- „ Was nicht umkopiert wird, geht verloren “
Alles wird gespeichert, aber nichts wird mehr erinnert. Die Friedenspreisträgerin Aleida Assmann über das Dilemma des Hinfortspeicherns im digitalen Zeitalter und die Frage nach der Zukunft der Erinnerungskultur.
Aleida Assmann zählt zu den renommiertesten Kulturwissenschaftlerinnen Europas. International bekannt wurde sie für ihre Forschung zum kulturellen Gedächtnis, mit der sie zeigen konnte, dass die Art, wie eine Gesellschaft ihre Geschichte erinnert, in hohem Maße die Einrichtung des Sozialen beeinflusst. Die Mutter von fünf Kindern war von Anfang an eine aktive Beobachterin des digitalen Wandels.
Frau Assmann, als Wissenschaftlerin wechselten Sie einst von der Schreibmaschine zum Rechner. Wie war das?
Aleida Assmann: Ich habe meine Doktorarbeit auf einer Schreibmaschine geschrieben, die Habilitation dann auf einem Mac. Sie können sich nicht vorstellen, was das für eine Befreiung war: Plötzlich sah alles so sauber aus und war zudem noch beliebig veränderbar! Schreiben ist eine Sache der Bewegung, und eine Schreibmaschine ist dabei ein ziemlicher Klotz am Bein.
Haben Sie damals die neue Technologie sofort auch wissenschaftlich reflektiert?
Mein Mann, Jan Assmann, und ich begannen in den achtziger Jahren gerade, das „kulturelle Gedächtnis“ und damit zusammenhängend Medienwandel in Kulturen zu untersuchen: Was bedeutet es, wenn eine ausschließlich mündlich kommunizierende Gesellschaft plötzlich die Schrift einführt? Und was passiert, wenn nicht nur einige Spezialisten schreiben können, sondern wenn Schrift plötzlich in die Reichweite von allen kommt?
… und in diese Forschung brach also wie bestellt eine neue Medienrevolution?
Genau, das Digitale als eine Schrift, die nicht mehr nur Sprache codiert, sondern auch Bilder und Töne aufzeichnen konnte. Diese Entwicklung brachte einen ganz neuen Begriff hervor: den der Information oder der Daten.
War Ihnen die Reichweite dieser Revolution denn damals schon bewusst?
Sicher nicht. Aber es herrschten doch das Bewusstsein eines irreversiblen Wandels und ein großes Interesse daran, diese Entwicklung intellektuell zu begleiten.
In welcher akademischen Atmosphäre konnten Sie diese medialen Umwälzungen sofort als Impulse in Ihre Forschung aufnehmen?
Mein akademisches Schlüsselerlebnis hieß Dubrovnik. Mitte der achtziger Jahre luden die Größen der Geisteswissenschaften dorthin ein, um die eigenen Fächer neu zu vermessen. Drei Generationen trafen sich dann jeweils: Doktoranden, aufstrebende Stars verschiedener Disziplinen, auch ein paar Gurus wie Niklas Luhmann oder Paul Watzlawick. An die 80 Leute, die eine Woche lang ein erregtes Dauergespräch führten, das von Platon bis zu den Grundlagen dessen führte, was wir heute Medienwissenschaft nennen. Diese Wochen hatten rauschhaften Charakter, so etwas gab es an keiner Universität.
Das klingt paradiesisch.
Für mich war es genau das: Diese Erfahrung fiel in meine zwölfjährige Familienzeit. Der Kontakt zur Uni war abgebrochen, sogar meinen Schlüssel hatte ich nach der Promotion abgeben müssen. Vor Ort in Dubrovnik habe ich mich als „wissenschaftliche Hausfrau“ vorgestellt. Die Kolloquien gaben mir mehr Antrieb, als die verpassten Jahre an der Uni es je hätten tun können.
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Die Filme dazu dürften einige von uns sicher kennen. Ein für mich hochinteressanter Artikel. Die ersten Menschen gaben ihr Wissen und ihre Erfahrungen mündlich oder durch Steinzeichnungen weiter, einige Völker bis heute. Manche führten später Schrift und Bilder hinzu. Die digitale Welt will dazu führen, dass man scheinbar alles weiß, aber eben nicht alles mehr erinnert. Wie auch? Das menschliche Hirn kann nur das selbsterlebte, das durch Gespräche erfahrene oder selbst visuell aufgenommene abspeichern. Was erinnert werden, was parat als Wissen abgerufen werden soll, entscheidet jeder selbst. Wenn heute unangenehme Begebenheiten mittels Cancel Cultur vergessen gemacht werden oder umgeschrieben werden soll, passiert genau das gleiche, was beim ersten Verschriftlichen von Erinnerung der Vergangenheit passierte. Derjenige, der schreibt gibt unabsichtlich oder absichtlich seine Wertung, sein eigenes Verstehen hinein und lenkt damit Information. Digitale Welt ist nicht die reale Welt.
nur die Möglichkeiten/das Spielfeld hat sich geändert...
nie ändert, sollte eigentlich jedem klar sein.
Wir sind genau so gefangen in unseren Möglichkeiten,
wie sämtliche Tiere, Pflanzen und Viren auch.
Wenn ich so an die Grösse des Universums denke,
dann ist es doch wirklich nicht ganz auszuschliessen, dass
da evtl. noch eine höhere Spezies gibt, die wiederum
so über uns denkt wie wir über die Tiere, Pflanzen, Viren...
Was ich eigentlich sagen will: Der Mensch sollte sich nicht zu wichtig nehmen...
Ich frage mich öfters: Warum & wieso dieser Weg. Wenn man sich wie ich mit Geschichte & wo wir her kommen & wohin wir gehen, beschäftigt ist für mich die richtige Antwort wie des Herrn Bühler, der den Satz von wie bereits Sokrates zitierte.
Aber wie sagt man richtiger Weise heutzutage: das Fahrrad wurde nochmals neu erfunden bzw. altes Wissen neu aufgefrischt (Satz des Pythagoras, der schon in den alten ägyptischen Pyramiden seine Anwendung fand).
Oder die spätere Neuentdeckung Amerikas durch Kolumbus, über 100 Jahre zu spät bzw. eher durch China. Die Amerikaner lernen heutzutage immer noch, dass die Besiedlung über Asien-Alaska erfolgte, obwohl schon Genetisch wie Pfeilspitzenmäßig nachgewiesen ist, dass die Indianer aus dem heutigen Europa stammen.
Beschäftigt man sich mit ihren Lehren & Leben wie der Aborigines, ist meine persönliche Meinung: Obwohl sie kein Buch oder PC kannten, menschlich im tiefsten Herzen waren sie aber weiter entwickelt wie wir "Neumenschen" trotz Technik.
Ein sehr anregendes Interview, gerade in der Coronazeit, die auch bei digitalen Kontakten zu einem exponentiellen Wachstum geführt hat.
Ob die bisher typischen Orte der Erinnerung (Familienfeiern, Pflegeheimbesuche, Trauerfeiern) ihre Bedeutung wiedererlangen? Sehr zweifelhaft. Die Verbindungen zwischen den Generationen, Grundlage jeder
Erinnerungskultur, schwinden, nicht nur in Europa.
Was in unserem kollektiven Gedächtnis, in unserem kulturellen Hintergrund angehäuft ist, kann (und konnte) von keinem einzelnen Menschen jemals zur Gänze aufgenommen und verstanden werden.
Dennoch kann auch dieses ungeheure Wissen überhaupt nur wirksam werden, wenn es einzelne Menschen gibt, die an ihm interessiert sind, die es erwerben wollen.
Paradoxerweise glauben heute viele, dass "man" heute eigentlich alles weiß. In extrem kurzen Statements und in "einfacher" Sprache lasse sich alles Wissen darstellen. Hinter diesem "Wikipedia-Glauben" an das Wissen verbirgt sich aber oft eine tiefe Unwissenheit, wie sich schnell an einer einfachen quadratischen Gleichung zeigen lässt.
Daher glaube ich, dass wir als einzelne Menschen wieder zu dem alten Satz "Ich weiß, dass ich nichts weiß" zurückkehren sollten, wenn wir mit dem Wissen richtig umgehen wollen. Diese fundamentale Bescheidenheit eröffnet erst die Möglichkeit, dass wir tatsächlich und wirklich etwas lernen.
ganz.
Meiner Meinung nach wurde die Alleinherrschaft der Männer gebrochen, die ich allerdings nirgendwo für genuin halte, sondern immer flankiert von Bereichen der Frauen, evtl. in Europa aber noch am wenigsten fehlgewichtet.
Es wurde allerdings auch die Herrschaft Europas gebrochen, aber durchaus auch als Selbstreflexion Europas.
Dann gefällt mir die Betonung nicht, mit der Herr Selmar Schülein die Videoaufnahmen der Feuer in den Flüchtlingsunterkünften in Griechenland wertet.
Man wird sehen, welche Fragen später einmal daran gestellt werden.
Gut, dass sie gespeichert werden können.
Vielleicht kennt aber Frau Assmann das Aufbewahren auch in einem anderen Bereich, der Familie?
Wenn ich alles aufbewahrt hätte, das mich an glückliche Momente erinnert hätte, hätte ich vielleicht das Glück verpasst, mit meinen Kindern leben zu können.
Aber jedesmal, wenn ich sie ansehe, erinnere ich mich.
Unser "archaisches" Gedächtnis speichert immer noch gewaltige Eindrücke/Kulturbrüche way back when?
Ein fantastisches Gespräch mit Aleida Assmann. Es verlangt nach mehr, nach einer Diskussion.
Die Frage an die Wissenschaftlerin "Haben Sie damals die neue Technologie sofort auch wissen-
schaftlich reflektiert, war mir wichtig.
Ja, wer bin ich wenn ich online bin, was macht mein Gehirn mit mir? Verändert sich mein Denken?
Mein Erinnerungsvermögen? Durchsuche ich das Internet nach Informationen in Momenten meiner mangelnden geistigen Energie zur Beherrschung der Medien? Eine Gefahr für mich wäre, daß ich im Internetzeitalter zu oberflächlich lese, schlechter lerne, die Erinnerung wird schwächer. Deshalb ist für mich ist das Lesen eines Buches nach längerer Zeit voller Spannung. Plötzlich finde ich unbekannte Inhalte, frühere Wichtigkeiten überlese ich. Ergo, habe ich mich verändert.
Diese Erkenntnis verdanke ich meinen Büchern.
Ich lande bei Sokrates mit seiner Behauptung "Ich
weiß, daß ich nicht(s) weiß". Er hinterfragt, was man zu wissen meint. Und wenn ich auch das nicht weiß?
... dumm war er bestimmt nicht.
Ob man die positive Verunsicherung realisieren kann, die von seinem Satz ausgeht , das hängt wohl davon ab, welche Qualitätsansprüche man an sich selbst, an die Assoziationen im eigenen Kopf zu stellen wagt. Ohne ein gewisses Gefühl für Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, für Wahrheit und Lüge kann man sich problemlos und schnell mit irgendwelchen Gedanken, Ideen und Phrasen zufrieden geben. Aber nur wenn man ein Gefühl für die genannten Begriffe hat, kann man Wissenschaft verstehen und betreiben.
Echtes Lernen kann man als Approximation, als fortwährende Annäherung erleben, die einen auf verschlungenen und manchmal auch schönen Bahnen allmählich näher an die Wahrheit bringt, jedenfalls wenn man ein wenig Glück hat. Bei mir ist das meistens an das Lesen von Texten gebunden, analog oder digital. Lernen ist daher auch als eine Selbstpositionierung in der historischen Entwicklung zu erleben. Wir stehen auf vielen fremden Schultern. Das ist spannend.
für Ihr Zugehen auf meinen Kommentar. Ihre Gedanken sind für mich sehr interessant.
Sokrates war gewiss nicht dumm. Dennoch: Wie philosophierten wohl Sokrates
und Platon über "s" oder nicht "s" miteinander? Gab es Ehrlichkeit im Wider-
spruch Sokrates zu Platons Sichtweise? "Ich weiß, daß ich nichts weiß, weiß
Platon (für mich Koketterie) über sich. Für Sokrates ein Widerspruch, weil dann
der Aussagende einerseits behauptet, nichts zu wissen, andererseits jedoch eben
dies als eigenes Wissen aussagt. Der Originalsatz enthält keine Aussage, über-
haupt nichts zu wissen, und weist daher keine unlogische Unstimmigkeit auf.
Nachzulesen bei Sokrates, nachzusprechen bei Platon?
Geschriebenes kann leicht zum "Gassenhauer" werden.
"Ein Buch, ein Buch würde Loriot schwärmen".