Pornografie - Körperbeschwörung

Eines haben Pietro Aretino und der Marquis de Sade mit­­­einander gemein: Beider Bücher wurden als Pornografie verteufelt und öffentlich verbrannt. Nun liegen Aretinos «Stellungen», übersetzt von Thomas Hettche, und De Sades Werke in der Übertragung durch Stefan Zweifel und Michael Pfister vor. „Literaturen” bat Ingeborg Harms und Roger Willemsen um eine Re-Lektüre der beiden Erz-Pornografen. Die Illustrationen entstammen dem Band «Fornicon» von Tomi Ungerer, erschienen im Diogenes Verlag

Dass eines der krudesten Sprachwerke der Li­teraturgeschichte in so schlechten Zeiten auf bestem Papier und in ungewöhnlich aufwändigem Hochformat erscheint, hat seinen Grund. Und der liegt nicht darin, dass es sich bei Pietro Aretinos «Stellungen» um Pornografie handelt. Thomas Hettche hat die sechzehn Sonette aus dem frühen 16. Jahrhundert neu übersetzt und kommentiert, um sie erotisch kleinmütigen Zeitgenossen entgegenzuschleudern. Diese in Reimen belassenen Dialoge zwischen Mann und Frau sind eine Kampfansage an eine Epoche, die Lust durch Triebbefriedigung ersetzt und deren prosperierendste Industrie sich der einsamen Stimulierung des Sexus verschreibt.

Der erste und für Hettche äußerst wichtige Unterschied zwischen den Aretino’schen «Modi» und der Porno-Flut der Gegenwart liegt darin, dass es sich bei den «Modi» um Texte handelt. Moment!, rufen die Eingeweihten: Er hat die Sonette doch zu Fresken von Giulio Romano geschrieben! Tatsächlich sind Aretinos Gedichte eng auf eine Serie anstößiger Bilder bezogen, die der Raffael-Schüler aus Protest auf die Wände der vatikanischen Sala di Cons­tantino gemalt haben soll, weil ihn das Salär, das ihm der Papst gezahlt hatte, enttäuschte. Der römische Kupferstecher Marcantonio Raimondi kopierte die Graffiti, und obwohl er dafür im Gefängnis landete und auf die Vervielfältigung seiner Bilder die Todesstrafe stand, wurden die sechzehn erotischen Stellungen schnell zu den heißesten Arkana der italienischen Gegenöffentlichkeit.


Vereinigungsexperimente auf Troddelkissen

Da erst kommt Aretino ins Spiel. Dem gefürchteten politischen Pamphletisten und Satiriker gelang es nicht nur, Raimondi von seiner Haftstrafe zu erlösen. Er nahm sich auch die indizierten Zeichnungen vor und wurde nach eigener Aussage «vom selben Geist angerührt, der den Giulio Romano trieb»: Er dichtete begleitende Sonette, die den Bildern an schamloser Direktheit durchaus gewachsen sind.

Raimondis Kupferstiche sind verschollen. Doch 1929 tauchten in Leipzig vierzehn Holzschnitte auf, die mit einer venezianischen, etwa aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammenden Ausgabe pornografischer Texte zusammengeheftet waren, darunter Aretinos «Modi». Ein Kästchen mit neun briefmarkengroßen Originalfragmenten der Bilder im British Museum belegt die Echtheit der Motive. Die skandalösen Liebenden sind nackt, durch Schraffuren plastisch modelliert und auf eine an Leonardo da Vinci erinnernde Art üppig bis muskulös. Ihre Vereinigungsexperimente finden größtenteils unter einem Bettbaldachin und auf opulenten Troddelkissen statt. Durch die Betonung des athletisch-technischen Aspekts der Kopulation haftet ihnen etwas Komisches an, das könnte Aretino angesprochen haben.

Der Reiz dieser Bilder liegt darin, dass die Liebenden bei der Intimität überrascht werden, sie sind nicht auf dieselbe Weise exhibitionistisch wie heutige Darstellungen. So spielen zwei der Stiche mit der Störung der erotischen Versenkung durch Dritte: Einmal ist es Amor, der dem Paar die Unterlage wegzieht, ein anderes Mal eine Alte, die zeternd durch das Fenster hereinschaut. Es steckt eine Menge fleischliche Leidenschaft in den «Modi», und soweit die Gesichter Individualität besitzen, liegt in ihnen Konzentration, man könnte auch von Hingabe sprechen. Die Posen sind, bei aller Akrobatik, entspannt, genießerisch, tänzerisch. Und keine der «Stellungen» (die gar nicht so ausgefallen scheinen) erzeugt den Eindruck, es gehe allein um die Beglückung des Mannes. Beide Geschlechter können sich in diesen Bildern und in Aretinos Texten wiederfinden.

Das Grobe, von der Elektrizität der Erregung durchströmt, ruft eine Zartheit hervor, die es verbietet, die «Modi» in einem Atemzug mit der sexistischen, auf die bloße Variation der Monotonie abgestellten Massenware unserer Tage zu nennen. Was die «Modi» als Gesamtkunstwerk bewirken, ereignet sich tatsächlich, wie es die Eros-Theorie will, im Kopf. Sie schaffen einen Raum, in dem die Phantasien des Betrachters Platz haben: Eine Variante der Pornografie, die  die Sinne öffnet und Persönliches zulässt, sie zwingt den Leser nicht ins Sex-Labor.


Peinlichkeit, Potenz und Pannen

Und damit wären wir wieder bei Thomas Hettche. Ihm zufolge geht es in den interessantesten zeitgenössischen Texten und Filmen zum Thema darum, den Körper aus dem restlos befreiten medialen Raum wiederum zu befreien – ein gewolltes Para­dox. Denn während das moderne Begehren unterschiedslos für jedes kommerzielle Produkt mit Beschlag belegt wird und in der Pornografie nicht auf Authentisches, sondern auf eine Flucht endloser Gelegenheiten trifft, soll es hier den einen, konkreten Körper wiederfinden: «Es ist, als müßten die Körper geradezu be­schwo­ren werden, weil es sie bald schon nicht mehr geben könnte.»

Thomas Hettche kommt in seinem begleitenden Essay auf den Ursprung unserer von der Vielzahl faszinierten Geschlechtlichkeit zu sprechen, von der zuletzt die französischen Autoren Michel Houellebecq und Catherine Millet erzählten. An ihrer Wurzel entdeckt er die aufklärerische Vorstellung von der paradiesischen Unschuld: Dort, wo der Mensch kindlich und unverbildet ist, so will es der emanzipatorische Mythos, regiert ihn sein ganz «natürlicher, unwiderstehlicher Trieb».

Um die Illusion von der grenzenlosen Begehrlichkeit aufrechtzuerhalten, muss der Sexus wie eine Maschine funktionieren, muss einerseits mechanisch und ungehindert seinen Zweck erfüllen, andererseits pausenlos von verlockend-glatten Objekten der Lüsternheit angefeuert werden. Das ästhetisch inszenierte Lustobjekt und die geölte Mechanik sind die Koordinaten der aktuellen medialen Pornografie.

Mit ihnen haben die Texte, die Hettche hier vorlegt, nichts zu tun. Sie sind krude, obszön und von einer Naivität, die wenig mit Idealbildern der Potenz, aber viel mit den Pannen und verschwörerischen Peinlichkeiten zu tun haben, die in der Hitze des erotischen Gefechts entstehen. Obwohl die Sonette als Wechselreden konzipiert sind, gleichen sie Monologen. Sie sind Selbstgespräche des Fleisches, unbeholfen, über die Stränge schlagend, hilflos-genial die Dinge beim Namen nennend. Die Sonette kommen mit einem reduzierten Vokabular aus, durch das unversehens Geistesblitze wetterleuchten, schiefe und gewagte Metaphern, kokettierender Hohn, aufreizende Hyperbeln, Prahlereien und plötzlicher Kleinmut.

Das strenge Reimschema, dem Hettche seine Übertragung anpasst, lässt die deutsche Version durch gesuchte Konstruktionen noch sperriger und ungeschlachter erscheinen. Anglizismen und Sprachbilder, die aus der Postmoderne stammen, bringen etwas Ungeschliffenes hervor, eine Rhetorik, die nicht bei der Sache ist: «Und wenn’s auch eine Torheit ist! / Da ich nun ficke, will ich doch / Euch auch von hinten nehmen noch. / Obgleich mein Schwanz hier nichts vermißt.» Die Antwort der dritten Strophe lautet lakonisch: «Fick mich und mach mit mir, was du willst. / Ob Möse oder Arsch, mir ist gleich, / Wo du mich killst.»


Potpourri der Lüste und Irrtümer

Wer die Eitelkeit des Lesers verführen wollte, würde sich kaum mit solch krachenden Reimen aufhalten. Die «Modi» operieren unterhalb der gängigen Selbstbilder und sprachlichen Konventionen. Ihre Roheit entspringt einem Bereich, an dem der verbale Ausdruck gerade entsteht, wo man über die Worte hinweghuscht, weil die Körper sich gleichzeitig und viel geschmeidiger artikulieren. Deshalb ist der Blick auf die gegenüberliegende Seite mit den Illustrationen ein integraler Bestandteil der Leseerfahrung: Er zeigt, dass das, was Zungen ausstoßen und stammeln, im System der kommunizierenden Körper seinen eigentlichen Sinn erhält. Dort mildert Komplizenschaft das Zotige durch dessen lustvolle Bedeutung.

Dass für dieses pornografische Renaissancewerk mehrere Künstler und Kopisten einstehen, entspricht seinem Wesen. Es ist eben keine Frucht einer paradiesischen Ursprünglichkeit, sondern ein Potpourri der Lüste und Irrtümer, durch die der Mensch nach einem Augenblick des Glücks tastet. Je schräger diese aufs Ganze gehende Suche klingt, desto näher kommt der Leser der Kreatur in sich selbst. In einer verblüffenden Wendung endet Thomas Hettches Essay mit der Beschwörung Johannes Paul II., des «gebeugten Mannes in weißer Soutane». Dass er den Medien sein Bild zumutet, ist für den Übersetzer Aretinos radikaler als jede Pornografie.

 

Ingeborg Harms lebt als Kritikerin und Publizistin in Frankfurt am Main.

 

Pietro Aretino, Thomas Hettche
Stellungen. Oder vom Anfang und Ende der Pornografie
Italienisch und deutsch. Aus dem Italienischen von Thomas Hettche.
DuMont, Köln 2003. 118 S., 39,90 €

Hintergrund

Gib mir deine Zunge, stütz dich ab mit dem Fuß,
Drück die Schenkel zusammen und halte mich.
Fall rücklings aufs Bett. An nichts denke ich
Als ans Ficken: Tu’s.

Es macht dein harter Schwanz mich ganz konfus!
Wie sehr freut auf ihn die Möse sich!
Auch in meinen Arsch lasse ich einstens dich,
Und heil wieder hinaus mit einem Gruß.

Dank dir, Lorenzina, meine süße junge,
Gern dien ich deiner Lust, doch stoß zu,
Stoß wie ein Luder mir die Luft aus der Lunge.

Ich spüre, gleich komm ich, und du?
Jetzt, ach gib mir deine ganze Zunge,
Ich sterbe. Und ich mit dir, bist der Grund dazu.

Bist du schon fertig, Bijou?
Jetzt komm ich, mein Liebster, noch einen Hauch.
Jetzt bin ich gekommen. O Gott. Ich auch.

Pietro Aretino

(Aus dem Italienischen von Thomas Hettche)

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.