- «Alles ist verloren gegangen, alles»
Das zweite Leben des Sándor Márai – Privat-Schriftsteller, Exil-Ungar, verspäteter Kakanier
Der Vater hieß noch Sándor Grosschmid, die
Familie war aus Sachsen gekommen, aus der Nähe von Dresden, nach
Kaschau, in der heutigen Slowakei, damals Österreich-Ungarn, wo
Sándor Márai am 11. April 1900 geboren wurde. Und vor allem dieses
«Ungarn» hat Márai und seine Vorfahren geprägt: «Im Freiheitskampf
hielt es die Familie mit den Aufständischen, sie nahm einen
ungarischen Namen an. Nach Überzeugung und Verhalten waren sie auf
manische Weise Ungarn, ganz besonders mein Vater und sein jüngerer
Bruder. Dieser heftige, aufrichtige Patriotismus der aus der Fremde
zugewanderten Familie war eine eigenartige Erscheinung.»
Die «Überassimilation» hat sich bei Sándor Grosschmids berühmtestem Sohn in eine nie nachlassende Polemik gegen das kommunistische Nachkriegs-Ungarn verwandelt; aber vor allem auch in einen ausgeprägten Hang zur Eigenständigkeit verkehrt. Einen Hang, der sich im Übrigen so gar nicht nach dem Ruhme reckt, den der bis vor kurzem völlig vergessene tote weiße Mann Márai seit der Wiederentdeckung seiner Novelle «Glut» auf einmal genießt. Mit dem Gestus der Aufrichtigkeit und Unabhängigkeit, den der große Tagebuchschreiber Márai von Augustinus und Montaigne her kennt, nimmt er schroffe Positionen ein: «Mitleid, ich bin immer bereit, Mitleid zu empfinden, nur kann ich nicht umhin, die ungeborenen Gedanken mehr zu bedauern als die ungeborenen Kinder», schreibt er, dem 1940 ein zwei Jahre alter Sohn starb. Aber er erkennt auch schon früh das von Ressentiments durchsetzte Unterlegenheitsgefühl der eigenen Familie angesichts der reichen jüdischen Nachbarn im oberen Stock, das mit der herablassenden Haltung gegen die armen orthodoxen Juden im unteren Stock kompensiert wird: «Wir bedauerten diese Familie und akzeptierten sie», schreibt er in seinem autobiographischen Roman «Bekenntnisse eines Bürgers», «aber irgendwie so wie gebändigte Neger.» Also ist es doch dieses Beharren auf genauer Beobachtung jenseits aller Ideologie, dieser kühle, trockene, den Leser immer wieder brüskierende Stil eines alten Konservativen, der Márais neuen Ruhm ausgemacht hat? Ganz im Gegenteil: Dieser zweite Teil der Ehre kommt mit den neu aufgelegten Márai-Büchern im kleinen Berliner Oberbaum-Verlag erst jetzt. Glücklicherweise aber können sie sich am «Glut»-Rausch mitwärmen, der diese Novelle nach über einem Jahr noch immer auf den Bestseller-Listen hält, obwohl sie eher mittelmäßig ist …
Mittelmäßig?! Nicht im Sinne von mittelmäßig erzählt, ausdrücklich nicht. Das Buch passt sogar recht gut in jene Kategorie, die heute oft allzu freimütig geöffnet wird. Es ist «gehobene Unterhaltungsliteratur», wie es sie bis in die sechziger Jahre hinein zum Vergnügen vieler Leser gab; der Geist von Bildungsbürgertum light durchweht sie; zeitvergessen, aber spannend ist sie; doch leider auch von Sprach- und Gedankenkitsch durchzogen, wie man ihn auch aus den minder interessanten Werken von Stefan Zweig und Joseph Roth kennt: «Es gibt ein Gefühl, das nur die Männer kennen: Freundschaft ist sein Name.» Solche Weisheiten haben heute musealen Charme, unheimlich aber wird der schon bei seiner Entstehung verspätete Stil, wenn aus demselben Geist zu lesen steht: «Jetzt wird mit Feuer und Eisen besprochen und erledigt, was einmal besprochen werden muss.» Geschrieben hat Sándor Márai «Die Glut» zur rechten Zeit, im Jahre 1942.
Nein, Márai war kein «Nazi», er hat nur viel zu lange in Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes» gelesen. Vor allem aber gibt es ein paar schöne, selbstironische Sätze von ihm; in den Tagebüchern 1945–57, wo er erzählt, dass er am Ende seines Lebens wohl «nur noch Wörterbücher besitzen» werde, «und selbstverständlich werde ich dann auch meine eigenen Bücher nicht mehr in meinem Zimmer dulden. Ich bin viel anspruchsvoller als die Bücher, die ich geschrieben habe.» Immer gut, eine Pistole zu haben Diese Selbstdiagnose ist nicht nur kokett. Sie weist darauf hin, dass Márai, der fast nur Schriftsteller wie Pascal, Dostojewskij, Goethe, Thomas Mann und Borges gelten ließ, als Autor ein ähnlich unverkrampftes Verhältnis zur Unterhaltungsliteratur entwickelte wie etwa Graham Greene. Lange Zeit erschien pro Jahr mehr als ein Buch. Márai wollte nicht immer «große Werke» verfassen. Noch in seinem letzten Tagebuch erzählt der Sechsundachtzigjährige, er «schreibe keine schöngeistige Prosa mehr», aber einen Krimi: «Zeitung und Rundfunk posaunen in die Welt, dass in La Jolla ein Finanzmensch verhaftet wurde, der 125 Millionen Dollar von den Konten seiner Klienten unterschlagen hat. Behörden und Geschädigte zerbrechen sich den Kopf, wo er die Unmengen Geld versteckt hat. So einen Kerl möchte ich im Krimi beschreiben, seit Wochen schleiche ich um ihn herum.»Aus diesem Kerl kann man was machen, Márai hat den Krimi abgeschlossen, hoffentlich kommt das Manuskript aus dem Nachlass noch zum Vorschein. Doch bisher wirken nicht die «Begegnung in Bolzano», nicht «Die Eifer süchtigen», nicht «Die Nacht vor der Scheidung» wie Hauptwerke. Dazu gehören eher das Erinnerungsbuch «Land, Land», die «Bekenntnisse eines Bürgers», der Roman «Doch blieb er ein Fremder» und vor allem diese Tage bücher. In seinem letzten hat er, sozusagen nebenbei, einen großartigen Eheroman geschrieben, viel eindrucksvoller als all seine bisher bekannten, sozusagen offiziellen Eheromane.
Es sind viele, regelmäßige, oft nur wenige Zeilen lange Notate über das Sterben seiner Frau, das der selbst immer blindere, immer schlechter, «taumeliger» gehende, immer unsicherere alte Sándor Márai ohne jedes Selbstmitleid, ohne jede Sentimentalität begleitet: «L’s Augen werden nicht besser», heißt es noch ganz am Anfang des Leidens, «sie führt ein Stolperleben und ich stolpere mit ihr.» Monatelang sitzt der alte Mann am Bett der Kranken, mit der er seit zweiundsechzig Jahren verheiratet ist, die ihn kaum mehr wahrnimmt, kaum mehr reagieren kann. Manchmal ist er versucht, sich das Leben zu nehmen, wünscht sich einen gemeinsamen Tod. Immer wieder beschreibt er, wie ein Kontakt gerade noch zustande kommt oder scheitert, er erzählt von seinem Pflichtbewusst sein, seiner Überforderung durch das quälend gedehnte Ereignis Sterben, davon, wie gerne er einfach feige davon laufen würde. Man erlebt hier eine Auseinandersetzung mit dem Tod, die man so nirgendwo anders lesen kann. Immer wieder überlegt sich Márai den Selbstmord, kauft sich endlich eine Pistole, notiert dabei ir ri tiert, wie selbstverständlich dieser Waffenkauf vom Händler und einem Taxi-Chauffeur aufgenommen wird («Immer gut, eine zu haben»). Vier Monate später fährt er zum Ausbildungs camp der Ortspolizei von San Diego, wo Offiziere den Interessenten «gegen eine ziemlich hohe Gebühr beibringen, wie man mit Schusswaffen umgeht», lässt sich dort in der «Technik des Tötens, wenn man so will: des Mordes und des Selbst mordes» unterweisen. Márais Todesart ist umstritten, aber wahrscheinlich war es kein Unfall, wie die Bekannten wollten, sondern der Selbstmord, den der Arzt konstatierte. Vermutlich hat sich Sándor Márai am 21. Februar 1989 mit der Pistole erschossen, nachdem Lola, seine Frau, drei Jahre zuvor an Krebs gestorben war, wie kurz nach ihr auch der erst 46 Jahre alte Adoptivsohn János. Doch «La Jolla», «San Diego»? Wie kam es überhaupt dazu, dass das Leben des deutschstämmigen Ungarn Sándor Márai aus Kaschau schließlich in der südlichsten Stadt der USA zu Ende ging? Was schert den Dandy ein Weltkrieg Die erste Auslandserfahrung Márais hört sich harmlos an: ein Studienaufenthalt in Leipzig, wo Márai, der sein erstes Theaterstück auf Deutsch schrieb und in Kaschau schon mit vierzehn einen Feuilleton-Artikel veröffentlicht hatte, mit neunzehn Jahren «Zeitungskunde» zu studieren beginnt. Doch länger sitzt Márai im Café Merkur, wo damals 500 Zeitungen ausgelegen haben sollen. Schon bald gibt er das Studium auf – auf Anraten eines Lehrers, der ihn für unbegabt hält. Worauf sich Márai bei der «Frankfurter Zeitung» vorstellt, gleich einen Artikel schreiben darf und ein wenig bekannt wird. Früh übersetzt er Kafka («Das Urteil», «Die Verwandlung»), er fährt durch Deutschland, gerät immer wieder in örtliche Revolutionen, gebärdet sich in den rückblickenden «Bekenntnissen eines Bürgers» aber als Dandy, der sich um die Ereignisse nicht schert. Dabei hatte Márai noch im November 1918 an der Gründungsversammlung der «Aktivisten- und antinationalen Gruppe Kommunistischer Schriftsteller» teilgenommen und bald in der revolutionären «Roten Fahne» veröffentlicht, was ihn, schreibt László Rónay in einem Nachwort zu «Land, Land», nach dem Scheitern der Budapester Räterepublik vermutlich erst dazu gebracht hat, über Prag nach Leipzig zu gehen.
Mitte der zwanziger Jahre kommt der noch immer junge Journalist Márai nach Berlin: «Aber bitte sprechen Sie nur, das ist ja sehr interessant, gewiss ist die ungarische Literatur recht gut. Auch in Peru hat es eine sehr schöne alte Kultur gegeben. Erzählen Sie nur ruhig von der ungarischen Literatur.» So begegnet man in den Berliner Salons dem siebenundzwanzig Jahre alten Ungarn, dessen Leben Márai in seinem Exil-Roman «Doch blieb er ein Fremder» nachgeht. 1930 geschrieben, 1935 bei Holle & Co. zum ersten Mal auf Deutsch erschienen und eines seiner besten Bücher. Der junge Mann ärgert sich über die herablassende Haltung allem Ungarischen gegenüber, doch ansonsten ist er gut auf «die Deutschen» zu sprechen. Nicht nur, dass sie «eine Methode haben zum Leben», nein, es fällt ihm vor allem auf, «wie anständig, ernst und ehrfurchtsvoll diese Methode war: sie ließen alles, Fremdes und Ungewohntes, bereitwilligst auf sich einwirken», nur zu nahe kommen ließen sie sich nichts: «Und so blieb er ein wenig einsam unter ihnen, und das empfand er als angenehm, diese kühle Distanz und dieses unausgesprochene Respektieren der Verschiedenheiten.»Bald wird das ganz anders werden, die Roman-Veröffent lichung des «Fremden» von 1935 wirkt schon wie eine Erinnerung an Márais «besseres Deutschland», doch erstmal kann der Stipendiat, der in Ungarn eine kunstgeschichtliche Doktorarbeit über die Gotik geschrieben hat, leben lernen: Anfangs ist er noch in die Biblio theken gegangen, «dann, zu Frau Kramers erst leiser, später lauter Bestürzung, begann er, nachmittags um zwei, dann nachmittags um vier, dann nachmittags um sechs aufzustehen. Das war Frau Kramer schwer zu erklären. Es ist überhaupt schwer, einem Menschen sich selbst zu erklären.» Eine Sehnsucht nach Heimat Márais 450-Seiten-Roman, der noch immer zu den großen unbekannten modernen Büchern der Zwischenkriegszeit gehört, dehnt die Zeit anders als Thomas Manns «Zauberberg», erinnert in pathetischen Passagen an den Spätexpressionismus, verweist zurück auf die Rönne-Novellen Gottfried Benns und, auch wenn Imre Kertész das nicht hören möchte, noch einmal auf Joseph Roth. «Doch blieb er ein Fremder» beginnt nach der Berliner Zeit ein zweites Mal dort, wo Roths Roman «Flucht ohne Ende» schließt: beim Emigrantenleben in Paris, wohin der junge Mann aus Berlin aufgebrochen ist, ohne das irgend jemandem zu sagen.
In vielen gelassen schlingernden, sich immer weiter ziehenden Erzählkreisen lässt Márai seinen Helden in Paris die Identität eines osteuropäischen Provinzlers verlieren. Erst in der Erfahrung der Armut nach dem Ende des Stipendiums beginnt die eigentliche Emigration: Der junge Mann häutet Wild in einer Kältefabrik, er verkauft in einem Antiquariat, in dem nichts mehr verkauft werden soll; die unentschiedene Liebe zu einem franzö sischen Provinz-Mädchen lässt ihn mit ihr zurückfahren in ein bretonisches Dorf am Meer, wo die beiden einen leidenschaftlich-schwermütigen Sommer verbringen, ohne sich im mindesten näher zu kommen.
Ein Jahrzehnt vor Camus’ Roman «Der Fremde», lange vor Antonionis Film «L’Avventura» gelingt Márai vor dem Schauplatz Paris, jener Stadt, die sich noch nie um Fremde gekümmert hat, einer der ersten existenzialistischen Romane. Am Ende des Buchs plant Márais namenloser Held zuerst «nach Hause» zurückzugehen, bis ihm auf einmal bewusst wird, dass er eine Sehnsucht nach Heimat hat, von der er weiß, dass sie geographisch nicht erledigt werden kann, sondern ihn immer verfolgen wird, ob in Paris oder daheim in Gyarmat. Genauso wie die Verwandtschaft zu einigen Dingen und Orten, der Japanischen Sammlung im Louvre, den Fabriken von Billancourt.
Doch wenn das Leben für seinen Romanhelden offen bleibt: Márai selbst zieht Ende der zwanziger Jahre mit seiner Frau nach Budapest zurück. Er lebt in Buda, schreibt mit Thomas Manns «bürgerlicher Disziplin». Zwischen 1930 und 1939 entstehen nicht weni ger als sechzehn Bücher. 1942 veröffentlicht Márai seine konservative «Flugschrift in Sachen Erziehung der Nation», von der man nur hört, dass «sie viel Staub aufwirbelte» und die, auch auf Ungarisch schwer zu bekommen, man gerne auf Deutsch lesen würde. 27 Pfund Literatur 1944, als die deutschen Nazis mit dem ultrakonservativen Hórthy-Regime die Geduld verlieren und einmarschieren und Hórthy schließlich die Macht an die nazistischen Pfeilkreuzler abgibt, zieht sich Márai auf sein Sommerhaus in Leányfalu, ein Bauerndorf in der Nähe Budapests, zurück. Er mästet nach dem Vorbild des Schriftstellers Gyula Krúdy ein Schwein und beginnt sein Tagebuch systematisch zu führen. Rückblickend schreibt er 1945: «Seit zehn Monaten wohne ich nicht mehr in meiner Budapester Wohnung, habe keinen Arbeitsplatz, kein Einkommen und keine menschlichen Verbindungen mehr.» Er registriert die Judenverfolgung und hält sie in «Land, Land» später fest, was ihm Imre Kertész, den er als Jungen damals am Straßenrand gesehen haben könnte, mit der Aufnahme in sein «Galeerentagebuch» danken wird. Márai selbst blättert 1985 in seinem «Tagebuch ’43/’44», erinnert sich an den «irrwitzigen Massenmord vor vierzig Jahren» und wundert sich selbstkritisch, «wie zurückhaltend alles ist, was ich über diese Zeit schreibe.»1945–1948 veröffentlicht er noch einmal acht Bücher, doch, wie László Rónay schreibt, «die Luft wurde eng um ihn». Georg Lukács greift ihn als unbelehrbaren Konservativen an, und Márai hasst nichts so sehr wie den Versuch, auf sein Schreiben Einfluss zu nehmen. Im September 1948 verlässt Márai Budapest, um sich zuerst in Genf aufzuhalten, wo sein einundvierzig Jahre dauerndes Exil leben beginnt, doch noch im selben Jahr reist er weiter nach Neapel, wohin er sich alle seine Bücher nachschicken lässt, «die jetzt in der kommunistischen Papiermühle zu Brei gemahlen» werden. «Nach dem Ausweis der Post habe ich bis jetzt in meinem Leben 27 Pfund geschrieben; so viel wiegen meine Werke. Dieses Gewicht stimmt mich nachdenklich. Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein. Ich will nur noch 150 bis 200 Gramm schreiben.»
Zum ersten Mal ist Márai in einem Exil ohne Rückfahr karte. Er fühlt sich 1950 am Anfang und Ende zugleich und schreibt in sein Tagebuch: «Posillipo. Alles ist verlorengegangen, alles. Die Sprache, die Heimat, der Sinn der Arbeit, die Jugend. Alles ist nur mehr verpestete, in Verwesung übergehende Erinnerung. Ich bin endlich frei!» Márai scheint sich in Neapel einzuleben, doch was ihn dazu bewegt, schließlich nach New York weiterzuziehen, schreibt er nicht. 1952 meldet er siegesgewiss: «Ich habe meine ersten Steuern in Amerika bezahlt. Dies ist die Landnahme», doch als der Ungarn-Aufstand dort einen politischen Wandel zu bringen scheint, setzt er sich sofort ins Flugzeug. Die Enttäuschung ist umso größer. Später wird er im Tagebuch seiner verstorbenen Frau lesen und sich an diese Zeit vernichtend erinnern: «Mai 1967 das Packen. Die Liquidierung von 15 Jahren New York. Fünfzehn Jahre in einer Stadt, wo nichts mir Anhalt bot. Völliges Scheitern, menschlich und literarisch. Keine Zeile von mir auf Englisch.» Eines von Márais wohl wichtigsten Nachkriegsbüchern, «Das Blut von San Gennaro», das er 1965 im Selbstverlag veröffentlichen muss te, war schon zum neapolitanischen Wunder-Heiligen zurückgekehrt, bevor der ewig unruhige Márai selbst Amerika, noch einmal in Richtung Italien, diesmal nach Sorrent, verließ. Zehn Jahre blieb er dort. Dann kam er nach San Diego, wo der Adoptivsohn János lebte.
Wie ein anderer Osteuropäer im neapolitanischen Exil, der vor kurzem verstorbene Pole Gustaw Herling, profitierte Márai von der Wende. Was beiden vor 1989 als verbohrter Anti-Kommunismus zur Last gelegt wurde, wurde danach in der öffentlichen Wertung plötzlich zu ihrer Chance. Seit 1989 erlebt Ungarn eine ausgedehnte Márai-Renaissance: Mit dem Kossúth-Preis erhielt der lange Verkannte noch im Todesjahr posthum die damals wichtigste staat liche Literatur-Auszeichnung.
Warum? Wenn er doch nicht wenige mittelmäßige Romane geschrieben hat? Die jetzt im Oberbaum-Verlag vorliegenden anderen Bücher sind schon Beweis genug für Márais Klasse. In ihnen war er einer jener großen Privat-Schriftsteller, deren Denken unablässig um das Verhält nis des einzelnen Menschen zur Welt kreist, so aufmerksam wie unablässig mürrisch-nörgelnd. Am 24. Januar 1987 notiert er: «Fast ein Pflanzen leben. Selten ein paar Schritte vors Haus. Die Schwäche zwingt mich nach einigen Schritten zum Hinsetzen, und sei es auf eine Treppenstufe. Auch in der Wohnung muss ich Pausen einlegen, wenn ich aus einem Zimmer in ein anderes gehe. Gelegentlich schreibe ich einen Antwortbrief, matter of fact. Sonst nichts. Was ich vor dem Lichtausmachen lesen möchte – Sophokles, Cervantes, Arany – ist seit Monaten unangerührt. Überdruss, wenn mir das Wort ‹Literatur› einfällt. Jedes Wort verhüllt die Wirklichkeit nur, zeigt sie nicht.» ||
Bücher von Sándor Márai
Die Glut. Roman Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Christina Viragh. Piper, München 1999. 242 S., 24 DM
Das Vermächtnis der Eszter. Roman Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Piper, München 2000. 165 S., 32 DM
Land, Land. Erinnerungen in zwei Bänden Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 214 und 168 S., je 38 DM
Bekenntnisse eines Bürgers. Roman in zwei Bänden Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 199 und 222 S., je 38 DM (als TB bei Piper 2000, 416 S., 19,90 DM)
Tagebücher 1 (Auszüge, Fotos, Briefe und Dokumentationen) Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 116 S., 34 DM
Tagebücher 2 (1984–89) Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 155 S., 38 DM
Der Wind kommt vom Westen. Amerikanische Reisebilder Aus dem Ungarischen von Artur Saternus. Langen Müller, München 2000. 200 S., 29,90 DM
Himmel und Erde. Betrachtungen Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner.
Die «Überassimilation» hat sich bei Sándor Grosschmids berühmtestem Sohn in eine nie nachlassende Polemik gegen das kommunistische Nachkriegs-Ungarn verwandelt; aber vor allem auch in einen ausgeprägten Hang zur Eigenständigkeit verkehrt. Einen Hang, der sich im Übrigen so gar nicht nach dem Ruhme reckt, den der bis vor kurzem völlig vergessene tote weiße Mann Márai seit der Wiederentdeckung seiner Novelle «Glut» auf einmal genießt. Mit dem Gestus der Aufrichtigkeit und Unabhängigkeit, den der große Tagebuchschreiber Márai von Augustinus und Montaigne her kennt, nimmt er schroffe Positionen ein: «Mitleid, ich bin immer bereit, Mitleid zu empfinden, nur kann ich nicht umhin, die ungeborenen Gedanken mehr zu bedauern als die ungeborenen Kinder», schreibt er, dem 1940 ein zwei Jahre alter Sohn starb. Aber er erkennt auch schon früh das von Ressentiments durchsetzte Unterlegenheitsgefühl der eigenen Familie angesichts der reichen jüdischen Nachbarn im oberen Stock, das mit der herablassenden Haltung gegen die armen orthodoxen Juden im unteren Stock kompensiert wird: «Wir bedauerten diese Familie und akzeptierten sie», schreibt er in seinem autobiographischen Roman «Bekenntnisse eines Bürgers», «aber irgendwie so wie gebändigte Neger.» Also ist es doch dieses Beharren auf genauer Beobachtung jenseits aller Ideologie, dieser kühle, trockene, den Leser immer wieder brüskierende Stil eines alten Konservativen, der Márais neuen Ruhm ausgemacht hat? Ganz im Gegenteil: Dieser zweite Teil der Ehre kommt mit den neu aufgelegten Márai-Büchern im kleinen Berliner Oberbaum-Verlag erst jetzt. Glücklicherweise aber können sie sich am «Glut»-Rausch mitwärmen, der diese Novelle nach über einem Jahr noch immer auf den Bestseller-Listen hält, obwohl sie eher mittelmäßig ist …
Mittelmäßig?! Nicht im Sinne von mittelmäßig erzählt, ausdrücklich nicht. Das Buch passt sogar recht gut in jene Kategorie, die heute oft allzu freimütig geöffnet wird. Es ist «gehobene Unterhaltungsliteratur», wie es sie bis in die sechziger Jahre hinein zum Vergnügen vieler Leser gab; der Geist von Bildungsbürgertum light durchweht sie; zeitvergessen, aber spannend ist sie; doch leider auch von Sprach- und Gedankenkitsch durchzogen, wie man ihn auch aus den minder interessanten Werken von Stefan Zweig und Joseph Roth kennt: «Es gibt ein Gefühl, das nur die Männer kennen: Freundschaft ist sein Name.» Solche Weisheiten haben heute musealen Charme, unheimlich aber wird der schon bei seiner Entstehung verspätete Stil, wenn aus demselben Geist zu lesen steht: «Jetzt wird mit Feuer und Eisen besprochen und erledigt, was einmal besprochen werden muss.» Geschrieben hat Sándor Márai «Die Glut» zur rechten Zeit, im Jahre 1942.
Nein, Márai war kein «Nazi», er hat nur viel zu lange in Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes» gelesen. Vor allem aber gibt es ein paar schöne, selbstironische Sätze von ihm; in den Tagebüchern 1945–57, wo er erzählt, dass er am Ende seines Lebens wohl «nur noch Wörterbücher besitzen» werde, «und selbstverständlich werde ich dann auch meine eigenen Bücher nicht mehr in meinem Zimmer dulden. Ich bin viel anspruchsvoller als die Bücher, die ich geschrieben habe.» Immer gut, eine Pistole zu haben Diese Selbstdiagnose ist nicht nur kokett. Sie weist darauf hin, dass Márai, der fast nur Schriftsteller wie Pascal, Dostojewskij, Goethe, Thomas Mann und Borges gelten ließ, als Autor ein ähnlich unverkrampftes Verhältnis zur Unterhaltungsliteratur entwickelte wie etwa Graham Greene. Lange Zeit erschien pro Jahr mehr als ein Buch. Márai wollte nicht immer «große Werke» verfassen. Noch in seinem letzten Tagebuch erzählt der Sechsundachtzigjährige, er «schreibe keine schöngeistige Prosa mehr», aber einen Krimi: «Zeitung und Rundfunk posaunen in die Welt, dass in La Jolla ein Finanzmensch verhaftet wurde, der 125 Millionen Dollar von den Konten seiner Klienten unterschlagen hat. Behörden und Geschädigte zerbrechen sich den Kopf, wo er die Unmengen Geld versteckt hat. So einen Kerl möchte ich im Krimi beschreiben, seit Wochen schleiche ich um ihn herum.»Aus diesem Kerl kann man was machen, Márai hat den Krimi abgeschlossen, hoffentlich kommt das Manuskript aus dem Nachlass noch zum Vorschein. Doch bisher wirken nicht die «Begegnung in Bolzano», nicht «Die Eifer süchtigen», nicht «Die Nacht vor der Scheidung» wie Hauptwerke. Dazu gehören eher das Erinnerungsbuch «Land, Land», die «Bekenntnisse eines Bürgers», der Roman «Doch blieb er ein Fremder» und vor allem diese Tage bücher. In seinem letzten hat er, sozusagen nebenbei, einen großartigen Eheroman geschrieben, viel eindrucksvoller als all seine bisher bekannten, sozusagen offiziellen Eheromane.
Es sind viele, regelmäßige, oft nur wenige Zeilen lange Notate über das Sterben seiner Frau, das der selbst immer blindere, immer schlechter, «taumeliger» gehende, immer unsicherere alte Sándor Márai ohne jedes Selbstmitleid, ohne jede Sentimentalität begleitet: «L’s Augen werden nicht besser», heißt es noch ganz am Anfang des Leidens, «sie führt ein Stolperleben und ich stolpere mit ihr.» Monatelang sitzt der alte Mann am Bett der Kranken, mit der er seit zweiundsechzig Jahren verheiratet ist, die ihn kaum mehr wahrnimmt, kaum mehr reagieren kann. Manchmal ist er versucht, sich das Leben zu nehmen, wünscht sich einen gemeinsamen Tod. Immer wieder beschreibt er, wie ein Kontakt gerade noch zustande kommt oder scheitert, er erzählt von seinem Pflichtbewusst sein, seiner Überforderung durch das quälend gedehnte Ereignis Sterben, davon, wie gerne er einfach feige davon laufen würde. Man erlebt hier eine Auseinandersetzung mit dem Tod, die man so nirgendwo anders lesen kann. Immer wieder überlegt sich Márai den Selbstmord, kauft sich endlich eine Pistole, notiert dabei ir ri tiert, wie selbstverständlich dieser Waffenkauf vom Händler und einem Taxi-Chauffeur aufgenommen wird («Immer gut, eine zu haben»). Vier Monate später fährt er zum Ausbildungs camp der Ortspolizei von San Diego, wo Offiziere den Interessenten «gegen eine ziemlich hohe Gebühr beibringen, wie man mit Schusswaffen umgeht», lässt sich dort in der «Technik des Tötens, wenn man so will: des Mordes und des Selbst mordes» unterweisen. Márais Todesart ist umstritten, aber wahrscheinlich war es kein Unfall, wie die Bekannten wollten, sondern der Selbstmord, den der Arzt konstatierte. Vermutlich hat sich Sándor Márai am 21. Februar 1989 mit der Pistole erschossen, nachdem Lola, seine Frau, drei Jahre zuvor an Krebs gestorben war, wie kurz nach ihr auch der erst 46 Jahre alte Adoptivsohn János. Doch «La Jolla», «San Diego»? Wie kam es überhaupt dazu, dass das Leben des deutschstämmigen Ungarn Sándor Márai aus Kaschau schließlich in der südlichsten Stadt der USA zu Ende ging? Was schert den Dandy ein Weltkrieg Die erste Auslandserfahrung Márais hört sich harmlos an: ein Studienaufenthalt in Leipzig, wo Márai, der sein erstes Theaterstück auf Deutsch schrieb und in Kaschau schon mit vierzehn einen Feuilleton-Artikel veröffentlicht hatte, mit neunzehn Jahren «Zeitungskunde» zu studieren beginnt. Doch länger sitzt Márai im Café Merkur, wo damals 500 Zeitungen ausgelegen haben sollen. Schon bald gibt er das Studium auf – auf Anraten eines Lehrers, der ihn für unbegabt hält. Worauf sich Márai bei der «Frankfurter Zeitung» vorstellt, gleich einen Artikel schreiben darf und ein wenig bekannt wird. Früh übersetzt er Kafka («Das Urteil», «Die Verwandlung»), er fährt durch Deutschland, gerät immer wieder in örtliche Revolutionen, gebärdet sich in den rückblickenden «Bekenntnissen eines Bürgers» aber als Dandy, der sich um die Ereignisse nicht schert. Dabei hatte Márai noch im November 1918 an der Gründungsversammlung der «Aktivisten- und antinationalen Gruppe Kommunistischer Schriftsteller» teilgenommen und bald in der revolutionären «Roten Fahne» veröffentlicht, was ihn, schreibt László Rónay in einem Nachwort zu «Land, Land», nach dem Scheitern der Budapester Räterepublik vermutlich erst dazu gebracht hat, über Prag nach Leipzig zu gehen.
Mitte der zwanziger Jahre kommt der noch immer junge Journalist Márai nach Berlin: «Aber bitte sprechen Sie nur, das ist ja sehr interessant, gewiss ist die ungarische Literatur recht gut. Auch in Peru hat es eine sehr schöne alte Kultur gegeben. Erzählen Sie nur ruhig von der ungarischen Literatur.» So begegnet man in den Berliner Salons dem siebenundzwanzig Jahre alten Ungarn, dessen Leben Márai in seinem Exil-Roman «Doch blieb er ein Fremder» nachgeht. 1930 geschrieben, 1935 bei Holle & Co. zum ersten Mal auf Deutsch erschienen und eines seiner besten Bücher. Der junge Mann ärgert sich über die herablassende Haltung allem Ungarischen gegenüber, doch ansonsten ist er gut auf «die Deutschen» zu sprechen. Nicht nur, dass sie «eine Methode haben zum Leben», nein, es fällt ihm vor allem auf, «wie anständig, ernst und ehrfurchtsvoll diese Methode war: sie ließen alles, Fremdes und Ungewohntes, bereitwilligst auf sich einwirken», nur zu nahe kommen ließen sie sich nichts: «Und so blieb er ein wenig einsam unter ihnen, und das empfand er als angenehm, diese kühle Distanz und dieses unausgesprochene Respektieren der Verschiedenheiten.»Bald wird das ganz anders werden, die Roman-Veröffent lichung des «Fremden» von 1935 wirkt schon wie eine Erinnerung an Márais «besseres Deutschland», doch erstmal kann der Stipendiat, der in Ungarn eine kunstgeschichtliche Doktorarbeit über die Gotik geschrieben hat, leben lernen: Anfangs ist er noch in die Biblio theken gegangen, «dann, zu Frau Kramers erst leiser, später lauter Bestürzung, begann er, nachmittags um zwei, dann nachmittags um vier, dann nachmittags um sechs aufzustehen. Das war Frau Kramer schwer zu erklären. Es ist überhaupt schwer, einem Menschen sich selbst zu erklären.» Eine Sehnsucht nach Heimat Márais 450-Seiten-Roman, der noch immer zu den großen unbekannten modernen Büchern der Zwischenkriegszeit gehört, dehnt die Zeit anders als Thomas Manns «Zauberberg», erinnert in pathetischen Passagen an den Spätexpressionismus, verweist zurück auf die Rönne-Novellen Gottfried Benns und, auch wenn Imre Kertész das nicht hören möchte, noch einmal auf Joseph Roth. «Doch blieb er ein Fremder» beginnt nach der Berliner Zeit ein zweites Mal dort, wo Roths Roman «Flucht ohne Ende» schließt: beim Emigrantenleben in Paris, wohin der junge Mann aus Berlin aufgebrochen ist, ohne das irgend jemandem zu sagen.
In vielen gelassen schlingernden, sich immer weiter ziehenden Erzählkreisen lässt Márai seinen Helden in Paris die Identität eines osteuropäischen Provinzlers verlieren. Erst in der Erfahrung der Armut nach dem Ende des Stipendiums beginnt die eigentliche Emigration: Der junge Mann häutet Wild in einer Kältefabrik, er verkauft in einem Antiquariat, in dem nichts mehr verkauft werden soll; die unentschiedene Liebe zu einem franzö sischen Provinz-Mädchen lässt ihn mit ihr zurückfahren in ein bretonisches Dorf am Meer, wo die beiden einen leidenschaftlich-schwermütigen Sommer verbringen, ohne sich im mindesten näher zu kommen.
Ein Jahrzehnt vor Camus’ Roman «Der Fremde», lange vor Antonionis Film «L’Avventura» gelingt Márai vor dem Schauplatz Paris, jener Stadt, die sich noch nie um Fremde gekümmert hat, einer der ersten existenzialistischen Romane. Am Ende des Buchs plant Márais namenloser Held zuerst «nach Hause» zurückzugehen, bis ihm auf einmal bewusst wird, dass er eine Sehnsucht nach Heimat hat, von der er weiß, dass sie geographisch nicht erledigt werden kann, sondern ihn immer verfolgen wird, ob in Paris oder daheim in Gyarmat. Genauso wie die Verwandtschaft zu einigen Dingen und Orten, der Japanischen Sammlung im Louvre, den Fabriken von Billancourt.
Doch wenn das Leben für seinen Romanhelden offen bleibt: Márai selbst zieht Ende der zwanziger Jahre mit seiner Frau nach Budapest zurück. Er lebt in Buda, schreibt mit Thomas Manns «bürgerlicher Disziplin». Zwischen 1930 und 1939 entstehen nicht weni ger als sechzehn Bücher. 1942 veröffentlicht Márai seine konservative «Flugschrift in Sachen Erziehung der Nation», von der man nur hört, dass «sie viel Staub aufwirbelte» und die, auch auf Ungarisch schwer zu bekommen, man gerne auf Deutsch lesen würde. 27 Pfund Literatur 1944, als die deutschen Nazis mit dem ultrakonservativen Hórthy-Regime die Geduld verlieren und einmarschieren und Hórthy schließlich die Macht an die nazistischen Pfeilkreuzler abgibt, zieht sich Márai auf sein Sommerhaus in Leányfalu, ein Bauerndorf in der Nähe Budapests, zurück. Er mästet nach dem Vorbild des Schriftstellers Gyula Krúdy ein Schwein und beginnt sein Tagebuch systematisch zu führen. Rückblickend schreibt er 1945: «Seit zehn Monaten wohne ich nicht mehr in meiner Budapester Wohnung, habe keinen Arbeitsplatz, kein Einkommen und keine menschlichen Verbindungen mehr.» Er registriert die Judenverfolgung und hält sie in «Land, Land» später fest, was ihm Imre Kertész, den er als Jungen damals am Straßenrand gesehen haben könnte, mit der Aufnahme in sein «Galeerentagebuch» danken wird. Márai selbst blättert 1985 in seinem «Tagebuch ’43/’44», erinnert sich an den «irrwitzigen Massenmord vor vierzig Jahren» und wundert sich selbstkritisch, «wie zurückhaltend alles ist, was ich über diese Zeit schreibe.»1945–1948 veröffentlicht er noch einmal acht Bücher, doch, wie László Rónay schreibt, «die Luft wurde eng um ihn». Georg Lukács greift ihn als unbelehrbaren Konservativen an, und Márai hasst nichts so sehr wie den Versuch, auf sein Schreiben Einfluss zu nehmen. Im September 1948 verlässt Márai Budapest, um sich zuerst in Genf aufzuhalten, wo sein einundvierzig Jahre dauerndes Exil leben beginnt, doch noch im selben Jahr reist er weiter nach Neapel, wohin er sich alle seine Bücher nachschicken lässt, «die jetzt in der kommunistischen Papiermühle zu Brei gemahlen» werden. «Nach dem Ausweis der Post habe ich bis jetzt in meinem Leben 27 Pfund geschrieben; so viel wiegen meine Werke. Dieses Gewicht stimmt mich nachdenklich. Ich werde in Zukunft vorsichtiger sein. Ich will nur noch 150 bis 200 Gramm schreiben.»
Zum ersten Mal ist Márai in einem Exil ohne Rückfahr karte. Er fühlt sich 1950 am Anfang und Ende zugleich und schreibt in sein Tagebuch: «Posillipo. Alles ist verlorengegangen, alles. Die Sprache, die Heimat, der Sinn der Arbeit, die Jugend. Alles ist nur mehr verpestete, in Verwesung übergehende Erinnerung. Ich bin endlich frei!» Márai scheint sich in Neapel einzuleben, doch was ihn dazu bewegt, schließlich nach New York weiterzuziehen, schreibt er nicht. 1952 meldet er siegesgewiss: «Ich habe meine ersten Steuern in Amerika bezahlt. Dies ist die Landnahme», doch als der Ungarn-Aufstand dort einen politischen Wandel zu bringen scheint, setzt er sich sofort ins Flugzeug. Die Enttäuschung ist umso größer. Später wird er im Tagebuch seiner verstorbenen Frau lesen und sich an diese Zeit vernichtend erinnern: «Mai 1967 das Packen. Die Liquidierung von 15 Jahren New York. Fünfzehn Jahre in einer Stadt, wo nichts mir Anhalt bot. Völliges Scheitern, menschlich und literarisch. Keine Zeile von mir auf Englisch.» Eines von Márais wohl wichtigsten Nachkriegsbüchern, «Das Blut von San Gennaro», das er 1965 im Selbstverlag veröffentlichen muss te, war schon zum neapolitanischen Wunder-Heiligen zurückgekehrt, bevor der ewig unruhige Márai selbst Amerika, noch einmal in Richtung Italien, diesmal nach Sorrent, verließ. Zehn Jahre blieb er dort. Dann kam er nach San Diego, wo der Adoptivsohn János lebte.
Wie ein anderer Osteuropäer im neapolitanischen Exil, der vor kurzem verstorbene Pole Gustaw Herling, profitierte Márai von der Wende. Was beiden vor 1989 als verbohrter Anti-Kommunismus zur Last gelegt wurde, wurde danach in der öffentlichen Wertung plötzlich zu ihrer Chance. Seit 1989 erlebt Ungarn eine ausgedehnte Márai-Renaissance: Mit dem Kossúth-Preis erhielt der lange Verkannte noch im Todesjahr posthum die damals wichtigste staat liche Literatur-Auszeichnung.
Warum? Wenn er doch nicht wenige mittelmäßige Romane geschrieben hat? Die jetzt im Oberbaum-Verlag vorliegenden anderen Bücher sind schon Beweis genug für Márais Klasse. In ihnen war er einer jener großen Privat-Schriftsteller, deren Denken unablässig um das Verhält nis des einzelnen Menschen zur Welt kreist, so aufmerksam wie unablässig mürrisch-nörgelnd. Am 24. Januar 1987 notiert er: «Fast ein Pflanzen leben. Selten ein paar Schritte vors Haus. Die Schwäche zwingt mich nach einigen Schritten zum Hinsetzen, und sei es auf eine Treppenstufe. Auch in der Wohnung muss ich Pausen einlegen, wenn ich aus einem Zimmer in ein anderes gehe. Gelegentlich schreibe ich einen Antwortbrief, matter of fact. Sonst nichts. Was ich vor dem Lichtausmachen lesen möchte – Sophokles, Cervantes, Arany – ist seit Monaten unangerührt. Überdruss, wenn mir das Wort ‹Literatur› einfällt. Jedes Wort verhüllt die Wirklichkeit nur, zeigt sie nicht.» ||
Bücher von Sándor Márai
Die Glut. Roman Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Christina Viragh. Piper, München 1999. 242 S., 24 DM
Das Vermächtnis der Eszter. Roman Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Piper, München 2000. 165 S., 32 DM
Land, Land. Erinnerungen in zwei Bänden Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 214 und 168 S., je 38 DM
Bekenntnisse eines Bürgers. Roman in zwei Bänden Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 199 und 222 S., je 38 DM (als TB bei Piper 2000, 416 S., 19,90 DM)
Tagebücher 1 (Auszüge, Fotos, Briefe und Dokumentationen) Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 116 S., 34 DM
Tagebücher 2 (1984–89) Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Oberbaum, Berlin 2000. 155 S., 38 DM
Der Wind kommt vom Westen. Amerikanische Reisebilder Aus dem Ungarischen von Artur Saternus. Langen Müller, München 2000. 200 S., 29,90 DM
Himmel und Erde. Betrachtungen Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner.
Piper, München (erscheint im Januar 2001). 300 S., 38 DM
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