- Keine Überraschung
Das Ausspähen deutscher Rüstungskonzerne durch die NSA stellt die deutsch-amerikanischen Beziehungen erneut auf die Probe. Die Hysterie gehe aber zu Lasten Deutschlands, sagt Andrew Denison und fordert ein Umdenken in Bezug auf Geheimdienste
Wer hätte gedacht, dass man mit 40.000 Selektoren Schlagzeilen machen kann? „40.000 Unwahrheiten“ lesen wir im Spiegel. Von „40.000 verbotene(n) Sachen“ ist im Leitartikel der Frankfurter Allgemeine die Rede. Der Spiegel (#18, 2015, S. 36) schreibt weiter von einem „Verstoß gegen diesen Vertrag“ und münzt dabei ein sehr wages „Memorandum of Agreement“ zwischen den USA und Deutschland in etwas um, was es nicht ist. Die Tageszeitung wirft der NSA vor, „die vorgebliche Antiterrorzusammenarbeit auch für Wirtschaftsspionage instrumentalisiert (zu) haben". Man mag über die Definition von Wirtschaftsspionage diskutieren, aber es wäre naiv zu erwarten, ein Memorandum mit der Bundesregierung aus dem Jahr 2002 würde die amerikanischen Geheimdienste davon abhalten, US-Interessen und die entsprechenden Ziele in Deutschland zu verfolgen. Dafür geben die Amerikaner ihre Steuergelder aus, wie auch immer der (unbekannte) Wortlaut des Memorandums gewesen sein mag.
Dass amerikanische Geheimdienste deutsche Firmen wie „EADS“ oder „Eurocopter“ ausspionieren, ist für mich keine Überraschung. Die Geschäfte der europäischen Rüstungsfirmen standen schon immer im Zentrum ihres Interesses. Manchmal landen europäische Firmen dann auch vor amerikanischen Gerichten, wegen Sanktionsbruch oder Geldwäsche. Die Leser der New York Times erfuhren im März, dass die Commerzbank 1,5 Milliarden Dollar Abfindung bezahlen musste - für illegalen Handel mit dem Iran und Geldwäsche.
Meistens sind die, die sich unter dieser amerikanischen Lupe befinden - die Sanktionsbrecher und Geldwäscher, die Kleptokraten und ihre Schmiergeldzahler sowie die ausländischen Spione - auch für Deutschland eine Gefahr. Möglicherweise ist es illegal, dass Amerikaner nach russischen, iranischen, chinesischen, oder dschihadistischen Agenten in der deutschen Regierung und dem Militär sowie unter Journalisten und Geschäftsleuten suchen. Doch sie werden es weiter tun. Nennen wir es ein „Guillaume-Atta-nuklearer-Schutzschirm-Syndrom“. Natürlich wäre es besser, Deutschland könnte selbst seine eigenen Firmen und Beamten ausreichend schützen. Nur wer ist in Deutschland bereit, dafür zu bezahlen?
40.000 ausdruckslose Selektoren
Die Frage ist nicht, ob die amerikanischen Geheimdienste europäischen Firmen nachspionieren - das tun sie, hoffe ich zumindest. Die Frage ist, was mit diesen Informationen passiert und wozu sie gesammelt werden. In ihrem Umgang mit Geheimdiensten müssen sich Demokratien immer wieder fragen, ob die gesammelte Information politisch oder wirtschaftlich für die falschen Ziele missbraucht wird - zum Beispiel, um deutsche Geschäftsgeheimnisse an amerikanische Firmen weiter zu geben. Das verstieße gegen amerikanisches Recht. Hat eine deutsche Firma Beweise dafür, kann sie in den USA vor Gericht ziehen. Auch globale Institutionen und Gerichte verfolgen Vorwürfe der Wirtschaftskriminalität, einschließlich des Raubs von geistigem Eigentum. Zu den Cyber-Kriminellen und Blaupausendieben vor den verschiedenen nationalen und internationalen Instanzen gehören die Amerikaner und ihre Geheimdienste bisher jedoch noch nicht.
Wenn Ford Motor Company etwas über Ferdinand Piëchs Zukunft wissen möchte, wird die Firma sowieso keinen Beamten der NSA damit beauftragen (die würden es nur vermasseln), sondern höchstens einen Privatdienst. Anders gesagt: Würden amerikanische Geheimdienste wirklich den Auftrag bekommen, Wirtschaftsspionage für amerikanischen Firmen zu machen, würde das ganz anders aussehen als 40.000 ausdruckslose Selektoren.
Das, was deutsche Souveränität und Interessen am meisten verletzt, ist, dass die Amerikaner nach diesen Schlagzeilen den Deutschen noch weniger trauen werden. Ergo haben die Deutschen es künftig schwieriger, Information von den Amerikanern zu bekommen. Das ist problematisch, denn Deutschland lebt in einer gefährlichen Nachbarschaft.
Deutschlands gefährliche Nachbarschaft spricht für eine wirksame, gut finanzierte eigene Aufklärung - auch eine, die zu illegalen Abhöraktivitäten im Ausland fähig ist. Die immer größeren Mengen an Daten, die die deutschen Grenzen passieren, sind auch für die deutsche Sicherheit von Bedeutung. Eine E-Mail aus Syrien kommt allerdings nicht unbedingt direkt aus Syrien. Sie wird in kleine Pakete aufgeteilt und auf dem Weg des geringsten Widerstands um die Welt geschickt. Als solches gilt auch für den BND die Devise: Erst einmal speichern, was die Grenzen passiert, dann minimieren - sprich, die verbotenen Daten löschen. Gezielt nur die üblichen Verdächtigen auszuspähen statt den gesamten Verkehr abzufangen, wäre weder billiger noch gerechter.
Aber eins ist klar: Ohne mehr Geld für die Aufklärung wird die Bundesregierung in einer Welt der explodierenden Datenmengen immer wieder mit ihren eigenen begrenzten Möglichkeiten konfrontiert. Das Dilemma der Abhängigkeit von den Amerikanern plagt sie jetzt schon. Die Amerikaner bezahlen jährlich um die 160 Euro pro Kopf für CIA, NSA und die vielen anderen US-Geheimdienste. Die Deutschen bezahlen jährlich weniger als 8 Euro pro Kopf für die Aufklärungsarbeit des BND.
Ein zentraler europäischer Geheimdienst könnte helfen
Im Nachrichtenwesen geht es um Partnerschaften. Das ist auch in der neuen Cyber-Strategie des US-Verteidigungsministeriums zu lesen. Man mag über die Exklusivität der amerikanischen Partnerschaften klagen und einen Untersuchungsausschuss einsetzen, um herauszufinden, „in welcher Weise und in welchem Umfang durch Nachrichtendienste der Staaten der sogenannten ‚Five Eyes‘“ die Erfassung von deutschen Daten stattgefunden hat. Ob der BND einen engeren Partner hat als die Amerikaner, wage ich aber zu bezweifeln. Der BND ist mit dem französischen DGSE, dem britischen GCHQ oder dem italienischen AISE kaum mehr verbunden als mit den Amerikanern. Sind die amerikanischen Abspeicher-Praktiken einem unangenehm, ließe sich das ändern - mit einem zentralen europäischen Geheimdienst anstelle von 28 nationalen. Aber wo ist dazu ein politischer Wille erkennbar?
Die Partnerschaft mit den Amerikanern ist für Deutschland nicht einfach, sie zu verteidigen fällt dem Kanzleramt manchmal schwer. Regierungssprecher Steffen Seibert musste mitteilen, „im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht technische und organisatorische Defizite beim BND identifiziert“ zu haben, und auch: „Das Bundeskanzleramt hat unverzüglich Weisung erteilt, diese Defizite zu beheben“. Was genau die Defizite waren, bleibt bei Seiberts Aussage allerdings unklar. War das Problem die Weiterleitung der Informationen an die Amerikaner - oder die Weiterleitung der Informationen an den Spiegel und die anderen gut finanzierten deutschen Medienunternehmen?
Über die eigentliche Quelle dieses Vorwurfs der Wirtschaftsspionage wissen die Leser des Spiegel-Berichts nur wenig. Zahlen und Firmennamen stehen dort schwarz auf weiß, aber was genau sie bedeuten, was sie wirklich nachweisen - da müssen wir dem Spiegel vertrauen. An einen „Verstoß gegen diesen Vertrag“ müssen wir glauben ohne den Text des Dokuments zu sehen. Natürlich ist der Spiegel dafür bekannt, seine Quellen sorgfältig zu verifizieren. Etwas Handfestes, das in einem Gerichtssaal Gewicht haben könnte, wäre trotzdem überzeugender. Vielleicht müssen wir nur auf die nächste Ausgabe warten, denn im Journalismus wie in der Wissenschaft ist die Verifizierbarkeit der Behauptungen von größter Bedeutung. Die Thesen haben in jedem Falle ein Eigenleben entwickelt, haben sich weitverbreitet nach dem Prinzip der stillen Post, wobei alle möglichen konjunktiven Formulierungen verloren gingen.
Die Sprache und der Duktus dieser NSA-Diskussion bei einigen deutschen Blättern sind etwas schrill - wenigstens im Vergleich zu dem üblichen Stil der meisten amerikanischen Zeitungen. Im Spiegel lesen wir von einem „neuerlichen Affront“ und der darauffolgenden „Fassungslosigkeit“. Man wird gefragt, ob man jetzt „das Schlimmste, selbst von engsten Partnern annehmen“ solle. Wegen der NSA-Affäre stand das Land in den letzten zwei Jahren „stets nah an einer Demütigung der Deutschen“, liest man weiter. Thorsten Denkler von der SZ behauptet, es sei eine „Schweinerei“, „dass die Bundesregierung dem Treiben der NSA in Deutschland aus alter Verbundenheit einfach tatenlos zusieht - und bis heute nicht bereit ist, dem sogenannten Partner mal kräftig auf die Finger zu klopfen“. Und ich dachte, die Prügelstrafe sei in Deutschland abgeschafft.
Letztlich bin auch ich überrascht, wie oft in dieser Diskussion die deutschen und europäischen Interessen als identisch beschrieben werden. In der Süddeutschen Zeitung behauptet Georg Mascolo, die NSA richte sich „gegen deutsche und europäische Interessen“. „Europäische“ Interessen sind jedoch schwierig zu definieren. Die Interessen der anderen europäischen Staaten in ihrer Beziehung zu den USA sind allerdings nicht immer deckungsgleich mit denen der Deutschen. Meinungsumfragen zeigen die besondere Empörung, mit der die Deutschen auf die Snowden-Enthüllungen reagiert haben - im Unterschied zu anderen europäischen Staaten.
Es wäre zu hoffen, die Deutschen würden erkennen, dass andere europäische Länder ihre Partnerschaft mit Amerika oft anders sehen. Und es wäre zu hoffen, die Deutschen würden erkennen, wie sehr Cybersicherheit von dem in sie investierten Geld und dem gemeinsamen Agieren Europas abhängt. Letztlich wäre zu hoffen, die Deutschen würden erkennen, dass ihre Partnerschaft mit den Amerikanern Deutschlands Souveränität mehr schützt als ihr schadet. Anstatt bei jedem neu bekannt werdenden Fall in gesteigerte Erregung zu verfallen, sollte in Deutschland befürwortet werden, dass die Amerikaner weiter die Daten-Spuren europäischer Politiker und Unternehmer speichern und auswerten - im Namen der nationalen, aber auch der Sicherheit der NATO. Und bis zum faktischen Beweis des Gegenteils sollte auch weiter gelten: Es ist eine reine Fiktion, dass amerikanische Firmen von irgendwelcher „Wirtschaftsspionage“ amerikanischer Geheimdienste profitieren.
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