Das Journal - Jedes Mittagessen schlägt aufs Erbgut

Die Lesbarkeit des Genoms führt nicht weit, denn Gene lassen sich verändern. Peter Spork über die Revolution der Epigenetik

Als im Jahr 2000 die Entschlüsselung des menschlichen Genoms bekanntgegeben wur­de, kannte die Begeisterung keine Grenzen: Das Buch des Lebens sei entziffert, die letzten Geheimnisse der menschlichen Natur könnten nun entschlüsselt, die Medizin auf eine ganz neue Basis gestellt werden. Die Entschlüsselung des Genoms sei so bedeutend wie die Landung auf dem Mond. Ein passender Vergleich, meint der Neurobiologe und Wissenschaftsautor Peter Spork: Die Entschlüsselung des Genoms war sicher­lich so aufwendig und ehrgeizig wie die Mondlandung – aber auch ebenso unfrucht­bar. Auf dem Mond ist nichts zu holen, und spätestens seit klar ist, dass die Gene von Menschen und Schimpansen fast identisch sind, dämmert den Forschern, dass sie noch lange nicht am Ziel sind.

Spork vergleicht die Gene mit der Hardware eines Computers. Ohne Software nützt diese wenig, und eben diese Software fehlte den Genetikern. Denn die Gene sind nicht einfach ständig aktiv. Vielmehr sorgen hochkomplexe Prozesse im Zellkern dafür, dass zur richtigen Zeit die richtigen Stellen abgelesen oder stummgeschaltet werden. Erst diese Genregulation sorgt dafür, dass aus den unspezialisierten Stammzellen Leberzellen oder Herzmuskelzellen werden. Sie ermöglicht, dass aus einer Raupe ein Schmetterling wird, der ganz anders aussieht, obwohl er dieselben Gene hat. Je komplexer die Genregulation, desto komplexer das Wesen, das entstehen kann, ganz egal, wie viele Gene es besitzt.


Wie Ratten Stress vererben

Mit der Genregulation befasst sich die neue Disziplin Epigenetik. «Der genetische Code sagt einem Körper, welche Biomoleküle er bauen kann; der zweite, der epigenetische Code, sagt ihm, wann und wo er welches von den prinzipiell möglichen Biomolekülen tatsächlich bauen soll», so der Autor. Die Ergebnisse der Epigenetik werfen unser genzentriertes Menschenbild gründlich über den Haufen. Sie sind, auch bei vorsichtiger Verwendung des Begriffs, revolutionär.

Spork hat die komplexe Materie leicht verständlich aufgearbeitet und präsentiert die molekularbiologischen Grundlagen ebenso wie die praktischen Anwendungsmöglichkeiten, die sich abzuzeichnen beginnen. In den Genen ist kein unentrinnbares Schick­sal festgeschrieben, lautet die Botschaft der Epigenetik. Nur für wenige Krankheiten sind ausschließlich die Gene verantwortlich. Bei den meisten sind epigenetische Mechanismen im Spiel, und das Besondere an diesen ist: Sie verändern sich in überschaubaren Zeiträumen, in der Lebenszeit des Indi­viduums, in Monaten, Jahren und manchmal über einige Generationen hinweg. Unser tagtäglicher Lebenswandel hat über die epigenetischen Mechanismen Einfluss da-rauf, welche unserer Gene abgelesen werden. Und weil wir unsere Lebensweise zumindest zum Teil in der Hand haben, folgt daraus die revolutionäre Botschaft, dass wir die Aktivität unserer Gene beeinflussen können – zum Guten wie zum Schlechten. «Was Sie heute Mittag gegessen haben, hat irgendwie seinen Weg zu Ihrem Erbgut gefunden. Wir wissen heute nur noch nicht, wie», zitiert Spork den Bostoner Stammzellforscher Rudolf Jaenisch.

Spork erklärt, wie Gene zum Verstummen gebracht werden, indem sich Molekülgruppen an das Erbgut anlagern oder dieses sich fest um «Eiweißknübbelchen» wickelt. Mit den epigenetischen Regulations­mechanismen beginnen Forscher zu verstehen, was auf molekularbiologischer Ebene geschieht, wenn jemand Sport treibt, Gemüse isst und Stress, Alkohol und Zigaretten aus dem Weg geht – und auch, was schief-läuft, wenn er das nicht tut. Kokain etwa baut bestimmte Proteinschwänze am Erbgut um und verändert so das Belohnungssystem des Gehirns. Stress schädigt die Schutzkappen am Ende der Chromosomen. «Das Potenzial für ein gesundes, langes Leben und für eine einnehmende Persönlichkeit steckt höchst­wahrscheinlich in den Genen der meisten Menschen. Man muss nur einen Weg finden, es abzurufen», so Spork.

Nach diesem Weg forschen Pharma­industrie und Universitäten mit Hochdruck, denn mit einem gesunden Lebenswandel allein ist nicht allen Problemen beizukommen. Der evolutionäre Sinn des epigenetischen Codes scheint darin zu bestehen, einen Organismus auf die Welt vorzubereiten, in der er leben wird. Ratten, die in einer stressigen Umwelt leben und keine Zeit haben, dem Nachwuchs ausgiebig das Fell zu lecken, ziehen aggressive, nervöse Junge groß. Das Lecken verändert bei ihnen die Ablesbarkeit des Gens mit dem Rezeptor für das Stresshormon Cortisol.


Späte Rehabilitierung Lamarcks?

Epigenetische Weichen, die sehr früh im Leben gestellt werden, haben also sehr großen Einfluss auf unser Leben. Wobei «sehr früh» bedeuten kann, dass die Mahlzeiten der Mutter, manchmal sogar der Großmutter, in der Schwangerschaft mehr Einfluss auf unsere Gesundheit haben als die eigene Ernährung. Forscher fanden heraus, dass Menschen, deren Mütter im niederländischen «Hungerwinter» schwanger gewesen waren, überdurchschnittlich häufig an Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes oder Übergewicht litten. An ihr Gen für den «insulin­ähnlichen Wachstumsfaktor» hatten sich deutlich weniger Methylgruppen angelagert als normalerweise: Der Hunger der Mütter hatte also das Epigenom der Töchter verändert, obwohl diese selbst nie gehungert hatten.

Manche epigenetischen Veränderun­gen werden über mehrere Generationen weitergegeben. Ein Pflanzenschutzmittel wirkte sich in Laborversuchen noch auf die Ururenkel der Ratten aus, die mit dem Mittel in Berührung gekommen waren. Dies lässt Evolutionsbiologen darüber nachdenken, ob der viel gescholtene Lamarck mit seiner Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften nicht doch ein wenig Recht gehabt haben könnte.

An die Stelle der Genkartierung ist nun die noch viel komplexere Kartierung des Epigenoms getreten. Mediziner hoffen, über die epigenetische Regulation Krankheiten gezielt behandeln zu können. Biochemische Schalter könnten «gute» Gene ein- und «böse» ausschalten, ohne die Gene selbst verändern zu müssen. So gelang es Forschern, bei Mäusen ein Gen, das ihre Mütter dick und krankheitsanfällig mach­te, durch eine spezielle Diät während der Schwangerschaft abzuschalten: der Nach­wuchs war trotz des krankmachenden Gens gesund.

Als epigenetisch wirksame Diät empfiehlt Spork grünen Tee, Kurkuma und Sojabohnen. Doch er mahnt zur Vorsicht: Epigenetische Wundermittel zum Umpro-grammieren der eigenen Gene gibt es nicht. Zudem sollte man die Komplexität der Gen-regulation nicht unterschätzen: Etwas zu verändern bedeutet nicht unbedingt, es zu verbessern. Der Nutzen der epigenetischen Erkenntnisse liegt derzeit vor allem in der Präventivmedizin, so Spork. Die Epigenetik verfolgt, was eine Psychotherapie mit unseren Genen anstellt, sie erklärt, warum Maultier und Maulesel sich unterscheiden und warum uns das Abnehmen so schwer fällt. Sogar das Altern kann als epigenetische Krankheit verstanden werden, so Spork. Und natürlich gibt es Forscher, die es nicht für ein unumkehrbares Schicksal halten. Angeb­lich ist es ihnen bereits gelungen, Zellen im Reagenzglas unsterblich zu machen.

Noch verschafft uns die Epigenetik keine Wunderrezepte für ein langes gesundes Leben. Aber sie erklärt eindrücklich, warum es in unserem Interesse und dem unserer Kinder und Enkel ist, sich an die altbekannten Regeln zu halten: Bewegung, Gemüse, kein Stress. Ihr Epigenom wird es Ihnen lohnen.

 

Peter Spork
Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unser Erbgut steuern können
Rowohlt, Reinbek 2009. 300 S., 19,90 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.