„Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein
„Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein / picture alliance

Buchauszug „Keitumer Gespräche“ - Lachend die eigene Wahrheit sagen

Das Erbe des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein ist kompliziert. Jetzt hat seine vierte Ehefrau Gisela Stelly Augstein einen Schlüsselroman geschrieben. Ein Textauszug

Autoreninfo

Gisela Stelly Augstein war von 1972 bis 1991 mit dem Spiegel-Gründer Rudolf Augstein verheiratet. Sie hat für die Zeit geschrieben, Filme gedreht (Buch und Regie) und ist Romanautorin (zuletzt Goldmacher", Arche Verlag 2012). Sie lebt in Hamburg und Berlin.

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Gisela Stelly Augstein war die vierte Ehefrau des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein. 20 Jahre war sie mit ihm verheiratet und kümmerte sich mit ihm auch um dessen Sohn Jakob, der aus Augsteins vorheriger Beziehung stammte. Als Jakob Augstein, Verleger des Freitag und Spiegel-Erbe, 2009 öffentlich machte, dass sein leiblicher Vater der Schriftsteller Martin Walser sei und Rudolf Augstein das zu Lebzeiten gewusst habe, rief dies Stelly Augstein auf den Plan. Sie bestritt in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt dessen Darstellung der Einvernehmlichkeit zwischen leiblichem und gesetzlichen Vater. Martin Walser und Jakob Augstein haben mittlerweile ein gemeinsames Vater-Sohn-Gesprächsbuch auf den Markt gebracht. Jetzt hat Gisela Stelly Augstein diesen Familienstoff in einer Sylt-Novelle namens „Keitumer Gespräche“ literarisch verarbeitet. 

Doch dann stand es plötzlich fast auf den Tag genau sieben Jahre nach seinem Ableben im November 2009 in der Zeitung. In einem Nebensatz. Wie eine Nebensache. Wie nebenbei gesagt von seinem Ältesten. Ein nebenbei gesagter, nebensächlicher Nebensatz. Durch den sich unser Resident ganz nebenbei entleibt sah. Es war eine Art Mord. Vatermord. Bei gleichzeitiger Transformation, denn er sah sich wie Gregor Samsa, wenn auch nicht auf dem Rücken liegend und mit den Beinchen zappelnd in einen Käfer, so doch in etwas verwandelt, das sich wie eine von höchster Instanz verhängte Strafe anfühlte: in einen sogenannten gesetzlichen Vater!

Sein leiblicher Vater ist Martin Walser, sein gesetzlicher Vater ist Rudolf Augstein, erklärte sein Ältester der Frankfurter Rundschau.

Die übergeworfene Freundschaft

Das sei der Startschuss für die „Rallye of Destruction“ des Ältesten gewesen … der Resident hält kurz inne. Keinesfalls werde er dem Nachbarn an der Wattseite nun von seiner Seelenqual infolge seiner Entleibung berichten, versichert er dann schnell, zeitlebens wollte er „es wagen, lachend die Wahrheit zu sagen“. Und so wolle er es auch jetzt wieder halten, obwohl er an diesem Tag im November, dem Tag seiner Entleibung, auch noch an gleicher Stelle erfuhr, dass sie, diese beiden Väter, befreundet waren und ihr Wissen teilten. Oh je, eine Wolldecke der Freundschaft wurde über ihn geworfen, unter der er jahrzehntelang gehockt und im gänzlich verschwiegenen Geheimbund mit dem Leiblichen das Wissen von dessen Leiblichkeit geteilt haben soll! Tollkühne, tolldreiste Dinge müssten sich dort unter dieser Wolldecke der Freundschaft abgespielt haben, der Leibhaftige müsse es gewesen sein, der ihm die Feder führte, als er in seinen testamentarischen Verfügungen seine eigenen Kinder überging und dem Sohn des Leiblichen die herausgehobene Position übertrug und damit den Grundstein legte für das familiäre Hurlyburly! Ein Teufelsbraten muss er gewesen sein, fürwahr! „Wenn es denn wahr wäre … du kennst eine andere Version, Fritzchen? Kannst du das wiederholen, ich verstehe dich so schlecht … um ihn vor meinen eigenen Kindern zu schützen? Falls sie einmal herausfinden sollten, er ist nicht mein Sohn und nicht ihr Bruder? Um ihn vor meinen eigenen Kindern zu schützen, habe ich dem Ältesten die Macht gegeben? Habe ich das richtig verstanden … da hat man dir aber einen ziemlich großen Bären aufgebunden, Fritzchen, da lachen ja selbst die Hühner!“

Die Neugier der Klatschblätter

Was aber meint denn nun, von den neugierigen Medien befragt, das frischgebackene Elternpaar? Wie äußert es sich zur öffentlichen Geburtsanzeige seines mittlerweile zweiundvierzig Jahre alten Babys?

Nun, es sagt erstaunlich wenig. Doch das Wenige genügt, um die öffentliche Neugier schnell versiegen zu lassen, scheint es sich doch wohl um ein von den Beteiligten verabredetes, ganz und gar einverständliches Stillschweigen gehandelt zu haben.

„Die Beteiligten haben bisher den Mund gehalten.“ So die Mutter zur Bild. Wer diese Beteiligten sind, verrät sie nicht, lässt jedoch einschränkend wissen, ihr Sohn sei kein Beteiligter, erst nach dem Ableben des gesetzlichen habe sie ihn über seinen leiblichen, seinen richtigen Vater informiert. Nun habe er es hinausposaunt, sich damit jedoch keinen Gefallen getan, denn bisher sei er der Sohn des großen Verlegers gewesen – und jetzt?

Bunte gegenüber zeigt der Leibliche im Gegensatz zur Mutter Verständnis für das Outen seines Sohnes und outet sich in der Bild am Sonntag. Er erinnere nicht, seit wann er um seine Vaterschaft wisse, es liege schon so lange zurück.

Kein Widersprechen

Anschließend widerspricht keiner der beiden hinausposaunten Beteiligten dem mit viel spekulativer Phantasie aufgeladenen Reim, den sich die Medien aus ihren wenigen und knapp formulierten Sätzen machen. Keiner der beiden widerspricht etwa der medialen Feststellung einer langen und innigen Freundschaft der Väter. Oder der Behauptung eines verschwiegenen, ganz und gar einverständigen Dreierbunds der Väter mit der Mutter, den Sohn des Leiblichen dem anderen zu überlassen. Oder der Behauptung, der sogenannte Gesetzliche habe den Sohn des Leiblichen adoptiert  – keiner der Beteiligten, wer auch sonst noch von der Mutter als Beteiligter gemeint sein mag, widerspricht jemals. Auch nicht der Dreistigkeit, die ihm, dem sogenannten Gesetzlichen, den Atem verschlägt, hätte er denn noch einen, mit welcher er in den Medien dem Club der Beteiligten als Wissender zugeschlagen wird. Drei oder vier Sätze der Mutter zu Bild, drei oder vier Sätze des Leiblichen zu Bunte, danach halten die Beteiligten wie bisher den Mund.

Und keiner aus der umfänglichen Familiengemeinde, der widerspricht?

Wie steht es im „Struwwelpeter“? „Und [sie] blickte stumm. Auf dem ganzen Tisch herum.“

Kurz zuvor noch bemerkte sie beglückt die große Ähnlichkeit der Kinder seines Ältesten mit ihm, dem verstorbenen Großvater, jetzt ist sie sprachlos.

„Auch du, lieber Fritz“, wendet sich unser Resident wieder an den neuen alten Nachbarn, „auch du hieltest es für ratsamer zu schweigen, obwohl du doch deinem Tagebuch anvertraut hattest, bereits seit des Knaben viertem Lebensjahr von der Mutter in die wahre Leiblichkeit eingeweiht gewesen zu sein …“

Er wird vom beginnenden Läuten der Kirchenglocken unterbrochen. Es ist nicht das übliche Geläute, es ist der volle Sound des gesamten Glockenspiels, der in die Stille des Keitumer Gottesackers einbricht und sich weit über den Ort und auf das Meer hinausschwingt, er kündet von Ostern, von der Auferstehung Jesu Christi im Fleische!

Der Entleibte über dem Elbstrom

Oh, wie mächtig steigt jetzt mit dieser Ankündigung der Auferstehung im Fleische in ihm, dem Entleibten, der Wunsch auf, dem enttarnten Elternpaar leibhaftig zu begegnen. Und tatsächlich, unter dem Geläute der Osterglocken verleiht dieser heiße Wunsch seiner Seele Flügel, und er sieht sich, über eine Brücke von Raum und Zeit hinweg, im Jahre 2009, dem Jahr der Veröffentlichung, in seiner Heimatstadt. In bekannter Umgebung. Sieht, wie er über den langen, scheinbar frei schwebenden Steg geht, der ihm, bevor er im rechten Winkel abknickt und den Gast zum Restaurant geleitet, von weit oben einen Schwindel erregenden Ausblick über den breiten Elbstrom gewährt. Er sieht sich innehalten und über die Wipfel der Bäume und den Fluss hinweg auf die Hafenanlagen am anderen Ufer spähen. Es ist noch früher Abend, die Lichter spiegeln sich im glitzernden Wasser, dann steigt Novembernebel auf, und seltsame Gestalten treten hervor, sie bewegen sich aufeinander zu, entfernen sich wieder, andere erscheinen: Da erwacht seine Dramatiker-Seele: Wer, wenn nicht er, der leidenschaftliche Stückeschreiber von einst, ist berufen, das geheime Drama seines Lebens, in dem er zeit seines Lebens als unwissender Tor herumgestolpert ist, in Szene zu setzen, sei es als Tragödie oder Komödie? Kurzerhand betritt er das ihm vertraute Restaurant und erklärt es, von seiner Dramatiker-Seele beflügelt, zu seinem Bühnenraum. Hier sollen sie sich einfinden, die Mitspieler in seinem Drama, von ihm in Szene gesetzt „nach dem Leben“. Und da sitzt sie auch schon an einem der Tische für zwei oder auch vier Personen in einer der Nischen im Halbdunkel am Fenster!

Sie ist allein. Sie, die Mutter seiner Kinder, wie er sie nannte, bevor er mit ihr eine einjährige Ehe einging ein Jahr nach der Geburt seines Ältesten. Wegen der Geburt seines Ältesten. Aber auch nach der Scheidung blieb er dabei, sie „die Mutter meiner Kinder“ zu nennen.

Er setzt sich zu ihr an den Tisch. Sie schaut ihn an, dann auf ihre Armbanduhr, danach zur Eingangstür. Sie ist unruhig, in Erwartung. Wieder sieht sie zu ihm, jedoch durch ihn hindurch, er ist ja eines jener Dinge zwischen Himmel und Erde.

Gleich dem Elbstrom tief unterhalb des Fensters, aus welchem er, neben ihr sitzend, Blicke wirft, fließt die Erinnerung unaufhaltsam durch ihn hindurch: Madeira. Er wünscht, sie möge sich jetzt an Madeira erinnern. An ihre nicht verabredete Begegnung in der Halle des Hotels. Sie stand plötzlich vor ihm und seiner späteren Frau, der späteren Mutter seines jüngsten, nun einzigen Sohnes. Sie war damals, Jahrzehnte liegt es zurück, äußerst erregt. Er, der Vater ihrer beiden Kinder, habe moralisch keine andere Wahl als sie, die Mutter seiner beiden Kinder, zu heiraten, hieß ihre Botschaft, mit der sie zu seinem Ferienort Madeira aufgebrochen war. Und nun, zweiundvierzig Jahre darauf, soll er nicht mehr der sein, der er damals ohne Wenn und Aber und dann auch lebenslang gewesen ist, der leibliche und zeitlebens verantwortungsvolle Vater?

Das Drama nach dem Leben

Vor dem Fenster schiebt sich langsam und stetig und dabei alle Lichter verschlingend die schwarze Wand eines Containerschiffs wie ein quergestelltes Guillotine-Messer in sein Blickfeld und durchtrennt das Draußen. Ein Schnitt wie durch einen Körper, wie durch seine Seele, und spontan ändert unser Resident den Ablauf der Ereignisse in seinem Drama „nach dem Leben“: Nicht wie zunächst heiß gewünscht, tritt nun der Leibliche in Erscheinung, nein, er gibt aus seiner spontanen Empfindung heraus dem Anwalt den Vorrang, spielt dieser doch eine gewiss nicht zu unterschätzende Rolle für den großen Hurlyburly, den Wirrwarr. Möglicherweise eine entscheidende! Ist vielleicht sogar der Einflüsterer, Ideengeber dafür, wie ein großer Hurlyburly zu entfachen sei. Ein wahrer Advocatus Diaboli, der versteht, mit Hilfe seines Handwerks einen großen Wirrwarr zu stiften und den normalen Menschenverstand mit Vernebelungs- und Verschleierungstaktiken außer Kraft zu setzen.

Der Advocatus Diaboli

Jetzt betritt also der Advocatus Diaboli das Restaurant. Er eilt mit schnellen, kleinen Schritten auf seine Mandantin zu, deutet eine Verbeugung an, lässt sich auf den Stuhl neben ihr fallen, dreht sich mit Schwung zu ihr hinüber und so nah wie möglich an ihr Ohr.

„Formidable“, flüstert er seiner Mandantin ins Ohr, „glänzend!“Seine kleine, fleischige Hand patscht auf ihre große, dünne. Niemand soll das sehen, doch er drückt die unter seiner Hand liegende immer heftiger, so dass seine Mandantin schließlich leise aufschreit.

„Muss sein, muss sein!“, flüstert er und platzt vor Freude fast aus den Nähten seines dunkelblauen, goldgeknöpften Blazers. Ein abschließendes und als solches noch verstärktes, kurzes Zupacken, und er lässt ihre Hand los, bestellt den Kellner, der umgehend den Champagner serviert.

„Formidable!“, sagt er noch einmal. Und dass es ihr glänzend gelungen sei, Wort für Wort den verabredeten Satz für Bild zu wiederholen, Wort für Wort, einfach großartig!

Er lässt sein Glas gegen ihres klicken.

Sie widerspricht. Sie habe einen Satz, einen eigenen Satz hinzugefügt, habe gesagt, ihr Sohn täte sich keinen Gefallen, seinen Leiblichen preiszugeben, es hinauszuposaunen, denn bisher sei ihr Sohn der Sohn des großen Verlegers gewesen  – „Und jetzt? Ich frage Sie, was ist er jetzt?“

Sie setzt eine verächtliche Miene auf. Zittert jedoch vor Wut. Und aus Angst.

Vor die Nase gesetzt

„Ist doch alles gut gegangen“, will der Anwalt sie beruhigen, doch unsere Dramatiker-Seele will keine Beruhigung, will das Zittern vor Wut und Angst. Und so wird es dunkel im Restaurant, das die Bühne darstellt, eine Filmsequenz läuft ab, wie es heutzutage im Theater nicht unüblich ist, eine Rückblende:

Die Mutter hat gerade erfahren, ihr Sohn wolle seinen richtigen Vater in einem Zeitungsinterview öffentlich benennen. Die Kamera folgt der Protagonistin, wie sie in ihrem Haus von einem Raum in den anderen flieht. Nein, sie ringt dabei nicht wie die traumwandelnde Lady Macbeth die Hände, als wolle sie sich das Blut abwaschen. Das nicht. Das ganz gewiss nicht. Kein Blut. Sie flieht durch die Räume mit aufscheuchenden oder wegscheuchenden Handbewegungen. Unsere Dramatiker-Seele stellt sich vor, dass die Mutter etwas mit ihren Händen abwehrt, was an ihr haften bleiben, ihr fortan anhaften könnte. Vielleicht Unehrenhaftes? Was könnte an Unehrenhaftem an ihr haften bleiben, wenn er, ihr Sohn, es hinausposaunt? Bisher war sie die dritte Ehefrau und Mutter von zwei der vier Kinder des großen Verlegers – und jetzt? Was wird sie jetzt sein? Eine, die dem Ahnungslosen seinen Ältesten bis heute, sieben Jahre nach seinem Tod, untergeschoben und selbst dann das Versteckspiel nicht aufgegeben hatte, als er, der Ahnungslose, ihren Sohn seinen leiblichen Kindern vor die Nase setzte und ihm die Macht gab? Eine, die den eigenen Sohn um den leiblichen Vater betrogen hat? Verursacherin des großen Familien-Hurlyburlys, wirksam bis in die dritte oder vierte Generation?

Das alles und noch viel mehr treibt sie um, zumindest lässt unsere Dramatiker-Seele seine Protagonistin, die Mutter, mit diesen und ähnlichen Gedanken durch die Räume geistern, denn noch kennt sie nicht die geniale Formel, an der ihr Advocatus Diaboli gerade bastelt: ein Bollwerk wie aus „Slime“, jener glitschigen Spielzeug-Substanz, an der nichts haften bleibt. Ein sprachliches Meisterwerk aus sieben Worten, das alles und nichts sagt. Da läutet das Telefon. Die Mutter wagt nicht, das Gespräch anzunehmen, das ist ihr zur Gewohnheit geworden, seit langem schon fühlt sie sich verfolgt.

Der Anrufbeantworter schaltet sich ein, die Stimme des Anwalts spricht den Schlüsselsatz, das Meisterwerk, das Bollwerk, die geniale Formel: „Die Beteiligten haben bisher den Mund gehalten  … ich wiederhole: Die Beteiligten haben bisher den Mund gehalten  … ich wiederhole: Die Beteiligten …“ die Filmsequenz bricht ab, das Licht auf der Bühne hellt sich wieder auf, die Mutter und ihr Anwalt sitzen wie zuvor im Restaurant, seine Hand tätschelt noch immer beruhigend ihren Arm, sie schnaubt noch immer vor verhaltener Wut: Was hat sie nicht alles für diesen ihren Sohn auf sich genommen, um ihn zum Erben des großen Verlegers zu machen! Und nun diese Gefährdung! Diese Undankbarkeit! Zelebriert sich als Opfer! Dabei haben sie ihren Bund des Schweigens doch bereits vor etlichen Jahren an seinem achtzehnten Geburtstag  – oder war es sein zwanzigster?  – beschlossen …

Zauberformel oder fauler Zauber

„Aber meine Gute“, unterbricht der Anwalt, „Sie haben von mir eine Zauberformel …“

„Zauberformel?! Allein das Wort riecht doch schon von weitem nach faulem Zauber! Die Beteiligten …“

„Meine Liebe, beruhigen Sie sich, überlassen Sie die Interpretation den anderen, der Gesetzliche wird sich dazu nicht mehr äußern, er hält den Mund für immer, wenn ich das mal so salopp sagen darf.“

Ein dankbares Lächeln der Mutter, doch gleich bemächtigen sich ihrer wieder die Unruhegeister.

„Es gibt Zeugen“, raunt sie düster.

„Pardon, meine Gnädigste, nur um Sie zu beruhigen, vertraue ich Ihnen an“, – er schaut sich nach allen Seiten um  – „es gibt Mittel und Wege, den Verstorbenen selbst Zeugnis ablegen zu lassen“,  – wieder ein kurzer Rundumblick – „man könnte, wenn nötig, das eine oder andere Schriftstück in seiner persönlichen Schrift … Sie wissen, wie das geht? Man könnte das eine oder andere Schriftstück in seinen persönlichen Unterlagen finden …“

„Die Unterlagen!“, unterbricht die Mutter erregt, „Wie lange werden bei Gericht Unterlagen aufbewahrt? Prozessunterlagen!“

„Aber liebe gute Frau, wer denkt denn an einen Prozess?! Einen Prozess haben wir doch gerade ausgeschlossen! Was wir formuliert haben, ist eine Prozess-Ausschluss-Formel, verstehen Sie doch endlich, sie schließt den Gesetzlichen als Beteiligten mit ein, und damit ist ein Prozess ausgeschlossen, soll doch jemand beweisen, dass er es nicht gewusst hat, dass er kein Beteiligter war!“

„Der Prozess!“, ruft die Mutter verzweifelt und verbirgt ihr Gesicht, der Anwalt fährt sich ungeduldig durch sein schütter gewordenes Haar; ja, ist er denn in einer Komödie?

Voll grimmiger Genugtuung lässt unsere Dramatiker-Seele sich nun die Mutter in aller Deutlichkeit an jenen Prozess um seinen Ältesten erinnern, den er, damals war der Junge im achten Lebensjahr, mit ihr vor Gericht um das Besuchsrecht ausfechten musste.

„Die Unterlagen beweisen es!“, presst die Mutter nun hervor, „Er wusste es nicht! Auch das Gericht wusste es nicht!“ Der Prozess wäre gar nicht möglich gewesen, hätte das Familiengericht vom Leiblichen als Vater gewusst!

Die Mutter lächelt gequält.

Alles vernichten?

Sie habe nicht nur ihrem Ex-Mann, sie habe auch dem Gericht nicht die Wahrheit gesagt, das würden die Unterlagen beweisen!

Sie beugt sich zu ihrem Anwalt und flüstert: „Können Sie nicht die Prozessprotokolle vernichten? Können Sie nicht alle Gerichtsunterlagen vernichten? Alles vernichten?“ Sie bedeckt ihr Gesicht mit ihren Händen und stöhnt wie unter Qualen leise vor sich hin.

Ein Kellner nähert sich mit der Vorspeise.

„Beruhigen Sie sich, nun beruhigen Sie sich doch!“, mahnt der Anwalt kurz und eindringlich und stürzt sich hungrig auf die Vorspeise.

„Das nennt man Katzenjammer, gnädige Frau, Sie haben einen Katzenjammer!“, lässt er nach kurzem Genuss seine Mandantin wissen. „Löffeln wir erst einmal unser Hummersüppchen, dann wird die Welt gleich wieder rosiger aussehen  …“

Unser Resident wird vom Läuten der Osterglocken, dieses Mal begleitet es das Ende der Ostermesse, aus seinem Drama „nach dem Leben“ gerissen und hält inne, es ist später Vormittag, die Sonne liegt hinter trübem Dunst, „die unsichtbar schwellenden Wattströme haben das Eis zerrissen und aus den Spalten steigen rauchende Nebel“. Langsam verebbt das Glockengeläute.

 

Buch Keitumer GesprächeGisela Stelly Augstein, „Keitumer Gespräche“, erschienen im Westend-Verlag, 96 Seiten, 16 Euro 

 

Buchvorstellung und Diskussion am heutigen Mittwoch

18.30 Uhr I Denkerei Berlin, Oranienplatz 2, 10999 Berlin

 

 

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Dorothee Sehrt-Irrek | Mi., 25. April 2018 - 15:45

"einzigen" Sohn.
Anmerken würde ich wollen, dass ich die Machtfrage in Hinblick auf den großen Verleger für nicht unbedeutend halte, aber wie hatte sich die 5. Frau das gedacht?
Franziska wäre die leibliche Tochter und also müsse ihr zur Seite gestellt werden ihr Sohn, als der einzige leibliche Sohn Augsteins, um der Macht Willen?
Hat mal jemand einen Blick auf Jakob Augstein geworfen und ist nicht zu der Ansicht gekommen, dass sein rechtlicher Vater evtl. alles darum gegeben hätte, der Vater dieses Jungen zu sein?
Neben Augstein verblasst fast seine Schwester, das Leid der Töchter, dem Vater zu ähneln, während die Brüder den Liebreiz der Mutter haben.
Wenn Rudolf Augstein sich so um Jakob mühte, dürfte ihm dessen Mutter wichtig gewesen sein.
Unabhängig davon sollte es für Jakob Augstein unwichtig sein, wer sein Vater war - dabei kann er sich wahrlich nicht beklagen - er macht auch so "etwas" her.
Er zählt evtl. zu den Männern, die sich willige Väter aussuchen können:)

Könnten Sie bitte Ihren Beitrag in "einfacher Sprache" wiederholen, damit ich verstehen kann, was Sie meinen?

Nils Dankert | Do., 26. April 2018 - 10:54

Wer den Anspruch stellt und willens ist, dass Erbe von zwei Vätern anzutreten, sagt einiges über seinen Charakter aus.