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Angela Merkel - Machiavelli im Hosenanzug

Was hat ein Kneipenbesuch mit der Großen Koalition zu tun? Auf den ersten Blick wenig. Auf den zweiten eine ganze Menge. Angela Merkel und die utilitaristische Kneipenkoalition

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Der Tisch klebte. Rauch. Eine Kneipe im Halbdunkel. Spielautomaten, die ganz plötzlich aufheulten. Und wieder verstummten. Hinterm Tresen stand ein untersetzter Glatzkopf, ein fleischiger Monolith, mit tiefschwarzen Tränensacken. Ein gravitätischer Fixpunkt, um den sich andächtig die verlorenen Planeten urbanen Nachtlebens drehten. Hier und dort ein stoischer Held, der nur mit Blicken und reduzierten Gesten etwas anzufangen wusste. Worte waren hier Zugabe. Nett gemeintes Beiwerk, aber fehl am Platz – wie Handyladekabel in tibetanischen Wüsten.

Eine verschobene Szenerie wie geschaffen für verschobene Gestalten; um sich für die Dauer von Zigarette und Bier wie vollständig geerdete, systemrelevante Größen einer wie auch immer gearteten Zivilisation zu fühlen. Irgendwie. Irgendwo da draußen. Das waren wir tatsächlich. Teil – von etwas. Für diesen Moment. In dieser Bar. Siamese Twins von The Cure hätte gespielt werden müssen, um dieser Kulisse gerecht zu werden.

Ein Mann setzte sich neben mich. „Er weiß bescheid“, stieß er meinen Tischnachbarn an, um in einer geheimnisvollen Geste, einem kurzen Kopfnicken, zu signalisieren, dass man in Kürze ein Geheimnis, eine Geschichte teilen würde. Seine Geschichte. Der Mann mit den glasigen Augen, Ende 40, prahlte damit, gerade zwei Jugendlichen aber mal so richtig schön eine verpasst zu haben. Schließlich hatten die Rabauken Bier auf einen Bankautomaten geschüttet.  „Was soll ich da machen“, blickte er unschuldig fragend. „Zack, stieß ich sie mit ihren Köpfen zusammen.“

Zack, also. Tja. Was sollte er da auch machen? Ein Notleidender, der sich im Recht glaubte. Nur durch sein mutiges Einschreiten konnte er die Funktionsfähigkeit eines Bankautomaten aufrecht erhalten.

Zu späterer Stunde – die Bierlaune war längst zu einem pochenden Schmerz, zu einem „Nie wieder“ verkommen – stellte sich heraus, dass der Mann zu DDR-Zeiten für die Freiheit auf die Straße gegangen und dabei des Öfteren von Stasitrupps zusammengeschlagen worden war. Zweifelsohne also ein mutiger Mann. Ein Mann, der einst für die Freiheit der Gesellschaft und heute für Freiheit am Geldautomaten kämpft. Für den reibungslosen Ablauf monetärer Kapitalströme. Das zumindest ist irgendwie konsequent.

Erst später begriff ich, na klar, der Mann war Utilitarist. Der Kneipen-Hobbes des 21. Jahrhunderts.  Eben deshalb, weil er der festen Überzeugung war, dass er der Gesellschaft durch sein forsches Eingreifen einen Dienst erwiesen habe. Schlage zwei, rette alle. Eine Tat im Geiste der Vielen, der Mehrheit, die von nichtklebrigen Geldautomaten profitiert.

Im Grunde ganz im Sinne einer utilitaristischen Philosophie, die sich von dem lateinischen Wort utilitas (= der Nutzen) ableitet: Gut ist das, was der größtmöglichen Zahl der Menschen nützt.  Die Folgen einer Handlung sind also dann positiv, wenn sie einen möglichst hohen Nutzen für alle Beteiligten bringen.

Im Übrigen kann man dem Mann auch nur schwerlich einen Vorwurf machen. Denn die größten Utilitaristen sitzen bekanntermaßen ganz oben. In der Regierung. Man könnte Angela Merkel eine konsequente Utilitaristin nennen. Machiavelli in bunten Hosenanzügen – sozusagen. Mit dem kleinen Unterschied, dass Merkel ihre zwei Bubis von SPD und CSU nicht k.o. schlägt (obwohl das vielleicht sogar im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens wäre). Stattdessen trotzt sie ihnen Kompromisse ab. Zum vermeintlichen Wohl des ganzen Landes und ganz nebenbei zur selbstbezogenen Nutzenmaximierung: zum Erhalt der Macht, ihrer Kanzlerschaft. Ihr Utilitarismus hat insofern einen doppelten Kern. Ihre moralische Entscheidungen beruhen auf vermeintlich rationalen Überlegungen. Insofern steht sie mit Jeremy Bentham und John Stuart Mill in großer geistesgeschichtlicher Tradition.

Das Problem der Theorie aber: Was rational gedacht wird, ist immer auch normativ. Denn: Eine scheinbar kühle Kosten-Nutzen-Abwägung setzt immer eine subjektive Kategorisierung von Wertigkeit voraus. Das heißt, gewisse Eigenschaften, Verhaltensweisen werden als die bessern gewertet. Und genau hier liegt das Problem. Dass das Nutzentheorem in die absolute Selektion führen kann, zeigt ein anderes Beispiel: Die lesenswerte Zeitschrift Philosophie wagte in einem Interview mit dem bekennenden Utilitaristen Peter Singer ein bemerkenswertes Gedankenexperiment:

Philosophie Magazin: Unterwegs kommen Sie an einem brennenden Haus vorbei. Sie wissen, dass drinnen noch ein sehr schwer behindertes Kind und ein junges Kätzchen gefangen sind, haben aber nur Zeit, eines von beiden zu retten … Für wen entscheiden Sie sich?

Peter Singer: Das ist eine sehr schwierige theoretische Frage. Doch vorausgesetzt, dass einerseits das Kind so schwer behindert ist, dass sein Selbstbewusstsein annähernd null ist, und dass andererseits Eltern, die glücklich sind, sich um es zu kümmern, hierbei nicht mit ins Gewicht fallen, bin ich in der Tat der Ansicht, dass es aus einer utilitaristischen Sichtweise logisch sein kann, sich zur Rettung der Katze zu entscheiden, die ein größeres Verlangen nach Zukunft hat.

Utilitarismus in dieser Konsequenz zu Ende gedacht, hieße, dass aus einer vermeintlichen Nichtideologie eine gefährliche Philosophie wird, die den Kern von Vernunft und Ratio ad absurdum führt. Eine Theorie, die ohne göttliche Instanz auskommt, aber radikal gedacht den Kosten-Nutzen-kalkulierenden Utilitaristen selbst zu einer Art Gottheit erhebt.

Angela Merkel muss aufpassen, dass ihr Koordinatensystem der Vernunft kein absolutes wird. Dagegen spricht ihr unbedingter Wille zur Macht, der es sich nicht leisten kann, in Ideologien, in hermetisch abgeschlossenen Weltbildern, zu denken, sondern immer ein Ohr bei der Mehrheit hat, um Mehrheiten letztlich auch zu garantieren. Solange die halbwegs volatil sind, bleibt ihr Utilitarismus opportunistisch, aber harmlos.

Doch zurück zum Bankautomatenbeschützer. Im Grunde seines Herzens war er ein friedlicher Mensch. Kontaktfreudig, empathisch, mit klarem inneren Kompass für das, was Gut und Böse ist. Weil sich aber in einer freiheitlichen Gesellschaft das Böse nicht mehr so leicht vom Guten unterscheiden lässt, weil Böses viel zu oft auch im Gewand des Guten daherkommt, entlädt sich schon mal ein in einem Unrechtsstaat sozialisiertes Gerechtigkeitsgefühl vor einem gewöhnlichem Bankautomaten.

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