Das Magazin - "Bitte betrachten Sie mich als einen Traum"

Peter Matic, Alexander Khuon, Ulrich Matthes, Peter Simonischek und Klaus Kammer lesen Franz Kafka. Und ein sprechender Hund sagt «Hunger»

Drei verschiedene Portraitfotos Franz Kafkas schmücken die Jubiläumsedition der Deutschen Grammophon. Da­rauf jeweils kaum zu erkennen,  wie eine von Gerhard Richter verwischte Fotografie: der Dichter im Moment seines Verschwin­­dens. Oder war er gar nie richtig da, in Fleisch und Blut, mit Stimme und Präsenz? Man denkt an eine der bekanntesten Kafka-Anekdoten: Als der Dichter einmal seinen Freund Max Brod besuchte, schlief dessen Vater auf dem Sofa, wurde aber durch Kafkas Erscheinen geweckt. Der beschwich­tigte entschuldigend: «Bitte betrachten Sie mich als einen Traum.»

Auch mit den verschwom­­menen Portraits wird ein anonymes Ungefähr, nicht Charakter und Kenntlichkeit annonciert, und das führt schon mitten in den Mythos: Kaum noch vorzustellen, dass der Schöpfer dieser ernsten Literatur nach allen Zeug­nissen seiner Freunde ein guter und vor allem witziger Vorleser war, dass seine Lesungen Kabinettstückchen der Unterhaltungs­kunst gewesen sein müssen! Wir wollen ihn lieber schwer und haben fast vergessen, auf die Geschichten selbst zu hören. Doch dann vernimmt man die Stimme der Kafka-Vorleser, und auf einmal ist der Text klarer gegenwärtig, als wenn wir das Buch aufschlügen. Wir können erst ein­mal gar nicht anders, als zuzuhören, Peter Matic etwa, der dem «Prozess» seine Stimme leiht. Der Text ist immer auf der Augenhöhe des Helden, die Bedrohlichkeit liegt in der Unübersichtlichkeit seiner Verhältnisse, und davor kann der Hörer, anders als etwa in einem konventionellen Kriminalfilm, nicht auf eine Warte höheren Überblicks fliehen. «Traumlogik» bei Kafka, das sagt sich so leicht! Hier wird aber keine gefühlte Realität beschrieben, sondern eine sehr ‹reale›, im klaren Kontinuum von Raum und Zeit. Und doch fehlt immer etwas, ein Motiv etwa, tritt etwas anderes überscharf hervor, werden die Räume nicht säuberlich voneinander abgegrenzt, sondern scheinen ineinander überzugehen. Peter Matic ist ein strenger Erzähler dieses Romans, der seine weiche und mit leichtem Wienerisch facettierte Stimme in den Dienst einer fast objektiven Erzählhaltung stellt. Er steht nicht auf der Seite des Angeklagten und Opfers, aber auch nicht auf Seiten des Gesetzes. Er begreift, dass Josef K. kein kleiner Wurm vor dem großen Apparat ist, sondern dass er auch durch seine Handlungen und durch sein Einverständnis die gegen ihn gerich­teten Maßnahmen auslöst. Matic ist also auf der Seite des Textes, dessen Ordnung er unbeirrt exekutiert. Dadurch gewinnt dieser «Prozess» an Übersicht: So und nicht anders steht der Roman da – nun höre!

Wie das auch und viel subjektiver klingen kann, hört, wer den «Process» in der Deutung der Patmos-Edition dagegensetzt. Hier wird der Roman in einer nicht recht plausiblen Aufteilung von drei Schauspielern gesprochen, unter denen besonders Alexander Khuon herausragt. Er liest den Text aus der Perspektive des Betroffenen, als ein überwältigendes Geschehen. In engagierter Nähe trifft er den Moment des unmittelbaren Erschreckens. Das ist deswegen von so großem Reiz, weil Khuon mit einer ungeheuer bewegten Intelligenz spricht: in einer sensiblen, nervös flackernden und genauen Nuancierung, mit der er den mitreißenden Fluss seines Lesens kontrolliert. Ulrich Matthes, der «Das Schloss» liest, ist Khuon nicht unähnlich, beide sind sie keine Vorleser des gesicherten, gravitätischen Rezitationsstils. Der schlanke Duktus von Matthes wirkt allerdings abgeklärter, reifer, ohne darüber an Spannkraft einzubüßen. Exzellent auch die Wahl von Peter Simonischek für den «Verschollenen». Dieser Roman ist am ehesten ein Märchen, die Reise eines Toren, der das Wundern noch nicht verlernt hat, ein Hans im Glück ohne Glück, der in der Schönen Neuen Welt («Der Verschollene» ist der frühere «Amerika»-Roman) als reich Beschenkter anfängt und als Armer endet. Simonischeks warme Stimme trägt am stärksten von allen hier Vorgestellten. Sie ruft das Vertrauen wach, in dem wir lagen, als wir noch nicht lesen konnten und uns darauf verlassen mussten, dass alles wirklich so dastand, wie es uns vorgelesen wurde.

Kafka zu hören und nicht bloß zu lesen, ist ein Stück Rückgewinn solcher Naivität. Für viele wird der erste gehörte Kafka wohl der «Bericht für eine Akademie» mit dem grandiosen Klaus Kammer sein, in dem ein Affe über seine Selbstdressur, seine Menschwerdung und Sprachfindung Auskunft gibt. Vor zwei Jahren war diese Aufnahme im Hamburger Museum für Kommunikation in der Ausstellung «Tiere lügen nicht» zu hören, dicht neben der Aufnahme eines sprechenden Hundes auf einem Phonografen aus dem Jahre 1912. Aus der Kehle eines Berliner Jagdhundes konnten wir inmitten des phonografischen Rauschens folgende Worte vernehmen: «Ruhe, Kuchen, Hunger, haben». Tiere lügen nicht – das hätte Kafka amüsiert.   

 

Franz Kafka
Der Prozess
Gelesen von Peter Matic.
Deutsche Grammophon, Berlin 2008. 7 CDs, 495 Min., 29,99 €
Das Schloss
Gelesen von Ulrich Matthes.
Deutsche Grammophon, Berlin 2008. 8 CDs, 620 Min., 29,99 €
Der Verschollene
Gelesen von Peter Simonischek.
Deutsche Grammophon, Berlin 2008. 8 CDs, 587 Min., 29,99 €
Der Process
Eingerichtete Lesung mit Mathieu Carriere, Alexander Khuon und Anja Niederfahrenhorst.
Patmos, Düsseldorf 2007. 6 CDs, 450 Min., 29,95 €
Bericht für eine Akademie
Gesprochen von Klaus Kammer.
Lübbe Audio, Bergisch Gladbach 2007. 1 CD, 33 Min., 7,95 €

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