- Zum Teufel mit dem Karneval
Kolumne: Zwischen den Zeilen. Wenn der Deutsche feiert, wird es bunt. Karneval ist geordnetes Chaos. Nichtkarnevalist Timo Stein hat sich eine Sitzung angeschaut
Es gibt Dinge, die man nicht verstehen kann. An die muss man glauben. Spannbettlaken zum Beispiel. Einem Spannbettlaken sollten Sie sich niemals mit dem Verstand nähern. Ich werde wohl nie begreifen, wie sich Spannbettlaken so zusammenlegen lassen, dass das Zusammengelegte am Ende ein ordentliches Bild abgibt. Und dann gibt es da noch dieses immer wiederkehrende gesellschaftliche Phänomen, was für jemanden, der weder rheinisch noch frohnatürlich sozialisiert wurde, einfach nicht fassbar ist: Karneval.
Mir war immer bewusst, dass da vornehmlich in katholischen Provinzen dieser Ausnahmezustand herrscht. Dass für eine bestimmte Zeit Menschen aus ihrer alltäglichen Ordnung ausbrechen, um in eine viel witzigere Ordnung auf Zeit zu treten. Verordnetes Chaos sozusagen. Ich habe mir bisher aber weder die Frage gestellt, warum sie es tun, noch wollte ich dabei sein, wenn sie es tun. Ich habe es ignoriert. Karneval war der zweisekündige Störer beim abendlichen Umschalten des Fernsehprogramms. So spannend wie Curling bei Olympischen Winterspielen. Und so nachahmenswert wie eine Mitgliedschaft beim ADAC.
Der Zeitgeist aber will, dass sich Menschen mit dem für sie Ungewohnten auseinandersetzen. Dass wir nicht verdrängen, sondern uns den Dingen stellen. Also dann.
Die Psychologie sollte recht behalten: Curling zum Beispiel entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein wirklicher Wahnsinnssport. Ein Hochleistungskonzentrationsspiel, das wirklich alles vom Menschen abverlangt: Anspannung, strategisches Denken, Nerven aus Aluminiumkarbonat – verbunden mit einer meditativen Ästhetik, einem Dahingleiten und Ankommen auf einem Zielkorridor der Ungewissheit. Schach auf Eis gepaart mit unfassbar wieselflinker Putztechnik. Curlingathleten müssen die saubersten Haushalte überhaupt bewohnen. Spannbettlakenfalten dürfte für sie jedenfalls kein Problem sein.
Bliebe noch eines: Fasching. Ich bin bereit, sitze konzentriert und schalte ein: Unter der Regenschaft von Axel Heilmann sollte die Inthronisation des Frankfurter Prinzenpaares im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks gefeiert werden. Nun denn.
Bereits mit der ersten Einstellung – die Kamera nähert sich einem grünlich kostümierten Karnevalssoldaten, der sich als Präsident der Runde entpuppen sollte, wächst ein grauenvoll unfairer Gedanke in mir heran: Dafür also zahle ich Fernsehgebühr?
Die Musik schunkelt aus allen Rohren. Die Menschen wippen in alle Richtungen. Stoßen den Tischnachbar an, erheben ihr Glas, singen mit, textsicher, immer ein Bruchteil dem Takt hinterher. Lieder, die ich nie im Leben gehört habe. Als wüssten sie, dass da einer zuschaut. Ein Nörgler. Als wollten sie ihm beweisen, wie verschworen sie sind. Es funktioniert.
Menschen bunt wie Herbstlandschaften. Die Farbkombinationen grotesk zusammengewürfelt. Maskiert, lustig bebrillt, Matrosen, Ganoven, Hexen, Hüte, Helau.
Den Anfang macht ein Komikerduo. Mann mit Hut und Brigitte im Kostüm betreten die Bühne. Der Sitzungspräsident kündigt sie mit den Worten an: „Er arbeitet bei der Bank und sie gibt das Geld aus.“ Volltreffer. Das Gelächter zündet schon vor der Pointe. Man will komisch sein. Frau sowieso. Aber Achtung, es wird thematisch.
„Was ist der Unnerschied zwischen meinem Schirokondo und meinem Bett dahääm?“, quietscht Mann mit Hut. „Es gibt keinen. Sind beide saubä überzooge.“ Tusch. Das Publikum brüllt. Und ich ahne, der Dialekt wird eine entscheidende Rolle an diesem Abend spielen. „Es is ebbes firschterliches bassiert“, schreit er dann, „Die Brigidde hat Steuern hinnerzooooge!“
Die Themen sind klar abgesteckt: Schwiegermutter, Blähungen, Herrenwitze, die das Zwerchfell der Damen in längst vergessene Ausnahmezustände versetzen. Humor ist, wenn Mutti in der ersten Reihe kreischt. Der Rest ergibt sich.
Mal angenommen, Außerirdische würden just in den Karnevalswochen der Erde einen Besuch abstatten. Wir wären auf ewig isoliert im All. „Auszug“, ruft der Präsi. Brigitte und Mann mit Hut verlassen die Bühne. Tusch. Eine Garnison marschiert ein. Konfettiregen. Spalier stehen fürs Prinzenpaar.
Das Kapitel Totentanz in Manns Zauberberg kommt mir in den Sinn. Ich versuche, mir Hilfe zu holen. Hilfe bei der Einordnung. Karnevalsforscher müssen her. Ja, es gibt sie. Das Problem nur: Es sind Semesterferien. Und außerdem ist ja Karnevalszeit. Die Experten sind also alle im Felde unterwegs. Ich bin also auf mich alleine gestellt. Ich beruhige mich. Irgendwie würde ich damit schon fertig werden.
Der Präsi übernimmt wieder und stellt (aufgepasst!) den Minister für Humor vor. Es wird politisch.
Thema: François Hollandes heimliche Geliebte: „Das ham wir hier nicht nötig. Wenn beim Karneval jemand erwischt wird, sacht er: ich dachts wär mei Fraaaaa!“ Kreisch! Der war gut, denke ich erschrocken. Mein Gesicht ist plötzlich schief. Thorsten Schäfer-Gümbel im Publikum wird eingeblendet. Seine Aufmachung verrät: Er will Cowboy sein.
Der Präsi dankt, der Minister für Humor dankt ab. 30 Minuten sind um.
Dann – ich bin einen Moment unaufmerksam –liegt plötzlich Goethe auf der Couch. Bankenschelte, Politik, Literatur, die lassen nichts aus, denke ich. Und Johann Wolfgang geht gleich in medias res: „Beim Boris Becker, da merkt man ja, dass die Evolution gerne mal n Päusche macht.“ Die Erkenntnis steht: Flachwitze, auf Hessisch vorgetragen, treten notwendigerweise in einen Dauerpointenzustand. Er hätte auch aus Sarrazins Tugendterrorthesen lesen können. Doch der Dialekt holt den Witz dort ab, wo er zu vergreisen droht. Mit Gewalt und Tusch. Kölsche Funkemarieeesche betreten Hessenland. Die trauen sich was. Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Nazis die bis dahin männlichen Funkenmariechen durch Frauen ersetzten, weil das dem deutschen Mannestum widersprach.
Eine Stunde ist fast um. Ein Mann mit riesiger Fliege betritt die Bühne. Ein einziger, überdimensionierter Halspropeller reicht, um dazuzugehören? Fliegenpeter spricht mit noch mehr Dialekt als gewöhnlich. Ich versteh ihn nicht, aber das Publikum kreischt. Es geht um Supermarktwäägelsche, die die Spur falsch oigestellt hädde. Ich beschließe, das Experiment zu beenden.
Fazit: Die Psychologie hat unrecht. Es gibt sehr wohl Dinge, die Sie verdrängen, ignorieren oder zum Teufel wünschen sollten. Die Parallelwelt Karneval soll bitte Parallelwelt bleiben. Außerirdische haben dort nichts zu suchen. Ich trete den Rücktritt auf meinen Planeten an. Mit Lichtgeschwindigkeit. Helaaf!
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