- Nobelpreisträger, der mit der Wahrheit trickst
Der Palästinenser Raji Sourani erhält den Alternativen Nobelpreis 2013. Seit Jahrzehnten kämpft der Anwalt in Gaza für Gerechtigkeit. Doch so unparteiisch, wie die Jury behauptet, ist Sourani nicht
Raji Sourani lächelt viel in diesen Tagen. Auf Dutzenden Fotografien erscheint sein verschmitztes Lachen, weil Redaktionen eben Nobelpreisgewinner so bebildern: mit rosigem Gesicht und freundlicher Miene. Einzig an der wechselnden Haarfarbe könnte man erkennen, dass manche dieser Bilder schon alt sind. In Wahrheit lächelt Sourani, mittlerweile ergraut, in letzter Zeit nicht oft.
Denn Raji Sourani, der Mann, der vor Kurzem mit dem „Alternativen Nobelpreis“ 2013 ausgezeichnet wurde, stammt aus Gaza. Zudem ist er Menschenrechtler. In diesen Zeiten ist das keine Kombination, die berufliche Zufriedenheit verspricht.
Am Tag, an dem Sourani für seine Arbeit als Menschenrechtler geehrt wird, ist der Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten seit Wochen geschlossen. Was an Gütern in Gaza fehlt, wird über den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom transportiert: Äpfel, Mehl, Propangas zum Kochen. Doch trotz UN-Hilfe reicht es nicht. Den 1,7 Millionen Menschen fehlt es an Vielem. Die regierende Hamas hat Angst vor dem Winter, aber vor allem hat sie Angst vor einem Frühling.
Zweimal dem Tod entronnen
Als Raji Sourani 1953 geboren wurde, der Spross einer alten Gazaner Familie, gab es die Hamas noch nicht. Auch einen Staat „Palästina“ gab es nicht. Ägypten besetzte damals den Gaza-Streifen. Vier Jahre war der Unabhängigkeitskrieg Israels vorbei, seit vier Jahren gedachten Palästinenser der „Nakba“, der Katastrophe, dem Unrecht des Landraubs. In dieser Umgebung wächst er auf.
Als Sourani später ins ägyptische Alexandria zieht, um Recht zu studieren, ist Gaza schon von Israel erobert. Nach dem Abschluss kehrt der 23-Jährige zurück in den besetzten Küstenstreifen. Sourani, der Staatenlose, wird Anwalt in seiner Heimat.
[gallery:Sozialarbeiter mit Raketen]
Ich traf Raji Sourani erstmals im Dezember 2012 in Gaza-Stadt, er empfing mich in seinem Büro. Der letzte Krieg war erst zwei Wochen vorbei; vergangen war er nicht. „Ich glaube, ich bin dem Tod zweimal entronnen“, sagte Sourani. Im Durchschnitt alle sechs Minuten war während des Gaza-Krieges irgendwo ein Geschoss eingeschlagen, Tag und Nacht, eine Woche lang.
1995 hatte Sourani das „Palästinensische Zentrum für Menschenrechte“, kurz PCHR, gegründet, in dem er mich nun willkommen hieß. Bis heute leitet er es. In Wandfächern hängen, nach Monat und Sprache sortiert, mehr als hundert Menschenrechtsberichte und warten auf ihre Leser. Auf Plakaten lese ich Zitate von Ché Guavara und Voltaire, den Kanonikern des Freiheitskampfes.
Sourani ist nicht nur das Hirn dieser Organisation, er ist auch ihr Herz. Mehr als 50 Mitarbeiter arbeiten für ihn und das Recht – Anwälte, Faktensammler, Spendeneintreiber. Sie tragen Daten zusammen, befragen Verwandte von Opfern, bereiten Klagen vor. Und sie protestieren in den Medien. Doch von den fast 500 Klagen, die nach dem Gaza-Krieg „Gegossenes Blei“ 2008/9 vom PCHR bei dem israelischen Militärstaatsanwalt eingereicht wurden, erhielten sie nach eigenen Angaben zweimal eine Antwort. Sie war in beiden Fällen die gleiche: Akte geschlossen, keine Verurteilung. „Wir vergessen nicht, und wir vergeben nicht“, sagt Sourani. „Eines Tages wird sich zeigen, dass die israelische Regierung auf der falschen Seite der Geschichte stand.“
Der Zahlenmacher von Gaza
Am wichtigsten ist Souranis Arbeit, wenn Krieg ist, wie zuletzt im November 2012. Denn wenn Krieg im Nahen Osten herrscht, wartet die Welt auf Zahlen. Wie viele Tote? Wie viele Verletzte? Wer ist Zivilist, wer Kämpfer? Kaum einer fragt sich, wo diese Angaben eigentlich herkommen.
Nicht die Vereinten Nationen selbst erfassen die Toten, auch wenn das in den Nachrichten so lautet. Der bei Weitem größte Teil der Arbeit wird palästinensischen Organisationen überlassen, vor allem Souranis PCHR. Er und seine Mitarbeiter sind die Zahlenmacher von Gaza.
Man muss sich diese Arbeit als lebensgefährlich vorstellen. Während die israelische Armee noch bombardiert – und Hamas-Raketen häufig fehlzünden –, fahren die Mitarbeiter des PCHR zu den brennenden Ruinen, den Autowracks und verkohlten Leichen. Sie suchen Bombensplitter und finden manchmal nur die Reste einer Identität. Hin und wieder kommt Minuten später der zweite Angriff auf das gleiche Ziel. Konnte man sich irgendwie schützen? Raji Sourani, der mit seiner Frau in Gaza-Stadt wohnt, blickt resigniert zur Seite. „Es gab keinen sicheren Hafen in Gaza“, antwortet er.
Was treibt einen Menschen an, unter diesen Umständen zu arbeiten?
Im Jahr 1979 – Sourani hatte kurz zuvor seine Anwaltslizenz erhalten – wird er zum ersten Mal von israelischen Sicherheitskräften festgenommen. Es folgen fünf weitere Verhaftungen, erst von Israelis, dann von Palästinensern. In den Neunzigern, erzählt er, habe Jassir Arafat noch „wie ein König geherrscht“. Von Israel gefoltert, von Palästinensern enttäuscht, klammert er sich an das Recht, den Buchstaben der Gerechtigkeit. So entstand das PCHR.
Wenn man Sourani an seinem großen Konferenztisch gegenübersitzt, ihn gestikulieren, schimpfen und dann wieder parlieren sieht, spürt man etwas von dem Furor, der in sechs Gefängnisaufenthalten gewachsen sein muss.
[gallery:Der Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn]
Wehe dem, der gegenüber Sourani den Advocatus Diaboli spielt, ihn mit den gängigen Argumenten der israelischen Armee konfrontiert: Tun nicht die Israelis ihr Möglichstes, um zivile Opfer zu vermeiden? Was ist mit den Flugzetteln, den Warn-SMS, dem „roof knocking“, bei dem Kampfjets leere Bomben auf das Dach werfen, bevor sie das Haus attackieren?
Wortlos greift er zu einem Block, einem Stift und zeichnet. „Wenn 80.000 Menschen einen Flugzettel finden und lesen, wohin sollen die denn fliehen?“, ruft er und schlägt mit der Hand auf den Tisch. „Sagen Sie es mir!“
Das ist die eine Seite: Sourani als Verteidiger der Zivilisten, einer, der nie scheut, „den Mächtigen die Wahrheit zu sagen“, wie es in der Urteilsbegründung für den „Alternativen Nobelpreis“ heißt.
Völkerrecht zu großzügig ausgelegt
Doch es gibt Stimmen, die an den Zahlen des PCHR zweifeln. Souranis Kritiker werfen ihm vor, er betreibe „lawfare“: Kriegsführung mit rechtlichen Mitteln. Seine Organisation lege das Völkerrecht oft zu großzügig aus und verwandle dann militante Kämpfer auf dem Papier zu zivilen Opfern. Einen jungen Radiomacher aus Gaza, den die israelische Luftwaffe im November 2012 tötete, deklarierten Souranis Leute als Zivilisten. Dabei kämpfte er in Wahrheit für die Al-Quds-Brigaden, den bewaffneten Arm des Islamischen Dschihad.
Manche Blogger machen es sich zum Sport, in den Listen des PCHR die Militanten zu finden, die als Zivilisten deklariert werden. 17-jährige Hamas-Kämpfer finden sich darunter, als „Kinder“ bezeichnet, und Polizisten, die nachts für den Kampf gegen Israel trainieren.
„Wir werden zwar von der Besatzungsmacht kritisiert“, sagt Sourani. „Aber ich höre da nicht hin. All unsere Berichte werden gegengecheckt. Und niemand“, betont er, „bezweifelt die Glaubwürdigkeit des PCHR.“ Genau das ist das Problem. Die Vereinten Nationen vertrauen allzu sehr den Organisationen aus Gaza. Dabei haben auch sie – bei allem Einsatz für die Menschenrechte – eine Agenda.
Vor einiger Zeit veröffentlichten Sourani und sein PCHR ihren Jahresbericht 2012. Dort werden zwei weitere, von der israelischen Armee getötete Männer als Journalisten bezeichnet. Sie gehörten zur Medienabteilung der Al-Quds-Brigaden und des Islamischen Dschihad. Auf dessen Website kann man sehen, um welche Art von Journalismus es sich gehandelt haben mag. Einer der beiden posiert in Tarnanzug, das Gesicht olivgrün bemalt. In seinen Armen hält er ein schweres Maschinengewehr, auf einem anderen Bild ein Sturmgewehr, auf einem weiteren blickt er durch das Visier eines Scharfschützengewehrs.
Die schwedische Jury, die Raji Sourani am vergangenen Donnerstag auszeichnete, lobte vor allem sein „vorurteilsfreies“ Handeln.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.