- Die Piraten und die digitale Spaltung der Gesellschaft
Erstmals könnte die Piratenpartei am kommenden Sonntag in Berlin in ein deutsches Landesparlament einziehen. Es wäre politisch fatal, dies nur als Protestphänomen abzutun. Hier zeigt sich vielmehr, welche politische Dynamik die digitale Revolution, das Internet und die sozialen Netzwerken in sich bergen. Die etablierte Politik tut sich damit extrem schwer.
Selbst ihre demonstrative Ahnungslosigkeit in Sachen Landespolitik scheint den Piraten nicht zu schaden, nicht ihre eher schlichten Plakate und auch nicht der eher peinliche Auftritt des Spitzenkandidaten Andreas Baum im Regionalfernsehen. Am kommenden Sonntag wird in Berlin ein neues Abgeordnetenhaus gewählt und eine Partei von Politanfängern und Computernerds könnte dem Regierenden Bürgermeister am Wahlabend die Show stehlen. Wenn die Meinungsforscher nicht irren, dann könnte die vor fünf Jahren gegründete Piratenpartei in Berlin erstmals in ein deutsches Landesparlament einziehen.
Der mögliche Erfolg der Piraten wäre ein Paukenschlag, eine politische Sensation ist er hingegen nicht. Schon bei der Bundestagswahl 2009 konnten die Piraten aus dem Stand bundesweit zwei Prozent erzielen, bei den Jungwählern lag der Stimmenanteil dabei sogar bei 9 Prozent. Berlin war schon vor zwei Jahren eine Hochburg der Piraten. 58 062 Berliner bzw. 3,4 Prozent machten bei der jungen Partei, die erstmals zu einer Bundestagswahl angetreten war, ihr Kreuz.
Dass die Piraten nun ausgerechnet in Berlin für Furore sorgen, ist dabei kein Wunder. Die Stadt ist jung, in ihr leben viele Studenten und viele Menschen, die sich mittlerweile selbstverständlich in der digitalen Welt bewegen. Berlin ist eine Hochburg der sogenannten digitalen Bohème und von Internet-Startups.
Hinzu kommt, in Berlin gibt es traditionell viele Wähler, die sich von den etablierten Parteien insgesamt abgewandt haben und ihr Kreuz bei den sogenannten Sonstigen machen. Bei der Abgeordnetenwahl 2006 kamen die 18 sonstigen Parteien zusammen auf rekordverdächtige 13,7 Prozent. Am besten unter den kleinen Parteien schnitten vor fünf Jahren die Grauen mit 3,8 Prozent ab. Die NPD kam auf 2,6 und die WASG auf 2,9 Prozent. Eine Kleinpartei zu wählen, fällt den Berlinern auch deshalb leicht, weil sie im Grunde kaum eine Wahl haben. So wie es aussieht, bleibt der Sozialdemokrat Klaus Wowereit sowieso Regierender Bürgermeister. Grüne, CDU oder Linke buhlen im Wahlkampf nur noch darum, als Juniorpartner der SPD in die Landesregierung eintreten zu dürfen. Wirkliche politische Alternativen oder weltanschauliche Lager stehen sich nicht gegenüber.
Das ist nun die Chance der Piraten. Seit sich herumgesprochen hat, dass sie eine realistische Chance haben, die Fünf-Prozenthürde zu überspringen, ziehen sie wie ein Staubsauger alle Frust, Protest und Spaßwähler auf sich. Das Programm ist zweitrangig, wenn nicht gar überflüssig, denn viele dieser Wähler haben vor fünf Jahren die Tierschutz-, die Eltern oder die Anarchistische Pogo Partei gewählt. Ihnen geht es nicht um Landespolitik, sondern um Provokation, sie denken nicht in politischen Alternativen, sondern suchen nur ein Ventil für ihren Frust. Wer die Stadt regiert ist diesen Wählern egal, zumal sie große inhaltliche Unterschiede zwischen den etablierten Parteien nicht ausmachen können.
Doch trotzdem ist die Piratenpartei nicht nur ein Protestphänomen. Nicht zufällig ist die Partei in der digitalen Welt entstanden. Die digitale Revolution ist nicht nur ein Motor der Globalisierung, sondern sie verändert zugleich auch Arbeitsabläufe und Arbeitsbeziehungen, die Bedingungen der Kapitalverwertung, der Mediennutzung und vor allem die Massenkommunikation. Darüber hinaus hat die digitale Revolution Werteorientierungen in der Gesellschaft verändert. Die Frage, wie es die Gesellschaft mit dem Internet, mit der digitalen Kommunikation und den neuen sozialen Netzwerken hält, hat damit eine enorme politische Dynamik gewonnen. Die digitale Spaltung der Gesellschaft birgt zudem viel gesellschaftliches Konfliktpotenzial, bei dessen politischer Kanalisierung sich die etablierten Parteien äußerst schwer tun.
Die Generation Internet ist politisch mobilisierungsfähig, das hat sie in den letzten Jahren vielfach unter Beweis gestellt. So rebellierten sie beispielsweise gegen Vorratsdatenspeicherung und Internetsperren, gegen Urheberrechte oder Kopierschutz. Hunderttausende Unterzeichner mobilisierten die Gegner der Internetsperren 2009 innerhalb weniger Tage für eine Online-Petition und brachten das Gesetz schließlich zu Fall. Zehntausende schlossen sich einer schließlich erfolgreichen Verfassungsklage gegen die Vorratsdatenspeicherung an. Dabei blickt die traditionelle Politik genauso verständnislos auf die neue Protestbewegung wie einst auf die rebellierenden Studenten oder demonstrierende Atomkraftgegner. In der Piratenpartei haben diese Netzaktivisten nun eine parteipolitische Stimme gefunden. Dass es bei den Piraten chaotisch und unprofessionell zugeht, dass die Forderungen völlig unrealistisch sind, stört die Anhänger nicht. Vieles erinnert stattdessen an die Anfänge der Grünen vor drei Jahrzehnten.
Dabei beschränkt sich das Mobilisierungspotenzial der Piraten nicht auf Bürgerrechtsthemen. Denn auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, ranken sich die politischen Auseinandersetzungen zwischen den Netzaktivisten und den etablierten Parteien nur vordergründig um den alten Konflikt zwischen autoritären und libertären Werten, zwischen Staat und Individuum. Vielmehr haben die digitale Gesellschaft und die Internetökonomie gleichzeitig neue Werte, Normen und Regeln geprägt, sowie eine eigene Sicht auf das geistige Eigentum. Die Verletzung des Urheberrechts gilt im Internet als Volkssport. Darüber stellt sich auch soziale Frage in der digitalen Welt völlig neu. Denn wer keinen Zugang zum Internet hat, wird politisch, gesellschaftlich und ökonomisch abgehängt. Die digitale Spaltung zieht also eine soziale Spaltung der Gesellschaft nach sich.
Selbst der Familie macht die Generation-Internet Konkurrenz. Auf die Frage, an wen sie sich wenden würden, wenn man sich über ein Thema „etwas näher und umfangreicher informieren möchte“, antworteten kürzlich in einer Umfrage 82 Prozent der 20- bis 29-Jährigen, zwar wie erwartet mit „Familie oder Freunde“. Doch fast genauso viele, nämlich 81 Prozent, wollen in solchen Fällen auch das Internet zurate ziehen. In der digitalen Welt prägt die Community ihre eigenen Werte und Weltbilder. Kein Wunder also, dass die Piratenpartei vor allem bei Jungwähler sehr attraktiv ist.
Für etablierte Parteien ist es darüber hinaus bedrohlich, dass die Generation Internet die gewohnten Pfade der gesellschaftlichen Kommunikation verlassen hat. Nicht mehr das Fernsehen und die Bild-Zeitung sind die Leitmedien für die populistische Aufheizung und die politische Mobilisierung, sondern Facebook, Twitter und Youtube. In der schönen neuen Onlinewelt gelten dabei die Regeln der traditionellen politischen Willensbildung und das klassische Top-Down-Prinzip der Massenkommunikation wird auf den Kopf gestellt. Der User entscheidet selbst, welche Inhalte aus dem politisch, geografisch und zeitlich entgrenzten Angebot er nutzt. Im Zweifelsfall vertraut er nicht mehr den Argumenten der Politik, sondern Google oder seinen Facebook-Freunden. Auch davon profitiert die Piratenpartei.
Wenn es den Piraten am kommenden Sonntag also tatsächlich gelingt, in das Berliner Abgeordnetenhaus einzuziehen, dann wäre dies kein Protestphänomen. Es wäre politisch fatal wenn die etablierten Parteien dies nur als Ausrutscher abtun würden. Vielmehr würde die digitale Welt erstmals in die analoge Politik eindringen. Es wäre eine politische Zäsur.
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