- Verrückt, aber nicht bescheuert
Wolfgang Herrndorf nahm sich im Sommer 2013 das Leben. Sein unvollendeter Roman „Bilder deiner großen Liebe“ ist nun posthum erschienen. Darin geht der Leser mit der Ausreißerin Isa auf Reisen und trifft auf alte Bekannte. Ein Road-Trip zu Fuß
Isa war verrückt. Aber nicht bescheuert. Das ist wichtig. Die Unterscheidung ist wichtig. Findet Isa. Und Wolfgang Herrndorf, der Erfinder von Isa, findet das auch. So lässt er seine Heldin gleich zu Beginn seines letzten Romans „Bilder deiner großen Liebe“ klarstellen, dass man verrückt sein kann, ohne bescheuert sein zu müssen. Weil das Verrücktsein eben anders ist. Und bescheuert will ja nun wirklich niemand sein.
Isa war also verrückt. Völlig durchgeknallt. In Herrndorfs „Tschick“ taucht sie zum ersten Mal auf. Die Ausreißer Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow (kurz Tschick), die einen alten Lada kurzschließen und durch die Republik vagabundieren, treffen die verlotterte Isa auf einer Müllkippe. Zunächst beschimpfen sie sich gegenseitig, dann zeigt Isa den Jungs, wie man Benzin richtig klaut und sie werden Freunde.
So plötzlich, wie Isa Teil des Romans, Teil der Abenteuer um Maik und Tschick wird, so plötzlich verschwindet sie wieder. Sie wird zur Erinnerung. Für Maik, der sich verliebt. Und für den Leser, der schon lange wusste, dass Maik verliebt war, noch bevor der das selber wissen konnte.
Das konnte Herrndorf: Typen erzeugen, über die der Leser irgendwie mehr weiß, als die Typen selbst. Figuren, die dem Leser so nahe sind, weil Herrndorf es dem Leser so angenehm leicht macht, darin Platz zu finden. Mit ihnen zu verrücken. Immer so, dass man Verrücktes gerade noch zu recht rücken kann. Aber weit genug, um nicht unbeschadet in die Wirklichkeit zurückkehren zu können.
In „Arbeit und Struktur“, Herrndorfs letztem vollendeten Werk, in dem er von seinem Leben als Krebskranker schreibt, notiert er: „Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen. Mach ich aber nicht. Mach ich nicht.“
Machte er doch. Gut, dass er sich nicht an seine Worte hielt. Wirklich beenden konnte er Isas Geschichte zu Lebzeiten aber nicht mehr. So steht nun „unvollendet“ unter dem Roman. Macht aber nichts. Denn sein unvollendeter Roman ist um Welten besser als das Meiste von dem, was so vollendet in den Regalen steht.
Dabei wollte Herrndorf eigentlich nichts zurücklassen: „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben“, notierte er im Testament.
Herrndorf spaziert mit Robert Walser
Es kam doch anders. Die Road-Novel um Tschick und Maik wird mit Isas Geschichte um ein Abenteuer zu Fuß erweitert. Und noch immer kein mit der Waffe in der Hand bedrohter Journalist weit und breit. Schade eigentlich.
Herrndorf lässt also spazieren. Er macht Ziellosigkeit zum Prinzip. Wie einst Robert Walser. Die Verbindung zu Walser blitzt im Roman kurz auf. Von „Jakob von Gunten“ ist ganz beiläufig auf den ersten Seiten zu lesen. Eine Anspielung, die sitzt. Geht und spaziert: mit Isa.
„Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein“, erzählt Walsers Held in „Jakob von Gunten“. Ein Held, der es fertigbringt, sich selbst zum Rätsel zu werden und damit kokettierend und scheiternd durchs Leben irrt.
Herrndorfs Helden erinnern an Walsers spazierende Außenseiter. Voller Demut. Nicht dem Menschen, sondern dem Leben gegenüber. Gleichzeitig lernt man nicht wirklich etwas über die Figuren, sondern lernt durch sie etwas über sich selbst. Die Helden bleiben unfassbar, machen sich klein, kleiner als klein, klitzeklein, geben sich gewöhnlich, um gleichzeitig Großes und Ungewöhnliches zu spiegeln. Immer den Abgrund vor Augen. Aber lachend, grinsend, schimpfend. Sie geben sich der Melancholie hin und pfeifen auf den Weltschmerz. Es sind kecke Gestalten. Immer irgendwie am Glück vorbei, ja. Aber immer glücksfähig. Und doch wissend, dass selbst das größte Glück mit keinem Unglück dieser Welt konkurrieren kann.
„Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich. Und das liegt nicht daran, dass es länger dauert, das Unglück. Es ist einfach so.“ Heißt es in „Bilder deiner großen Liebe“. Einfach so. So sind die Dinge bei Herrndorf. Eine Art Mahnung, nicht alles zu überhöhen, wohlwissend, dass einem solchen „Einfach so“ immer auch ein „Vermutlich ist es sowieso ganz anders“ innewohnt.
Isa verrückt weiter durch die Welt, tagträumend, nachtträumend, durchträumend. Hoffen wir, dass sie immer weiterläuft, und dass, im Sinne des Autors, die „Scheißgermanisten“ (wie er sie nennt) Isa nie zu fassen kriegen. Dass sie aus Isas Abenteuer keine Gesellschaftskritik extrapolieren oder ihm ranzige Interpretationsschablonen unterschieben. Dass sie Isa Isa sein lassen. Sie träumen lassen. Und verrücken. Einfach so.
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