Die Lümmel von der ersten Bank
Sein berühmter Vorfahr gilt als Erfinder von Benimm und Etikette: Adolph Freiherr Knigge wurde zum Synonym für das, was sich schickt. Moritz Freiherr Knigge war für Cicero im Bundestag – und macht sich Sorgen um die politische Kultur.
Pünktlich um neun Uhr beginnt die Debatte. Oder bin ich in die Feuer-zangenbowle geraten? Bundestagspräsident Wolfgang Thierse begrüßt die Abgeordneten, sie haben sich von ihren Sitzen erhoben und erwidern den Gruß im Chor mit einem lautstarken „Guten Morgen, Herr Präsident!“ Ein Zeremoniell, das an die Schulzeit erinnert. Vorher haben sich rotgrüne Damen wie Schulmädchen gegenseitig umarmt und frottiert, als habe man sich auf eine Cola verabredet und nicht zur wichtigsten Debatte des Frühjahrs. „Umarme nicht jeden! Drücke nicht jeden an dein Herz!“, warnte einst Adolph von Knigge und plädierte für eine sichtbare Kultur der Unterschiede. Doch die Damen aus dem Regierungslager kuscheln offenbar gern.
Umgangsformen sind kein Zufall. Werfen wir also einen Blick auf die Umgangsformen unserer Volksvertreter: Sind sie Vorbild, Gradmesser, Gegenentwurf? Die Kunst des Umgangs sollte für alle Menschen gelten, aber besonders für diejenigen, die sich auf dem Präsentierteller befinden, wenn sie schon nicht ausnahmslos eine andere Ermahnung meines Vorfahren zu beherzigen scheinen: „Was aber noch heiliger als jede Vorschrift ist: Habe immer ein gutes Gewissen!“
An diesem Morgen sind die hinteren Reihen gut gefüllt, die vorderen nur spärlich. Es sind „die Lümmel von der ersten Bank“, die Herren Trittin, Schily und Westerwelle, die zu spät kommen. Völlig selbstverständlich werden sie nach Beginn der Debatte Platz nehmen. Möglicherweise glauben sie – frei nach dem Diktum, dass Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige sei – an den Umkehrschluss: dass Unpünktlichkeit eine angemessene Gepflogenheit der Demokratie sei. Währenddessen verhalten sich die „Hinterbänkler“ Meyer, Seehofer und Merz, allesamt ehemalige Spitzenpolitiker, nicht anders als unbeaufsichtigte Pubertierende, die den ungeliebten Unterricht absitzen müssen. Die einen haben Mühe, ihre Augen offen zu halten, die anderen schaffen es einfach nicht, ihre Hände zum Applaus zu rühren, selbst wenn die Redner aus dem eigenen Lager kommen. Und wehe dem, der sich vorne am Pult verspricht! Dem schallt unversehens ein genüssliches Gelächter aus den gegnerischen Reihen entgegen, als spreche er vor feixenden Pennälern. Da halte ich es doch lieber mit meinem Ahn Adolph: „Gewöhnlich erlaubt man sich alles, verzeiht sich alles, ist aber weniger duldend gegen die Verirrungen der Brüder. Das ist nicht gut getan.“ Wie wahr. Die überschwängliche Schadenfreude wirkt peinlich regressiv und ist an diesem Ort fehl am Platz. Und wenn die „Klassensprecherkandidatin“ Frau Merkel am Pult erscheint, verlässt ein Großteil der linken Seite des Plenums sogar demonstrativ den Raum – ist das gute demokratische Umgangsform? Oder simple Flegelei?
Es ist Donnerstag, der 17. März. Nach der viel beachteten Rede von Bundespräsident Horst Köhler erwartet man heute weitere politische Impulse und Weichenstellungen. Der „Jobgipfel“ soll endlich den Durchbruch auf dem dahinsiechenden Arbeitsmarkt bringen, und im gut gefüllten Plenum des Deutschen Bundestages wartet man gespannt auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers.
Beste Voraussetzungen also für meinen ersten Besuch im Reichstag und eine „messerscharfe“ Analyse mit Hilfe der „Kniggeschen Lupe“. Durch die schauen wir mit Grund. Denn ein grämlicher Benimmpapst war mein Vorfahre Adolph Freiherr Knigge keineswegs. Er wusste, dass der richtige Umgang mit dem Fischmesser längst nicht so wichtig ist wie eine souveräne Form des Umgangs, die Toleranz mit der Kunst des Sich-Einmischens verbindet. Mit einem Wort: Ihm ging es um soziale Strategien. Den Ruf des Benimmpapstes erhielt er erst später durch das zur führenden Gesellschaftsschicht aufsteigende Bürgertum, das seine Ratschläge zu starren Regeln verfestigte – und damit genau das tat, was er kritisierte, die Aushöhlung des gesellschaftlichen Miteinanders durch leere Formeln.
Zurück in die Gegenwart. Der heutige Tag beginnt mit ebenso ausgiebigem wie unverhohlenem Eigenlob. Natürlich gehört es zum Wesen einer Regierungserklärung, die eigenen Erfolge in den Vordergrund zu stellen. Dennoch ist es fraglich, ob des Kanzlers demonstrative Selbstzufriedenheit und seine lässige Pose – die eine Hand in der Hosentasche, die andere staatsmännisch in der Luft schwebend – der schwierigen Situation unseres Landes angemessen ist. Seine Körpersprache wirkt nicht kommunikativ, eher zwiespältig. Cool aussehen wollen und zugleich mächtig, das erinnert an die smarten Posen von Wirtschafts-Tycoons, an Michael Douglas in „Wall Street“, weniger an das Auftreten eines Volksvertreters.
Auf das Eigenlob folgt harsche Kritik. Natürlich gehört es wiederum zum Wesen der oppositionellen Rede, die Regierungsleistungen als unzureichend zu brandmarken. Doch als die Oppositionsführerin ans Rednerpult tritt, wartet man vergeblich auf einen Dialog oder gar eigene Konzepte: Zu hören ist ein einsamer Monolog, der weder auf Kanzler Schröder noch auf Präsident Köhler eingeht. Keine Konversation also, kein Wechselspiel, keine Kultur des Zuhörens, sondern einzig jene Taktik, vor der mein Vorfahr heftig warnte: „Enthülle niemals auf unedle Art die Schwächen deiner Nebenmenschen, um dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern!“
Ein Blick auf die Zuschauertribüne verrät schnell, wie diese ritualisierte Form des Umgangs die Gemüter derer, die die Debatte eigentlich betrifft, erhitzt: nämlich gar nicht. Es will sich zwar niemand die Blöße geben, im Hohen Haus einzuschlafen, die Augen offen zu halten fällt dennoch fast allen schwer. Und die Lümmel von der ersten Bank? Die lesen völlig ungeniert Zeitung, stöbern in Akten, unterzeichnen Briefe, hängen auf ihren Sesseln herum, als befänden sie sich auf der heimischen Fernseh-Couch vor einem langweiligen Programm, das sie am liebsten wegzappen würden. Menschlich, allzu menschlich? „Oft sind wir in dem Falle, dass uns durch Gespräche Langeweile gemacht wird“, wusste schon Adolph Freiherr Knigge. „Vernunft, Vorsicht und Menschenliebe gebieten uns dann, Geduld zu fassen und nicht durch beleidigendes Betragen unseren Überdruss zu erkennen zu geben.“ Hier aber ist die demonstrative Langeweile ohne Frage Programm. Sie gehört dazu. Das Ganze ist eine Zeremonie, ein bis ins kleinste Detail festgelegtes Ritual. Auch ein Ritual der Missachtung.
Dies ändert sich erst kurz vor Ende der Debatte, als Peer Steinbrück, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, ans Rednerpult tritt und die hohle Routine plötzlich durchbricht: Er habe manchmal den Eindruck, sagt Steinbrück, „dass zum einen die Art unserer öffentlichen Debatte und zum anderen die Art, wie wir politisch miteinander umgehen, mindestens ein so großes Hindernis sein könnte zur Realisierung von Reformen in der Bundesrepublik Deutschland wie die Schwierigkeiten selber.“
Potzblitz. Einen Moment lang malt sich ungläubiges Staunen auf den Gesichtern. Da sagt ja endlich jemand das, was alle hier denken! Denn genau das ist es, was diese Veranstaltung, die eine rhetorische Sternstunde und eine produktive Reibungsfläche sein könnte, zu einem entleerten Pflichtakt macht: Die Art unserer öffentlichen Debatte ist zur lustlosen Erfüllung von Choreografien geworden, gestritten wird in Talkshows, und die echte Politik findet anderswo statt, unsichtbar, hinter verschlossenen Türen. Ist das noch Demokratie? Steinbrücks Kritik ist aber auch ein Hinweis darauf, dass sich gutes Benehmen und gute Politik nicht voneinander trennen lassen. Denn wer im Wettstreit um die besten Ideen für unser Land überzeugen will, der braucht eine angemessene Kommunikationsstrategie, die es erlaubt, mit Unterschiedlichkeit umzugehen.
Die Höflichkeit ist eine solche Strategie – und den beobachteten Unsitten und Ritualen im Plenum bei weitem überlegen. Der höfliche Mensch leugnet nämlich keine Unterschiede. Für ihn sind nicht alle Menschen gut Freund, schon gar nicht alle gleich. Sie können sich fremd sein, verschiedenen sozialen Milieus, Hierarchien, Kulturen und nicht zuletzt unterschiedlichen politischen Parteien angehören. Der höfliche Mensch respektiert die Ungleichheit – aber nur unter einer Bedingung: dass es dem anderen wirklich „um etwas geht“, um das es zu streiten lohnt. Respekt und Wertschätzung aber sind es nicht, was schon äußerlich im Bundestag zu beobachten ist. Stattdessen frustriertes business as usual, ein lähmend ritualisierter Umgang der politisch Verantwortlichen. Kein Wunder, dass sich die Glaubwürdigkeit der politischen Entscheidungsträger im rapiden Sinkflug gegen null bewegt.
Kein Gipfelsturm also im Hohen Haus, nur etwas lauwarme Luft. Weder der Kanzler noch die Oppositionsführerin haben gekämpft, gestritten oder gar überzeugt. Und durch Umgangston und Verhalten haben sie deutlich gezeigt, was sie voneinander halten: nämlich wenig. Das Publikum – also wir, die Wähler, der Staat – fühlt sich zu Recht betrogen, auch um die Wählerstimme. Wie schrieb noch Adolph Freiherr Knigge zur Kunst des Überzeugens? „Zeige Vernunft und Kenntnisse, wo du Veranlassung dazu hast! Nicht so viel, um Neid zu erregen und Forderungen anzukündigen, aber nicht so wenig, um übersehen und überschrien zu werden!“
Moritz Freiherr Knigge ist Unternehmensberater mit Schwerpunkt Kommunikation und Mitarbeiterführung. Sein Buch „Spielregeln. Wie wir miteinander umgehen sollten“ erschien im Gustav Lübbe Verlag
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