- Der Dammbruch der Daten
Zur Bewältigung der Corona-Pandemie wird viel Hoffnung in digitale Technologien gesetzt. Doch so euphorisch Politiker Daten als Wegweiser in komplexen Aufgabenstellungen sehen, so gefährlich kann dieser Moment sein. Dennoch müssen wir ihn endlich nutzen.
Seit dem Ausbruch von Corona blicken wir in besonderem Maße auf Daten. Insbesondere Politiker lassen sich von ihnen beraten, präsentiert und erhoben werden sie etwa vom Robert-Koch-Institut. Aber das ist nur ein kleiner Teil dessen, was die Coronaviruskrise zum Vorschein bringt.
Denn ob es die Arbeitsagentur mit den Massen von Kurzareitsanträgen ist, das Gesundheitsministerium mit einer Corona-App oder der Ermittlung von Intensivbettenkapazitäten oder die Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen mit all ihrem Wissen oder die Landwirte mit den Prognosen für ihre Ernte und ihren benötigten Erntehelfern – sie alle können und könnten vom richtigen Umgang mit Daten noch viel mehr profitieren. Nur weil sich auch Schlechtes mit ihnen treiben lässt, würden wir unsere Chance auf eine gute Zukunft verbauen, wenn wir sie nicht nutzen. Es ist Zeit für einen Dammbruch der Daten:
These 1: Datengetriebene Technologien ermöglichen politisches Handeln auf Wissensbasis – anstelle des Handelns aus Vermutung.
Das öffentliche Leben wird im Zuge der Coronakrise auf ein Minimum heruntergefahren. Eine Tatsache, die auch am Selbstverständnis von digitalversierten Menschen kratzt: Wie kann es sein, dass uns die relevanten Datenpunkte fehlen, um das Virus erfolgreich einzudämmen? Beispiele aus Südkorea und Singapur scheinen dieser Grundvermutung rechtzugeben: Tatsächlich ist eine Eindämmung des Virus möglich, wenn man Bewegungsprofile von Smartphone-Nutzern mit einer Vielzahl an Testmöglichkeiten (und der präzisen Nachverfolgung von Infizierungen) kombiniert.
Der Staat kann damit zwischen einem zielgerichteten, kurzzeitigen Lockdown bestimmter gefährdeter Zonen sowie der freiwilligen Quarantäne der Bürger als Maßnahme wählen. Indem sie vorhandene Informationen für die Bürger sichtbar machen und miteinander kombinieren, vermitteln sie Sicherheit und Handlungskompetenz. Die Politik handelt insofern auf der Basis von Daten – nicht aufgrund vager Vermutungen.
These 2: Datenbasierte Entscheidungen haben dank Corona ein positives Narrativ
Die Coronakrise macht die Vorteile von Technologie deutlich und greifbar. Im unmittelbaren Alltag ist der persönliche Nutzen von Datenauswertung für den Einzelnen gerade sichtbar, etwa, um die Zahl der Neuinfektionen zu verfolgen. Datenbasierte Lösungen werden so in der öffentlichen Wahrnehmung positiv besetzt: Technologie verbessert den Alltag, ermöglicht eine schnellere und präzisere Reaktion – und kann im Zweifel sogar verhindern, dass man selbst am Coronavirus erkrankt.
Die Vielzahl an Ideen, die unter anderem beim Hackathon der Bundesregierung Mitte März entstanden sind, bestätigen, dass das Interesse an datenbasierten Initiativen zur Bewältigung der Krise enorm ist: Sei es die von Algorithmen unterstützte Verteilung von Arbeitnehmern (etwa für die Ernte), die Prognose der Kapazitäten von Krankenhäusern oder die Vermittlungsplattform für Nachbarschaftshilfen – Daten können uns dabei helfen, das Corona-Virus schneller zu besiegen.
Mithilfe einer geordneten Datenpolitik könnten wir schneller zum Alltag zurückkehren und die Bundesliga womöglich schon bald wieder angepfiffen werden. Der Technologiestandort Deutschland würde davon langfristig profitieren. Und politische Entscheidungsträger werden dieses Narrativ mit Sicherheit übernehmen.
These 3: Die Bereitschaft ist da – jetzt geht's an die Umsetzung
Das positive öffentliche Grundrauschen zu datengetriebenen Politikentscheidungen wird (hoffentlich) zur überfälligen Zäsur führen. Die datenbasierte Lösungsfindung könnte so langfristig zur Norm werden, vor allem im öffentlichen Sektor. Genügend Technologieunternehmen, GovTech-Start-ups und staatlich-geförderte Initiativen stehen bereits in den Startlöchern, um ihre Pilotprojekte zu skalieren und die Verwaltungen im Land mit der notwendigen Software und Expertise auszustatten.
Dennoch braucht es jetzt einen Zeitpunkt zum kurzen Innehalten, denn zwei Aspekte darf man indiesem Krisenmoment nicht vergessen: Jede Lösung, auch eine solche, die als kurzfristiges Modell konzipiert wurde, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch langfristig übernommen werden. Schließlich ist nichts ist so beständig wie ein Provisorium. Wenn wir dieses Provisorium also falsch organisieren oder die Spielregeln nicht klar definieren, wird das momentane öffentliche Vertrauen in digitale Lösungen schnell wieder verflogen sein. Populismus und Fortschritts-Skepsis könnten so über Innovation siegen.
Der Impuls, vor der Gefahr des Überwachungsstaates zu warnen, ist dabei durchaus berechtigt: Der Economist etwa bewertete den selbstverständlichen Eingriff der südkoreanischen Behörden in die Personendaten für eine Demokratie als zu weitreichend, bedenklich und darum überdenkenswert. Es gilt also ganz genau zu definieren, welches Maß an Autonomie, Freiheit und Privatsphäre wir in Zukunft bereit sind aufzugeben – und wieviel Bequemlichkeit, Sicherheit und vielleicht sogar neue Formen der digitalen Freiheit wir im Gegenzug dafür erwarten.
Da wir auch die Lösungen privater Technologieanbieter in die Entwicklung öffentlicher Leistungen einbeziehen werden, müssen wir sicherstellen, dass Google & Co. unsere persönlichen Daten nicht gleichzeitig für andere Anwendungen nutzen können (wie es im Patientendaten-Austauschprogramm „Nachtigall“ zwischen Google und dem Gesundheitsanbieter Ascension leider schon geschehen ist).
These 4: Wir befinden uns in einem „Citizen Empowerment Moment“
Die Frage nach dem erlaubten Maß an Überwachung durch staatliche und kommerzielle Akteure können in einem funktionierenden demokratischen Systemletztlich nur wir Bürger beantworten. Wir sollten den Spieß deshalb umdrehen und das Ganze als eine Art „Citizen Empowerment Moment“ begreifen, wie es der israelische Schriftsteller Yuval Noah Harari in seinem Essay „The world after coronavirus“ vorschlägt. Voraussetzung hierfür ist, dass klar definiert ist, für welche Zwecke Daten genutzt werden und wie Institutionen (kommerziell oder öffentlich) diese Informationen verarbeiten – und im Zweifel dafür auch haftbar sind. Nur so kann das notwendige Vertrauen aufgebaut und etabliert werden, und nur so können wir als gut informierte Bürger frei entscheiden, welche Daten wir zur Verfügung stellen wollen und welche nicht.
Es sind also drei grundlegende Aufgaben, die wir in den kommenden Monaten anpacken müssen:
Erstens: Die Entwicklung klarer Spielregeln. Dazu gehört etwa die Pflicht zur Löschung von Daten nach einer bestimmten Nutzungsdauer (sozusagen mit fest definiertem Ablaufdatum), die Verwendung der Daten für vorher klar festgelegte Fragestellungen, die strikte Anonymisierung von Daten sowie konsequente Sanktionen bei Verstößen gegen diese Spielregeln.
Zweitens: Die Entwicklung und Förderung staatlicher, dezentraler Infrastrukturen auf allen Verwaltungsebenen, die öffentliche Dienstleistungen ermöglichen und dadurch zur Quelle für einen weiteren Digitalisierungsschub kommunaler Aufgaben werden können.
Drittens: Es braucht eine grundlegend neue Perspektive, wie wir über die Verwendung von Daten im Allgemeinen nachdenken. Wir brauchen ein neues Konzept, um den Wert von Daten bestimmten zu können, um souveräner und selbstbewusster mit ihnen umgehen zu können. Ein Beispiel aus den USA sind die Modelle des „Participatory Budgeting“ von Daten oder die „Datendividende“, die Nutzer erhalten, wenn sie ihre persönlichen Daten zur Verfügung stellen – es lohnt sich, diese Ansätze weiter zu verfolgen.
These 5: Lust auf interdisziplinäre Pionierarbeit
In den kommenden Monaten werden wir vor sehr sensiblen, schwierigen Entscheidungen mit großer Tragweite stehen, die wir als Gesellschaft bewerten müssen. Wir müssen Geschwindigkeit gegen Genauigkeit, kommerzielle gegen öffentliche Interessen und den Schutz der Privatsphäre gegen den Schutz der Gesundheit abwägen. Dazu braucht es alle Perspektiven, die uns als demokratische Gesellschaft stark machen: nicht nur Politiker und Unternehmer, sondern auch Bürger, Forscher und Ethiker.
Die Phase, in der wir uns befinden, hat einen formierenden Charakter. Prägen werden sie diejenigen, die Lust auf diese Pionierarbeit haben und ihre Begeisterung für Technologie mit gesellschaftlichem Nutzen kombinieren können.
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Ich bin nicht gegen Digitalisierung, auch nicht gegen eine vernünftrige und sich an Recht und Gesetz orientierende Datenverwaltung und deren Nutzung. Nur ist inzwischen das Vertrauen in Staat und Datenwirtschaft bei massiv erloschen. Einerseits müssen Polizei und Justiz zum Teil hohe rechtliche Hürden überspringen, um gegen Straftäter vorgehen zu können und auf der anderen Seite wird vom Bürger immer mehr verlangt, sich digital zu outen und alle möglichen Daten zur Person und seine persönlichen Verhältnisse zu offenbaren. Das bereitet mir erhebliches Bauchweh. Andererseits geben nicht wenige Menschen über soziale Medien und beim Einkauf von allen möglichen Sachen via Internetshop sogar freiwillig alles mögliche an, um die Dienste nutzen zu können. Es bräuchte entsprechend vorgebildete Polizei und Juristen, die unabhängig das Netz und die Daten überwachen. Nur wie soll das gehen? Es können derzeit ja kaum Hassmailabsender ermittelt und entsprechende Texte und Videos gelöscht werden.
Herr Konrad,
ihr Vertrauen ist absolut zu recht erloschen. Ich weise hier nur auf die ganzen weltweiten Skandale hin. Das in der Meinungsäußerung darauf hingewiesen wird, darf getrost als Feigenblatt bezeichnet werden.
Die Verbreitung des Coronavirus wird hier genutzt um mit der Angst und moralischen Druck "freiwillige" Datenabgabe zu erreichen. Sollte das bei nicht passieren, bzw. nicht ausreichen, werden staatliche Stellen die Bürger zwingen. So zumindest meine Vermutung.
Mein Vertrauen in die verantwortlichen aus Politik und auch besonders RKI ist mit dem kasekndrama erloschen. Wer einmal "lügt" ...