfessionszwang – sämtliche aktu­ellen Familienbücher. Das, was die Halacha die Abkunft von einer jüdischen Mutter nennt und die Nürnberger Gesetze als «Rasse» brandmarkten, wird allerdings dort hoch prekär, wo es sich in den «Täterländern» Deutschland und Österreich zwischen Geschichte und Gegenwart, Kultur und «Natur» behaupten muss. Oder behaupten will – wie es die 1949 in Ostberlin geborene Schriftstelle­rin Barbara Honigmann in ihrem peinigenden Selbstfindungsbuch «Damals, dann und danach» 1999 vorgeführt hat. Dass Honigmanns persönliche Rückeroberung des «Jüdisch-Seins» offenbar notwendig war, um auch im Schreiben Souveränität zu erlangen, zeigt ihr 2004 erschienenes Buch «Ein Kapitel aus meinem Leben», ein neugieriges Portrait ihrer Mutter vor dem Hintergrund von Shoah, Emigration und dem verdeckt antisemitischen DDR-Realsozialismus (siehe „Literaturen” 11/2004).

Geradezu umgekehrt verhält es sich mit Gila Lusti­ger, der Tochter des jüdischen Widerstandsforschers Arno Lustiger. Mit dem Roman «Die Bestandsaufnahme» hatte sie ein fulminantes Debüt vorgelegt; nun präsentiert sie ein problematisches Zweitwerk. Angelegt als eine Sammlung von Geschichten aus dem «Dritten Reich», führte «Die Be­standsaufnahme» in einer Reihe von Episoden die Logik des Handelns von Tätern, Opfern und «Opfertätern» vor. Ob nachbarschaftliche Denunziation, «Arisierung» jüdischer Unternehmen oder gar die Hinrichtung von Deportierten: in je eigenem Ton offenbarte Gila Lustiger die Banalität des Bösen in den konkreten Situationen.

Der Pakt des Schweigens

Weit verzwickter verhält es sich mit dem zweiten Buch. «So sind wir. Ein Familienroman» führt mitten hinein in ein Minenfeld kontrovers debattierter Themen: Was heißt es, Deutsche und Jüdin zu sein? Was heißt es, ein «Opferkind» zu sein, konkret: die Tochter eines mit knapper Not der Vernichtung entronnenen Vaters? Was vermag eine schreibende Tochter einem publizistisch präsenten Vater zu entgegnen? Indem sich Gila Lustiger diesen Fragen stellt, Selbstbeschuldigungen dreht und Vorwürfe wendet, zeigt sie einigen Mut zur Selbstentblößung, hinterlässt dabei allerdings ein literarisches Schlachtfeld. Die wichtigen Szenen dieses Romans drohen in einem Übermaß an Palaver und koketter Rhetorik unterzugehen.

Die beiden Teile, in die sich der Roman aufspaltet, können als geglückte Illustration zu jenen Erfahrungen gelten, welche die israelische Psychoanalytikerin Ilany Kogan mit Patienten aus der Generation der «Opferkinder» gemacht hat. In ihrem Buch «Der stumme Schrei der Kinder» belegt die Ärztin Kogan anhand von Fallgeschich­ten, in welch hohem Maße die «Überlebenden» ihre erlittenen Traumata an die Kinder «weitergeben». Wenn, wie in nahezu allen Romanfamilien, ein «Pakt des Schweigens» über die Vor-Geschichte der Eltern herrscht, wie die Psychoanalytikerin Hillel Klein meint, dann können die «weitergereichten» Ängste, Schamgefühle und Aggressionen zerstörerische Wirkungen auf die Nachgeborenen haben – zumal es ja keine auffindbaren Ursachen im Leben der Kinder gibt. Ein eigenständiges Leben der Opfer­kinder ist überhaupt nur möglich, wenn es ihnen gelingt, sich von der Geschichte ihrer Eltern zu trennen, die man ihnen auferlegt hat.


Familie, aus Vater- und aus Tochter-Sicht

Gila Lustigers zweiteiliger Familienroman bestätigt die therapeutische Regel Ilany Kogans geradezu mustergültig. Gilt der erste – geglückte – Teil der Rekonstruktion von Erinnerungsbrocken und dem Anrennen gegen die väter­liche Schweige-Mauer, demonstriert der zweite mit einem 120 Seiten langen Partygespräch, wie das Alter Ego der Autorin zu einer eigenen Erzählung der Familiengeschichte findet. Die ketzerischen Gedanken, die sie dabei über das «Jude-Spielen» oder über «Betroffenheitsliteratur» äußert, sind, psychologisch betrachtet, ebenso wichtig wie das verzeihende Bekenntnis zum Vater und zu dessen emotionalem Versagen. Was sich in der Zwiesprache mit der frivolen Französin Dominique als glaubwürdige Identitätsfindung darstellt, ist – literarisch betrachtet – allerdings nur aufgebauschtes Gerede.

Das erdrückende Schweigen des Vaters daheim steht in absolutem Kontrast zur unermüdlichen Äußerungslust des Publizisten Arno Lustiger. 1924 nahe von Kattowitz in eine einflussreiche jüdische Familie geboren, hat Lustiger seit seinem 16. Lebensjahr eine beispiellose Odyssee durch deutsche Arbeits- und Konzentrationslager um Haaresbreite überlebt. Die Erlebnisse in den Lagern
Auschwitz-Blechhammer, Groß-Rosen, Buchenwald und Langenstein hat Arno Lustiger zwar beiläufig festgehalten, viel wichtiger war es dem Überlebenden allerdings, die politische Mission, die Facetten des jüdischen Widerstandes publik zu machen. In seinem Buch «Sing mit Schmerz und Zorn» (2004) hat er auch autobiografische Notizen zugänglich gemacht. Die knappen Daten, welche Arno Lustiger zu seiner in Frankfurt begründeten Kleinfamilie abgibt, stehen im aufschlussreichen Widerspruch zu den literarisierten Wahrnehmungen seiner Tochter. Die Bemerkungen über das bewegte Leben in «unserer Wohnung am Westendplatz», über seine Frau Drora als «beliebte Gast­geberin der rebellischen Jugend», letztlich über die Geburten, Ausbildungsgänge und günstigen Karriere-Starts seiner Töchter – Gila, der Schriftstellerin, und Rina, der Malerin – demonstrieren familiäre Erfolgsgeschichte.

Ein knappes Jahr nach Erscheinen des Vaterbuches hat nun die Tochter das Wort. Sie widerspricht dessen Version fundamental: Das Innenleben dieser äußerlich so produktiven Familie stellt sie als zutiefst dysfunktional dar. Zentrum und Ursache der Misere bleibt dabei stets das Schweigen des Vaters, auf das die Mutter mit Sprech-Sperrfeuern und Putzwut reagiert und Schwester Rina mit Diven-Allüren.


Die «jüdische Mamme» als Leitfigur

Das Schweigen des Vaters – und mit ihm das der Familie – über das «schwarze Loch» des Holocaust steht auch im Zentrum von zwei weiteren Neuerscheinungen. In «Vienna» liefert Eva Menasse ein sprachlich sprühendes Portrait ihrer fiktiv verformten Familie zu Wien. Einen nicht minder umfang-, charakter- und wortreichen Clan lernen wir in Jakob Hessings Saga «Mir soll’s geschehen» an den Schauplätzen Berlin, Ramstein und Israel kennen. Da Hessing – heute Lehrer für deutsche Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem – 1944 in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, wird man auch in seinem Buch manche ins Fiktive gewendete Fakten vermuten dürfen. Darauf deutet schon der Umstand, dass der Held Jonas das Geburtsjahr mit dem Autor teilt.

Hessing spannt einen Episodenbogen, der enzyklopädisch die «jüdischen Themen» abhandelt – vom Untergrundleben, von Flucht und Emigration über die Zwangsgemeinschaft «Familie» im fremden Land bis hin zu Jonas’ Ausbruch aus dem beengenden Clan. Im isra­elischen Kibbuz wird aus dem bis dahin schwachbrüstigen Jungen ein ganzer Mann – Soldat im Sechs-Tage-Krieg, Historiker und fünffacher Vater. Debatten um Assimilierung, Zionismus und Orthodoxie bilden die Lektionen dieses reichlich konstruierten Bildungsromans, dessen Ziel sich in der Versöhnung Jonas’ mit seinem Vater erfüllt.

So redundant Hessings 470-Seiten-Epos auch daherkommt (jedes Faktum wird mehrmals erzählt, als schrie­be der Autor einen Fortsetzungsroman für Gedächtnislose), so anspruchslos das sprachliche Niveau ist, auf dem die Erzählung voranstolpert, so entschieden ist doch der grundlegende Befund: die Krise des Kindes angesichts des von seiner «Mamme» und Schwester völlig absorbierten Vaters. Was aber wäre das spezifisch «Jüdische» daran, dass der Sohn Jonas an seinem abwesenden Vater leidet? Dass der Vater nicht nur Opfer von Krieg und Entwurzelung ist, sondern auch Knecht der sprichwörtlich verzehrenden «jüdischen Mamme»? Dass der verlassene Sohn so um die Bildung einer jüdischen Identität betrogen wurde? Oder: dass dieser Sohn erst durch eine bewusste Selbstneugeburt im fernen Israel auf den Vater zugehen, ja, diesen sogar ins Gelobte Land zu sich heimholen kann? Wären da nicht die jiddischen Sprachblüten und die pittoresken Typen, dann wäre Hessings schwerfälliges Opus nichts anderes als ein klassischer Vater-Sohn-Roman, der zwischen Grammatneusiedel und Ulan Bator so ziemlich überall spielen könnte.


Hang zum manischen Mythologisieren

Dass die Handlung ganz gewiss nicht überall, sondern akkurat nur in der Wienerstadt spielen kann, bekräftigt bereits der Titel von Eva Menasses amüsantem Kolportage-Roman «Vienna». Mit der englischen Bezeichnung für den Sprach-Spielplatz ihres Roman-Erstlings will die F.A.Z.-Journalistin auf die prägende Rolle Großbritanniens in der Biografie ihres Vaters hinweisen – 1938 konnten sich der Achtjährige und sein Bruder mit einem der letzten Kindertransporte nach England retten, wo seine ungewöhnliche Fußball-Begabung entdeckt wurde, die ihn nach dem Krieg zum Star beim Wiener Fußball-Club «Vienna» machte.

Dieser Vater heißt Hans Menasse und ist ebenso real wie Gila Lustigers Vater Arno. Wahr ist auch, dass der Großvater ein Jude und die Großmutter eine Sudetendeutsche gewesen sind. Die Figur des Bruders lässt unschwer den wortgewandten Essayisten und Romancier Robert Menasse erkennen, welcher im Roman allerdings als großmäuliger Historiker und Hysteriker vorgestellt wird – und damit fließen Gefundenes und Erfundenes bereits saftig zusammen.

Mit Lust verwirrt Eva Menasse Fakten und Fiktion und komponiert einen Clan kurioser Chargen. Aus guten wie aus schlechten Tagen – also aus der österreichischen Geschichte seit 1930 – spinnen die Familienmitglieder Anek­dotenfäden, die sich rasch zu Familienmythen zusam­men­drehen: «Em-Em» nennt die Sippe die eigene Lust am Schwadronieren: «manisches Mythologisieren».


Witzableiter gegen das Verdrängte

Die Kritik hat die Ich-Perspektive bemängelt, in der Eva Menasse ohne jede weitere Selbstauskunft von aufgedrehten «Pointenschleudern» und egozentrischen Selbstdarstellern erzählt. Vom possierlich jiddischen Großvater über den Vater, der um österreichische Normalität ringt, bis hin zu den marxistisch-jüdischen Anwandlungen des älteren Bruders: im gelungenen Bonmot und im schlagfertigen Rededuell wird vieles ge- und zerredet, nie jedoch Klartext über Ereignisse oder Gefühle gesprochen. Der pausenlos rennende Schmäh und der Austausch von «Sprach­wuchteln» sichern den brüchigen Familienkonsens und fungieren als Witzableiter gegen die eventuelle Wiederkehr des Verdrängten.

Der Rest bleibt Schweigen – und der Rest ist doch die Hauptsache, also der Krieg, die Deportation der Urgroßmutter nach Theresienstadt, die als «Überschwangs­arbeit» verwitzelte Zwangsarbeit des Großvaters und die durch das Tragen der «reichsdeutschen Hundemarke» erlittenen Demütigungen. Das gilt auch für die beiden gescheiterten Ehen des Vaters. Dort, wo das wunschlose Unglück der Mutter zur Sprache kommt, verliert der Roman seinen flotten Ton und kippt in weibliche Pathosformeln. Dieser kurze Moment, in dem Eva Menasse einmal von sich selbst als «dem Kind» spricht, gleicht exakt jenen Szenen der stumm-sturen Isolation, von welchen Gila Lustiger im Duktus authentischer Erinnerung berichtet.


Faselhafte Strudelbakers

Die ständigen Absencen und Ausweichmanöver der Väter führen in beiden Fällen zur Verachtung der weiblichen Familienmitglieder: Die Feindseligkeit, mit der Lustiger von der aseptischen Mutter und der affektierten Schwester spricht, ist dieselbe wie die Menasses. Aller gelegentlich aufglimmenden Empathie zum Trotz entlässt Eva Menasse die witzlose Mutter ebenso schnell wieder aus dem Roman wie die als volkstanzendes Barbie-Püppchen karikierte Schwester.

Wo die Geschichte in unzählige «G’schichterln» zerfällt, gerät auch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität zur Groteske à la Woody Allen. Eva Menasse exekutiert sie vor allem an der Figur des Bruders. Für diesen bricht eine Welt zusammen, als er mitten in seiner postmarxistisch-«jüdischen Phase» erfahren muss, dass er (da in der Familie stets nur die Väter, nicht aber die Mütter jüdisch waren) maximal ein Vierteljude ist. Da nützt kein Tragen einer Kippa mit Enzian-Edelweiß-Stickerei und keine historische Recherche auf den Spuren eines sephardischen Juden namens Menasse: So wie Gila Lustiger gegen den übermächtigen Vater anschreibt, versetzt Eva Menasse ihrem publizistisch umtriebigen Bruder – und seinem letzten Roman «Die Vertreibung aus der Hölle» – so manchen Schlag. Als «eingebildeter Jude und gebildeter Kranker» muss der Bruder Hiebe einstecken, die eigentlich dem anderen männlichen Familienmitglied gelten: dem aberwitzelnd schweigenden Vater.

In einem Interview hat Robert Menasse auf den Roman der Halbschwester wiederum mit einer Anekdote reagiert: Als die kleine Schwester nicht essen wollte, musste man ihr eine Geschichte erzählen, «die dazu führte, dass sie vor Staunen den Mund aufriss». Wie der Nahrung eignet dem Erzählen eine lebenserhaltende Kraft. Die verbale Flutwelle, die sich in den Büchern Barbara Honigmanns, Eva Menasses, Jakob Hessings oder Gila Lustigers erhebt, brandet hoch gegen die Mauer des Schweigens, welche die Großeltern- und Elterngenerationen um ihre Vergangenheit errichtet haben.

Wie quälend das Schweigen als emotionaler Hunger empfunden und das Geschichtenerzählen als Grundnahrung für die (jüdische) Identitätsbildung angesehen wird, erweist sich an einer konkreten Speise, die in fast allen der hier besprochenen Romane rituell hergestellt und aufgetischt wird. Schon im Vorjahr hatte Zvi Jagendorf um die andächtig wiederholte Urszene des Apfelstrudel­backens herum einen ganzen Roman komponiert: «Die fabelhaften Strudelbakers». Auch in der Familie des David Bezmozgis steht der «Apfelkuchen nach wie vor für alles Jüdische». «Was brauch ich essen, wenn ich geh sterben?», fragt Eva Menasses Tante Gustl in ihrem typischen Fritz-Grünbaum-Ton, beharrt gleichwohl auf dem angemessen Besten: «Aber der Apfelstrudel muss sein vom Demel, auch wenn ich lieg im Sterben.»

Der australische Moralphilosoph Peter Singer begibt sich leise auf die Spuren seines Wiener Großvaters David Oppenheim – eines von Sigmund Freud hoch geschätzten, in Theresienstadt umgekommenen Altphilologen – und stellt sich in der Küche der Wiener Wohnung vor, wie seine Großmutter «hier stand und den papierdünnen Teig für ihren Apfelstrudel ausrollte». Gila Lustiger ihrerseits formuliert anhand dieser kulinarischen Handhabungen eine ironische Erzähltheorie zur bittersüßen Aufbereitung jüdischer Schicksale:

«Stoff war vorhanden. Und es wäre auch eine da gewesen, die die Geschichte hätte ausrollen, anheben und drehen können wie einen hausgemachten Strudelteig. Mit flachen Händen hätte sie unter die Ereignisse gefasst und sie rundherum gedehnt und gezogen. Und wie Essäpfel hätte sie die Fakten geschält, entkernt und zerkleinert. Dann hätte sie Anekdoten wie Mandelblättchen gestreut und sie mit Schwächen so weich wie Butter, mit Wortspielen wie Rosinen und Sultaninen und mit Zweifeln so süß wie Zucker und Zimt gemischt. O ja, sie wäre eine Erzählerin gewesen, eine mit Geschmack. Bei der man nie den bitteren Humor einer abgeriebenen Orange vermisst.»

 

Christiane Zintzen, Literaturkritikerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik, lebt in Wien.

 

Besprochene Romane

David Bezmozgis
Natascha. Storys
Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 192 S., 16,90 €

Barbara Honigmann
Damals, dann und danach
Hanser, München 1999. 136 S., 14,90 € (als TB bei dtv, 8 €)

Barbara Honigmann
Ein Kapitel aus meinem Leben
Hanser, München 2004. 144 S., 15,90 €

Gila Lustiger
Die Bestandsaufnahme. Roman
Aufbau TB, Berlin 1996. 336 S., 8,50 €

Gila Lustiger
So sind wir. Ein Familienroman
Berlin Verlag, Berlin 2005. 260 S., 18 €

Arno Lustiger
Sing mit Schmerz und Zorn. Ein Leben für den Widerstand
Aufbau, Berlin 2004. 303 S., 22,50 €

Jakob Hessing
Mir soll’s geschehen. Roman
Berlin Verlag, Berlin 2005. 400 S., 24,90 €

Ilany Kogan
Der stumme Schrei der Kinder. Die zweite Generation der Holocaust-Opfer
S. Fischer, Frankfurt a. M. 1998 (vergriffen)

Hillel Klein
Überleben und Versuche der Wiederbelebung. Psychoanalytische Studien mit Überlebenden der Shoah und mit ihren Familien in Israel und in der Diaspora
Aus dem Englischen von Barbara Strehlow.
Frommann-Holzboog, Stuttgart 2003. 319 S., 52 €

Eva Menasse
Vienna. Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 432 S., 19,90 €

Zvi Jagendorf
Die fabelhaften Strudelbakers. Roman
Aus dem Amerikanischen von Verena Koskull.
Aufbau, Berlin 2004. 221 S., 18,90 €

Peter Singer
Mein Großvater. Die Tragödie der Juden von Wien
Aus dem Englischen von Wolfdietrich Müller.
Europa, Hamburg 2005. 320 S., 19,90 €

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