- Die Türkeistämmigen in Deutschland sind tief gespalten
Jubelchöre statt Gezi-Geist: Der Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan im Tempodrom zeigt, wie fremd sich die Türkeistämmigen in Deutschland untereinander sind. Gemeinsame Interessen lassen sich so nicht durchsetzen
Das Berliner Tempodrom war restlos gefüllt: Mehrere tausend Türkeistämmige waren am Dienstagabend gekommen, um den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan zu sehen. Türkische Sender übertrugen seinen Auftritt live in die Wohnzimmer. Der charismatische Premier wurde gefeiert wie eh und je – euphorisch und mit Standing Ovations. Angesichts dieser Bilder reibt sich der eine oder andere hierzulande verwundert die Augen.
Hatte nicht noch vor wenigen Monaten die ganze Türkei bei den Gezi-Protesten gegen Erdogan und seine Regierung demonstriert? Hatte der türkische Premier nicht mit Polizeigewalt hunderttausende Demonstranten brutal niedergeschlagen? Hatten wir nicht über mehrere Wochen bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe auf unseren Bildschirmen gesehen? Werden der türkischen Regierung derzeit nicht massive Korruption und das Aushebeln der Unabhängigkeit der Justiz vorgeworfen? Ist Erdogan nicht kurz vor dem Ende?
Einseitige Bilder
Das könnte man meinen, wenn man sich an den Bildern orientiert, die in Deutschland gezeigt wurden. Um die Euphorie rund um Erdogan verstehen zu können, hätte es aber weiterer Bilder bedurft: Bilder von Demonstranten, die auf die Polizei losgingen und Geschäfte plünderten. Bilder, auf denen Fahnen von verbotenen Terrororganisationen zu sehen waren oder Bilder von Pro-Erdogan-Kundgebungen während der Gezi-Proteste, bei denen sich rekordverdächtige Massen versammelten und ihm zujubelten.
Diese Popularität kommt nicht von ungefähr. Erdogan ist charismatisch und wortgewandt dazu. Er redet Klartext und selten vorformuliert. Das macht ihn zu einem Sympathieträger. Mit der wichtigste Punkt dürfte aber der türkische Wirtschaftsboom während seiner Amtszeit sein. Zum Vergleich: Wenn in Deutschland von einem Aufschwung die Rede ist, macht sich das in den Portemonnaies der Otto-Normalverbraucher allenfalls im Groschenbereich bemerkbar. Die Entwicklungen in der Türkei sind im Vergleich dazu gewaltig.
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Noch vor zehn Jahren mangelte es vor allem im Osten der Türkei am Nötigsten. Krankenhäuser waren unhygienisch, die Ärzte waren korrupt, es fehlte an Arzneimitteln. Das Straßensystem war marode bis nicht vorhanden, genauso das Strom- und Kanalisationsnetz vieler Städte und Dörfer. Heute hingegen fährt man auf doppelspurigen Autobahnen zu einem der zahlreichen und luxuriös ausgestatteten Privatkliniken. Medikamente sind keine Mangelware mehr, Wasser- und Stromausfälle eher die Ausnahme. Kurz: Der türkische Wirtschaftsboom hat nicht nur einige wenige Konzerne und Banken erreicht, sondern und vor allem das Gros der Wähler. Hinzu kommen zahlreiche Großbauprojekte, die Wohlstand versprechen.
Beliebtheit Erdogans hält unvermindert an
Ein weiteres Verdienst von Recep Tayyip Erdogan ist sein Bemühen um Frieden mit der PKK. Er hat es wie kein anderer vor ihm geschafft, Hoffnung zu wecken auf ein Ende des seit Jahrzehnten anhaltenden Leides mit mehreren zehntausend Todesopfern. Ein Zustand, den man selbst gedanklich kaum auf Deutschland übertragen kann.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Beliebtheit Erdogans unvermindert anhält – auch bei seinen Landsleuten in Deutschland. Ob mit oder ohne deutschen Pass, nahezu jeder Türkeistämmige hat Verwandte und Freunde in der alten Heimat. Man freut sich, wenn es ihnen gut geht. Das alles ist mit eine Erklärung dafür, wieso die Türkeistämmigen in Deutschland mehrheitlich Erdogan wählen würden, wie eine repräsentative Umfrage kurz nach den Bundestagswahlen 2013 zeigte.
Das alles ist natürlich nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite zeigt einen Erdogan, der vielen Menschen zunehmend unheimlich wird. Seine uneinsichtige und forsche Art, mit Kritik umzugehen, hat schon bei den Gezi-Protesten für großen Unmut gesorgt und die Menschen zusätzlich mobilisiert. Auf den Straßen sah man Bilder von Menschen, die unter normalen Umständen niemals gemeinsam für eine Sache demonstriert hätten – ein Fahnenmeer unterschiedlichster Strömungen, Organisationen und Parteien. Selbst verbittert verfeindete Fans rivalisierender Istanbuler Fußballklubs sangen gemeinsam im Chor gegen den Erdogan.
Es spielte kaum eine Rolle, wieso die Menschen auf der Straße waren. Jeder hatte seine eigenen Gründe. Die eine wetterte gegen den Premier wegen seiner Forderung nach drei Kindern pro Frau, der andere wegen Einschränkungen des Alkoholverkaufs. Andere wiederum waren wegen der Minderheitenpolitik auf der Straße oder wegen der inhaftierten Journalisten. Es kamen viele Menschen zusammen, weil sie einen gemeinsamen Nenner namens Erdogan gefunden hatten. Das harte Vorgehen der Polizei schweißte die Demonstranten zusätzlich zusammen.
In Deutschland herrscht in Teilen der türkeistämmigen Bevölkerung ebenfalls Unmut gegenüber dem türkischen Premier. Den Kurden geht die sogenannte Öffnung der Demokratisierung nicht weit genug, den Kemalisten ist schlicht der islamische Hintergrund Erdogans ein Dorn im Auge, andere wiederum werden ebenfalls ihre Gründe haben. Obwohl auch hier der gemeinsame Nenner Erdogan heißt, sind sie hierzulande aber weit davon entfernt, sich zu solidarisieren. Die Kurden versammeln sich am Brandenburger Tor, die Kemalisten am Hauptbahnhof und dann gibt es noch die vielen Uninteressierten, die zu Hause bleiben. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Gemeinsam? Unvorstellbar! Keine Spur vom Gezi-Funken.
Selbst bei Themen, die sie hier in Deutschland unmittelbar betreffen, kriegen es die Türkeistämmigen nicht zustande, mit einer Stimme zu sprechen. Bestes Beispiel ist die Forderung nach der doppelten Staatsbürgerschaft. Obwohl sie das schon seit über einem Jahrzehnt fordern, würden sie nicht einmal dafür gemeinsam skandieren. Ihre unterschiedlichen Ideologien und politischen Richtungen stehen ihnen dabei selbst im Weg – wie in so vielen anderen Bereichen auch. Ergebnis: relativ kleine Demonstrationen hie und da.
Erdogan auf Assimilationsäußerung verkürzt
Die mediale Wirkung hingegen ist in Deutschland eine andere. Erdogan-Kritik wird besonders gerne aufgegriffen, während Aspekte, die ihn in einem guten Licht erscheinen lassen könnten, gerne hintangestellt werden. Ein gutes Beispiel hierfür sind seine integrationspolitischen Äußerungen. Obwohl Erdogan bei all seinen Deutschlandbesuchen in der Vergangenheit – ob in Köln, Düsseldorf oder zuvor in Berlin – an seine Landsleute eindringlich appelliert hat, Deutsch zu lernen, sich einzubringen, teilzuhaben, sich zu integrieren, haben sich Medien wie Politiker über Jahre versteift auf seine aus dem Kontext gerissene Assimilationsäußerung von vor mittlerweile sechs Jahren. Dabei bestand und besteht in diesem Punkt nicht einmal ein Dissens zwischen dem türkischen Premier und Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Auch in Bezug auf den Demokratisierungsprozess und dem Umgang mit Minderheiten in der Türkei werden zu Recht und gerne die zahlreichen Defizite angesprochen. Dass vieles noch in den Kinderschuhen steckt und Erdogan nicht alles richtig macht, wird niemand bestreiten. Doch wenn allenfalls nebenbei erwähnt wird, dass gerade unter Erdogan die Rechte der Minderheiten gestärkt wurden wie nie zuvor in der Geschichte der Republik Türkei, führt das zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und folglich auch dazu, dass sich Konsumenten deutscher Medien verwundert die Augen reiben, wenn Erdogan entgegen den Gezi-Bildern aus Istanbul in Berlin von Tausenden mit Standing Ovations empfangen wird. Auf der anderen Seite reagieren Türkeistämmige verständnislos, wenn Erdogan ausschließlich auf das Negative reduziert wird. Zum gegenseitigen Verständnis trägt diese Berichterstattung nicht bei. Im Gegenteil, sie irritiert.
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