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Moralische Instanz - Das Zeitalter des Intellektuellen ist endgültig vorbei

Kolumne Grauzone: Sie sind Mahner und Warner, Pfeife rauchende Moralisten. Intellektuelle haben wenig Ahnung, aber viel zu sagen. Denn die komplexen Gesellschaften unserer Moderne erfordern Spezialisten, keine Intellektuellen

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Die Nachricht vom Tode Günter Grass’ war vielleicht zwei Stunden alt, da machte der Politologe und Publizist Johano Strasser den Anfang. Im Deutschlandfunk formulierte er: Grass sei der Typus des politisch intervenierenden Intellektuellen und Schriftstellers gewesen, „wie wir ihn dringend brauchen und leider kaum noch haben.“

Das war absehbar. Und so war es auch nicht überraschend, dass alle in den Chor einstimmten: Grass sei der letzte seiner Art gewesen. Es sei ein großer Verlust, dass es die engagierten Intellektuellen und politischen Schriftsteller nicht mehr gebe. Unsere Gesellschaft habe sie dringend nötig.

Ist das wirklich so? Brauchen wir sie wirklich, die bestallten Mahner und Warner? Worin genau liegt ihre Qualifikation? Was befähigt etwa einen Romancier oder Künstler, sich zu Fragen der Finanz-, Wirtschafts- oder Umweltpolitik zu äußern? Fachkenntnisse auf jeden Fall nicht.

Ohne Ahnung, aber mit gefestigtem Weltbild
 

Der Intellektuelle ist der Hofnarr der Moderne. Doch anders als sein mittelalterlicher Kollege agiert er nicht in einer geschlossenen Hofgesellschaft. Sein Publikum ist eine hoch technisierte und hoch ausdifferenzierte Massengesellschaft. Hier beginnt das Problem.

Die komplexen Gesellschaften unserer Moderne erfordern Spezialisten, Fachleuchte für äußerst diffizile Probleme. Die Lösungen, die diese Fachleute vorschlagen, sind für die meisten Menschen kaum zu beurteilen – da sie selbst keine Fachleute sind und im Grunde von der jeweiligen Materie keine Ahnung haben.

So entsteht eine erhebliche Kommunikationslücke. Und in die springt munter der Intellektuelle. Für ihn ist alles ganz einfach. Von Tuten und Blasen hat er zwar keine Ahnung, aber das macht nichts. Dafür hat er ein gefestigtes Weltbild im Kopf. An dessen Kategorien misst er die gesellschaftlichen Entwicklungen.

Geistesgeschichtlich stammt der Intellektuelle aus einer Zeit, als man noch glaubte, ohne spezielle Kenntnisse aber mittels eines gedanklichen Systems, nur durch reines Nachdenken, irgendetwas halbwegs Relevantes über die Welt sagen zu können.

Verkündung moralischer Maximalforderungen und gefühlter Halbwahrheiten
 

Das funktioniert natürlich nicht. Schon gar nicht in den hoch technisierten Gesellschaften der Moderne. Doch es gibt ein tief verankertes menschliches Bedürfnis nach normativer Einordnung. Hier liegt die Spielwiese des Intellektuellen. Sein Feld ist die ethische Bewertung, sein Gestus die moralische Empörung.

Um gehört zu werden, radikalisiert der Intellektuelle seine moralische Entrüstung. Er geriert sich als Ankläger und Richter in Personalunion. Er chauffiert sich über die Ungerechtigkeiten der Welt und schwingt sich zum Anwalt der Beladenen und Entrechteten empor.

Der Vorteil dabei: Wer moralische Maximalforderungen stellt, macht sich immun gegen Kritik. Gegenüber dem hochfahrenden Moralismus wirkt jeder sachliche Einwand kleinlich und hartherzig. So beherrscht man Diskurse.

Das Weltbild des Intellektuellen ist dabei notwendigerweise einfältig. Das liegt vor allem daran, dass moralische Bewertungen, die ausschließlich auf normativen Vorentscheidungen – vulgo: Ideologien – beruhen, zu einer gewissen Einfalt neigen.

Autoritätsverlust einer mahnenden Instanz
 

Anders als sein Titel suggeriert, geht es dem Intellektuellen daher auch nicht um Erkenntnis (lat. „intellectus“), sondern um die Verkündung gefühlter Wahrheiten. Mit deren Hilfe stellt er sich vermeintlich wagemutig den Mächtigen und Einflussreichen in den Weg. Mit Vorliebe kultiviert er daher einen rebellischen, antiautoritären Habitus.

Das ist allerdings verlogen. Denn die Stellung des Intellektuellen basiert ihrerseits auf Obrigkeitsglaube und Autoritätshörigkeit. Er ist der Vordenker und Vorbeter der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Und alle, die sich „kritisch“ und „reflektiert“ vorkommen, beten ihm nach.

Der Intellektuelle lebt von sozialen Voraussetzungen, die er bekämpft. Sein Reich ist eine gelenkte Demokratie. Denn allein der Intellektuelle weiß, was wirklich gut für die Menschen ist, was sie wollen und wie sie zu denken haben.

Doch folgen die Massen dem Intellektuellen nicht, trifft sie der Bannstrahl des Allgewaltigen: Dann gelten sie als verführt (von Rattenfängern), manipuliert (von den Massenmedien) oder sind getrieben von Ressentiments.

Wie einst die Kirche, so verliert nun endlich auch der säkulare Priester der Moderne seine Rolle als moralische Instanz und mahnende Autorität. Die aufgeklärten, pluralistischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts brauchen keine Pfeife rauchenden Intelligenzdarsteller. Das Zeitalter des Intellektuellen ist endgültig vorbei. Er ist ein Anachronismus. Wir werden ihn nicht vermissen.

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