- Defizite der Integrationsdebatte
In der Integrationsdebatte ist immer wieder die Rede von der deutschen Leitkultur. Dabei reiche es völlig, sich am Grundgesetz zu orientieren und die dort verankerten Werte selbst vorzuleben, sagt der Jurist Ortlieb Fliedner
Mehr als eine Million Flüchtlinge und Asylbewerber kam 2015 nach Deutschland. 2016 wird voraussichtlich noch einmal eine halbe Million Menschen zu uns kommen. Können die alle in Deutschland integriert werden?
Lautstark zu Wort melden sich diejenigen, die vor allem „den Strom der Flüchtlinge eindämmen“ wollen. Sie fordern Obergrenzen und Grenzkontrollen bis hin zu Grenzzäunen, um dies zu erreichen. Aber auch diejenigen, die Integration als eine wichtige Aufgabe ansehen, schlagen Maßnahmen vor, die eher dazu dienen, potentielle Flüchtlinge und Asylbewerber abzuschrecken.
Das Mitte Februar verabschiedete Integrationskonzept der CDU sieht beispielsweise vor, eine frühe Teilnahme an Integrationskursen oder an Förderprogrammen vor Abschluss des Asylverfahrens zu erschweren. Weitere Maßnahmen sind Beschränkungen des Aufenthaltsrechts und der Freizügigkeit. Außerdem wird darin der Abschluss einer verbindlichen Integrationsvereinbarung gefordert. Danach soll, neben Sprachkursen, ein Kurs zu den „Grundregeln unseres Zusammenlebens“ einschließlich Abschlusstest zur Pflicht gemacht werden. Ein unbefristetes Daueraufenthaltsrecht soll unter anderem nur derjenige erhalten, der über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und Grundkenntnisse unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung nachweisen kann.
Das wackelige Konzept der Leitkultur
Inhaltlich ist all das wohl nicht mehr sehr weit entfernt von der Idee der deutschen Leitkultur. Die zu befolgen ist nach den Vorstellungen der CSU ja zwingende Voraussetzung für die Integration. Der Begriff „deutsche Leitkultur“ wird dabei in einem normativen Sinn gebraucht. Es sind Regeln, die man ohne Wenn und Aber zu akzeptieren hat. Man könnte auch sagen: Man muss sich dieser Leitkultur unterwerfen. Das erzwungene Überstülpen eigener Kulturen hat jedoch selten positive Auswirkungen gehabt. Die Geschichte ist voll von unheilvollen Beispielen erzwungener Durchsetzung kultureller Werte im Namen von Christus oder Allah oder vor dem Hintergrund von völkischem Rassismus.
Abgesehen hiervon hält die Inhaltsbeschreibung, die dem Begriff deutsche Leitkultur gegeben wird, einer kritischen Überprüfung nicht stand. „Deutsche Leitkultur ist viel mehr als das Grundgesetz. Sie basiert auf den Werten der Aufklärung und des Humanismus, der christlich-jüdisch-abendländischen Kultur und unseren gewachsenen Traditionen“, so der Generalsekretär der CSU, Andreas Scheuer, in der Dezember-Ausgabe des Cicero. Er wird sich aber sehr schwer tun, wenn er konkret benennen sollte, in welcher Weise die Werte der Aufklärung über die Werteordnung des Grundgesetzes hinaus gehen.
Grundgesetz versus Aufklärung
Es ist genau umgekehrt. Die Werteordnung des Grundgesetzes umfasst viel mehr als die Werte, die durch die Aufklärung formuliert, aber noch kaum gelebt wurden. Schließlich existierten in der Epoche der Aufklärung vielfach noch Herrschaftsverhältnisse, die vom Absolutismus geprägt waren.
Die Berufung auf den Humanismus klingt zwar gut, ist aber inhaltsleer, da ganz unterschiedliche Konzepte mit dem Begriff Humanismus verbunden werden. Die Berufung auf „die christlich-jüdisch-abendländische Kultur“ offenbart ein Religions- und Geschichtsverständnis, das erschreckend ist. Allein der Begriff „christlich“ beinhaltet völlig verschiedene, teils gegensätzliche Kulturen, wenn man sich die evangelische, katholische und orthodoxe Glaubenslehre anschaut.
Ziemlich unerträglich ist jedoch die Berufung auf die jüdische Kultur als Inhalt deutscher Leitkultur. Seit Jahrhunderten ist in Deutschland der Antisemitismus weit verbreitet und immer wieder wurden Juden wegen ihres Glaubens verfolgt. Zudem ist Deutschland auf ewig mit dem Makel behaftet, dass in seinem Namen das jüdische Volk ausgelöscht werden sollte und sechs Millionen Juden systematisch ermordet wurden. Wer angesichts dieser unheilvollen deutschen Geschichte die jüdische Kultur der deutschen Leitkultur einverleibt, missachtet wieder einmal und in subtil-perfider Weise die Geschichte und das Selbstverständnis des jüdischen Volkes.
Gesamtdeutsches Brauchtum?
Dass der Begriff „abendländische Kultur“ keinen konkreten Inhalt hat, bedarf wohl keiner näheren Begründung. Der Bezug auf „gewachsene Traditionen“ hat darüber hinaus ebenfalls keinen Aussagewert. In einzelnen Regionen Deutschlands mag es Traditionen geben, die richtigerweise Brauchtum genannt werden. Der rheinische Karneval, der Münchener Fasching oder der Bremer Freimarkt sind Beispiele hierfür. Gewachsene, ganz Deutschland umspannende, deutsche Traditionen müssen aber wohl noch erfunden werden.
Im Übrigen ist Brauchtumspflege in einer pluralistischen Gesellschaft keine staatliche, sondern eine zivilgesellschaftliche Aufgabe, und es steht jedem frei, dabei mitzumachen oder nicht. Eine offene Gesellschaft kann Migranten auch nicht verwehren, Brauchtum aus ihrer ursprünglichen Heimat bei uns in Deutschland weiter zu pflegen.
Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat. Die Regeln von Demokratie und Recht sind daher maßgeblich für alle, die in Deutschland wohnen und bleiben wollen. Dass diese Regeln von denen, die zu uns gekommen sind, gelernt und befolgt werden müssen, ist die eine Seite der Integration. Zumeist verschwiegen wird die andere Seite, die zu einer erfolgreichen Integration gehört: dass nämlich die den Regeln zugrunde liegenden Werte auch sichtbar sind und gelebt werden.
Wenn Asylbewerber monatelang in einer Turnhalle auf engstem Raum, ohne Privatsphäre und ohne sinnvolle Arbeit untätig darauf warten müssen, dass sie einen Termin beim BAMF bekommen, wird nicht nur die Würde der Menschen beeinträchtigt, die der Staat gemäß dem Grundgesetz zu achten und zu schützen hat. Auch das im Grundgesetz garantierte Recht auf Asyl wird konterkariert.
Staatliche Doppelmoral
Ein weiteres Beispiel eines Verstoßes gegen die eigenen Werte ist in dem von der Bundesregierung beschlossenen Asylpaket II enthalten. In Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Wenn jetzt zwei Jahre lang den Eltern minderjähriger Kinder, die zu uns gekommen sind, der Nachzug verwehrt wird, können sie ihr Elternrecht und ihre Elternpflicht nicht ausüben. Dass sie durch staatliche Maßnahmen an der Ausübung dieses wesentlichen Grundrechts gehindert werden, ist wohl kaum verfassungsrechtlich vertretbar.
Schließlich gehört zu dieser Seite einer erfolgreichen Integration auch, dass der Staat seine Regeln gegenüber den fremdenfeindlichen, kriminellen Taten der Deutschen mit gleicher Härte durchsetzt wie bei kriminellen Handlungen von Migranten. Die mangelnde Aufklärung der zahlreichen Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte oder das zehn Jahre andauernde Morden des NSU, das unbehelligt von polizeilichen Ermittlungen erfolgen konnte, lassen Zweifel aufkommen, ob die Werte, deren Anerkennung wir von den Asylbewerbern, Flüchtlingen und Migranten zu Recht verlangen, von den staatlichen Stellen sichtbar gelebt werden.
Zivilgesellschaftliches Engagement
Die Zivilgesellschaft in Deutschland trägt heute den größten Teil der Integrationsbemühungen und befördert die Integration der Asylbewerber und Flüchtlinge aktiv. Was im Einzelnen vor Ort von Kommunalverwaltungen, Ehrenamtlichen, Vereinen und Hilfsorganisationen an Integration geleistet wird, darauf kann Deutschland stolz sein.
Die politische Diskussion auf Bundesebene und die dort getroffenen Maßnahmen unterstützen dieses Engagement nicht in dem erforderlichen Maße. Das ist besonders dann der Fall, wenn, wie dargestellt, unter dem Stichwort Integration integrationshemmende oder sogar integrationsverhindernde Maßnahmen beschlossen werden.
Demokratie stärken
Schließlich wird ein wichtiger Aspekt der Integration in den politischen und medialen Debatten überhaupt nicht angesprochen. Deutschland scheint zwar 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine relativ stabile Demokratie zu sein. Aber zu unserer Geschichte gehört, dass die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, daran zugrunde ging, dass es zu wenige Demokraten gab. So konnte Deutschland ohne Bürgerkrieg, Putsch oder Revolution zu einer verbrecherischen Diktatur werden.
Ein ganz wesentlicher Teil der Bemühungen um Integration der Menschen, die jetzt zu uns gekommen sind, muss daher sein, sie, wenn irgend möglich, zu engagierten Demokraten zu machen. Das bedeutet aber, dass ihnen so früh wie möglich Gelegenheit gegeben werden sollte, an politischen Entscheidungen über die Gestaltung unserer Lebensverhältnisse mitzuwirken. Die Stärkung der kommunalen Ausländerbeiräte und ein Kommunalwahlrecht schon vor dem Erwerb der Staatsbürgerschaft wären zwei Maßnahmen in diesem Sinne. Gefordert sind vor allem auch die Parteien, aktives politisches Engagement zu fördern.
Integration wird heute vor allem mit dem Dreiklang Sprache, Wohnen und Arbeit gefüllt. Das sichtbare Vorleben der Werte des Grundgesetzes, die das Fundament von Staat und Gesellschaft sind, gehört ebenso dazu wie die aktive Förderung politischen Engagements.
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Danke für den guten artikel.
ja demokratie üben . teilhabe an entscheidungen.
werte erleben, das wohl schwierigste..
alles bitter notwendig und zukunftsweisend