- Der Böse ist immer der Westen
Die Propagandamaschine des Kremls hat tiefe Spuren in den Köpfen der Russen hinterlassen. Sie gibt den Menschen Antworten, die ihnen gefallen. Putin wird zum Helden stilisiert
Seit zwei Jahrzehnten bin ich in Russland unterwegs, und über die Jahre habe ich mich an diese seltsame Doppelrolle gewöhnt: In Russland bin ich der Deutschen-Erklärer, der Europa-Erklärer, sogar der USA-Erklärer. Ich versuche den Russen darzulegen, warum die Frauen von Pussy Riot bei uns als Heldinnen gelten, was der Vorteil von echter Demokratie und Pressefreiheit ist, und ganz allgemein, dass wir im Westen ihnen nichts Böses wollen.
Zu Hause dann erkläre ich den Deutschen – obwohl Russen-Versteher inzwischen fast schon ein Schimpfwort ist –, warum viele Russen nach Jahren des Chaos’ Putins Stabilität höher schätzen als die Demokratie, warum man über Pussy Riot nur verständnislos den Kopf schüttelt, und immer, immer wieder, warum der Deutschen liebster Russe Michail Gorbatschow in Russland nicht geliebt wird.
Bisher war es so: Man stritt, dann schüttelte man den Kopf über die Absonderlichkeiten des anderen, und gut war’s. Aber jetzt ist alles anders.
„Kannst du mir bitte mal erklären, was in der Welt los ist? Warum zeigt man uns, dass die Ukraine Bomben auf die eigenen Bürger wirft, und dann werden Sanktionen gegen Russland verhängt?“, fragt mich ein Freund, 33 Jahre jung, gebildet, Mittelschicht, Geschäftsmann. Und ich denke: Wir kommen nicht mehr zusammen.
Nachdem in der Ukraine die Maidan-Bewegung gesiegt hat, scheinen die Russen kollektiv in den Schützengraben gesprungen zu sein. Von dort rufen sie den Ukrainern, den Westlern, insbesondere aber den Amerikanern zu: Keinen Schritt näher oder wir schießen!
Die russische Propagandamaschine
Ich habe Freunde, die den Separatisten in der OstUkraine Geld zukommen lassen, weil sie überzeugt sind, dass der Osten der Ukraine zu Russland gehört. Ich habe Freunde, die der Staatspropaganda keinen Glauben schenken, aber die Putin dennoch unterstützen, weil er sich der amerikanischen Dominanz entgegenstellt. Und ich habe einige wenige Freunde, vor allem solche, die Fremdsprachen sprechen und die deshalb jenes Weltbild, das ihnen zu Hause vorgesetzt wird, mit dem aus anderen Ländern abgleichen können, die stehen an diesem Schützengraben und murmeln: „Seid ihr denn alle verrückt geworden?“
Wie konnte es so weit kommen? Einen großen Anteil daran hat die russische Propagandamaschine. Um den 20. Februar, als der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch aus Kiew floh und der Maidan siegte, stellte der Kreml die Regler dieser Maschine auf Volldampf. Die Erzählung, die der russische Fernsehzuschauer seitdem in jeder Nachrichtensendung in Variationen serviert bekommt, geht so: In Kiew haben Faschisten, unterstützt und instruiert von den Amerikanern, den demokratisch gewählten Präsidenten gestürzt und die Macht errungen. Nun geht von ihnen eine physische Bedrohung gegen alle Russen, ja alles Russische an sich aus.
Das Verlockende an dieser Erzählung ist, dass es vor diesem durch und durch finsteren Hintergrund einen Helden gibt: Russland. Russland rettet seine Landsleute, Russland unterbreitet Friedensvorschläge, Russland nimmt Flüchtlinge auf. Die Schuld für die tragischen Ereignisse in der Ukraine trägt dagegen der Westen. Davon waren Ende Juli dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada zufolge 64 Prozent der Russen überzeugt. Nur 3 Prozent sehen eine Einmischung Russlands als Grund.
Mit dem Sieg der Maidan-Bewegung änderte sich die Berichterstattung grundlegend: Waren zuvor noch in begrenztem Maße unterschiedliche Stimmen zu hören, gibt es seitdem nur noch eine. Waren die Ereignisse im Nachbarland zuvor nur ein Thema unter vielen, dominiert die Ukraine nun jede Nachrichtensendung. „Die Bevölkerung konnte sich dagegen nicht mehr wehren“, sagt der Soziologe Denis Wolkow, der sich bei Lewada intensiv mit der Wirkung von Medien auf die öffentliche Meinung beschäftigt.
Der Soziologe erinnert an eine ähnlich mediale Aufrüstung in früheren Zeiten: Im Herbst 1999 wurde mit einer Dämonisierung des Gegners der zweite Tschetschenienkrieg vorbereitet, 2008 wurde der Georgienkrieg von ähnlich lautem patriotischen Getöse begleitet. „Aber das Niveau ist heute viel höher“, sagt Wolkow, „die Propaganda kompromissloser.“
Im Kreml, sagt Wolkow, habe man schnell verstanden, wie man die Ereignisse in der Ukraine für die eigenen Zwecke nutzen könne, unter anderem, um die Umfragewerte des Präsidenten wieder zu steigern. Die nähern sich inzwischen der Rekordmarke von 90 Prozent – bis zum Beginn der Ukrainekrise waren sie konstant gefallen. Im November 2013 hatten nur noch 61 Prozent der Russen Putins Präsidentschaft positiv bewertet.
Ein weiterer Unterschied zu früher: Diesmal ist die mediale Landschaft bereinigt wie nie zuvor. Im Januar verbannten viele Kabelbetreiber den letzten unabhängigen Fernsehsender Doschd auf Druck aus ihren Netzen. Wenig später wurde das populäre unabhängige Nachrichtenportal Lenta „geköpft“: Der Besitzer entließ die Chefredakteurin, mit ihr verließ der größte Teil der Journalisten das Portal. Aber das Internet nutzen ohnehin nur wenige Russen, um sich zu informieren: 90 Prozent der Erwachsenen erhalten Nachrichten über Russland und die Welt im Fernsehen. Gut drei Viertel der Russen glauben, was ihnen dort gezeigt wird.
Erfolgreich ist die Propaganda auch, weil sie die Sehnsüchte der Menschen befriedigt. Schlüsselmoment der Konsolidierung zwischen Regime und Bevölkerung war die Annexion der Krim: Dass sie zu Russland gehört, galt unter den Russen immer als Gemeinplatz, die Schenkung an die Ukraine im Jahr 1954 als historischer Fehler. „Die Russen haben den Anschluss der Krim unterstützt. Da dieser politische Akt Unterstützung gefunden hat, vertraut man auch der Berichterstattung darüber“, sagt Andrei Wyrkowski, Medienwissenschaftler an der Journalistikfakultät der Moskauer Lomonossow-Universität.
Die russische Version einer Dolchstoßlegende
Der bekannte Historiker Andrei Subow spricht von einer „nationalen Psychose“, die sein Land erfasst habe. Subow diagnostiziert in Anlehnung an das „Versailler Syndrom“ der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg bei den heutigen Russen das „Belowescha-Syndrom“. Im Urwald von Belowescha hatte Boris Jelzin im Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion vollendet. Dass er das Imperium praktisch widerstandslos aufgab, wird von vielen Russen als UrKatastrophe empfunden.
So wie die Deutschen sich die Niederlage von 1918 mit dem „Dolchstoß“ erklärten, so sei der Zusammenbruch der Sowjetunion im Volksbewusstsein die Folge von „Verschwörung und Verrat“ durch die Feinde. Der Feind – das sind die USA und die Nato, der Verräter heißt Michail Gorbatschow. Nun sei der lang ersehnte Moment der Revanche gekommen – diese Botschaft senden zumindest der Kreml und seine Medien.
Der renommierte Historiker Subow selbst wurde Opfer dieser Psychose: Anfang März entließ ihn seine Universität MGIMO, die Kaderschmiede des Außenministeriums. Der Grund: ein Zeitungsartikel, in dem er die Annexion der Krim mit dem Anschluss Österreichs verglichen hatte. Inzwischen darf Subow allerdings wieder lehren.
Der Wunsch, den Amerikanern wieder – mindestens – auf Augenhöhe zu begegnen, ist dabei keine fixe Idee Putins: Er hat heute den Großteil der Bevölkerung hinter sich. Seit mehreren Jahren stellt das Institut Lewada den Russen folgende Frage: „Bevorzugen Sie es, eine Großmacht zu sein, aber mit einem bescheidenen Lebensniveau, oder ein eher schwaches Land, aber mit einer blühenden Wirtschaft?“ Im März 2014 bewerteten 48 Prozent es als wichtiger, eine Großmacht zu sein, 47 Prozent wählten die Variante Wohlstand. 2006 war der Großmachtstatus nur 36 Prozent wichtig, 62 Prozent wollten den Wohlstand. „Viele sind bereit, Zwieback zu essen, dafür aber in einer Großmacht zu leben“, fasst Subow das Ergebnis zusammen.
Die trotzige Reaktion vieler Russen auf die westlichen Sanktionen und der kaum spürbare Protest gegen die im August erlassenen Einfuhrverbote für westliche Lebensmittel beweisen das. „Wir sind bereit, den Gürtel enger zu schnallen. Aber wir wollen uns nicht mehr sagen lassen, was wir zu tun und zu lassen haben“, sagt etwa ein 60 Jahre alter Ingenieur aus einer Kleinstadt bei Moskau.
Subow weist allerdings auf einen wichtigen Unterschied zu den Deutschen der dreißiger Jahre hin: Die Russen fürchten den Krieg. Lewada zufolge glauben zwei Drittel der Befragten, dass der Konflikt im Osten der Ukraine in einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine münden könnte. Die Hälfte glaubt sogar an einen dritten Weltkrieg. Zwar waren noch gut die Hälfte der Russen Ende Juli bereit, ihre Führung in einem Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Doch die Eskalation des Konflikts im Osten der Ukraine, die Bilder von zerstörten Häusern und getöteten Zivilisten, haben auf viele ernüchternd gewirkt. Im März, als die Kriegsgefahr noch sehr abstrakt erschien, waren noch drei Viertel der Russen auf Kriegskurs.
Die Dämonisierung des Gegners kennt derweil keine Grenzen. Russische Medien schlachten jeden Fehler der Ukrainer aus. Es begann, als das ukrainische Parlament drei Tage nach dem Sieg der Maidan-Bewegung den Sonderstatus der russischen Sprache abschaffte. „Und das sollen keine Faschisten sein?“, fragt mich ein Freund aus St. Petersburg. Dass Übergangspräsident Alexander Turtschinow unter westlichem Druck wenig später sein Veto gegen die Entscheidung einlegte, ist in Russland nie angekommen.
Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte
Letzte Zweifel beseitigte das „Massaker von Odessa“, wie es in Russland genannt wird: Am 2. Mai kamen dort bei Unruhen 48 Menschen ums Leben. Die meisten Opfer waren prorussische Aktivisten, die im brennenden Gewerkschaftshaus eingeschlossen wurden. Während die Katastrophe in westlichen Medien nur am Rande thematisiert wurde, hat sie in den Köpfen der Russen tiefe Spuren hinterlassen. Grund sind auch die erschütternden Bilder, die das Fernsehen zeigte und die in den sozialen Netzwerken hunderttausendfach geteilt wurden: Ein Mob johlender Nationalisten, die Molotowcocktails auf das Gewerkschaftshaus werfen, Menschen, die sich in Panik aus den oberen Stockwerken stürzen, verkohlte Körper.
Bilder dieser Art dominieren die russische Berichterstattung über die Ukraine. Von den Kämpfen der ukrainischen Armee mit den Separatisten in der Ostukraine bekommt der russische Fernsehzuschauer vor allem getötete Zivilisten zu sehen, in den Abendnachrichten hört er die Hilferufe von Menschen, deren Wohnungen von Ukrainern zerbombt wurden. Das wirkt. Es wirkt umso mehr, als die Menschen vor der Kamera russisch sprechen und vor Häusern stehen, die so auch in jeder russischen Stadt zu finden sind. Viele Russen haben zudem Bekannte oder Verwandte in der Ukraine, die per Telefon, in E-Mails und in den russischsprachigen sozialen Netzwerken von ihrem Leben im Kriegszustand berichten. Für die Deutschen sind, auch wenn es zynisch klingen mag, die Opfer von Krieg und Vertreibung in Luhansk zwar bemitleidenswert, aber fern und fremd.
So kommt es, dass die Vorstellungen von den Ereignissen in der Ukraine sich so stark unterscheiden, dass wir praktisch nicht mehr darüber sprechen können. Bei „Maidan“ denke ich an die friedlichen Demonstrationen von Hunderttausenden gegen einen korrupten Präsidenten, mit denen alles begann. Russen hingegen denken an bewaffnete Faschisten, die unschuldige Polizisten mit Molotowcocktails bewerfen. Beim Stichwort „Slawjansk“ erzählen die Russen von angeblichen Napalmangriffen auf friedliche Zivilisten, und ich erzähle vom russischen Ex-Geheimdienstler Igor Strelkow, der die Stadt in seine Gewalt brachte und damit den bewaffneten Konflikt erst auslöste. Strelkow? Die meisten meiner Bekannten blicken mich fragend an, wenn ich den Namen nenne. Über die wirklichen Hintergründe des Konflikts erfährt der russische Zuschauer wenig. Die Gegner der ukrainischen „Strafbataillone“ hießen im russischen Fernsehen lange Zeit „friedliche Befürworter der Föderalisierung“, dabei waren es von Anfang an bewaffnete Freischärler. Auch über die Unterstützung mit Waffen und Kriegsgerät über die russische Grenze erfahren die Russen nichts.
Wohlmeinende Freunde und Verwandte sagen meist irgendwann versöhnlich: Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Aber als Journalist, der alles mit eigenen Augen gesehen hat, muss ich ihnen entgegnen: Nein, dort liegt sie nicht.
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