Skulptur Tor zum Prenzlauer Berg von H. von der Goltz / dpa

In geschlossener Gesellschaft - Weder offen noch inklusiv: zur Praxis liberaler Lebensformen

Über die Jahre hat sich in urbanen Kreisen ein Sozialmilieu herausgebildet, das sich als kosmopolitisch, pluralistisch, liberal und tolerant versteht. Eine Tatsache hört man dort ungern: Das Konzept der offenen Gesellschaft hat klare Limitationen.

Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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Jede soziale Schicht lebt davon, sich gegen die Mitglieder anderer Milieus maximal abzugrenzen. Nur so bewahrt sie dauerhaft ihre eigene Struktur und Konsistenz. Es ist wie die Zugehörigkeit zu einem Club – nicht alle können (und sollen) Mitglied werden. In diesem strukturellen Sinne ähnelt auch die Europäische Union eher einer Burschenschaft oder einem Kleintierzüchterverein als einem unkontrollierbaren Einwanderungsgebiet.

Schon der amerikanische Politologe Benedict Anderson hatte erkannt, dass Tendenzen der äußeren Abgrenzung für den Fortbestand von gesellschaftlichen Subsystemen wesentlich grundlegender sind als Tendenzen der Öffnung und Einbindung. Das gilt umso mehr für komplexe Sozialgebilde wie Milieu- und Klassenzugehörigkeit.

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Ingbert Jüdt | Mo., 1. Juli 2024 - 08:37

Diese im trügerischen Plauderton vorgetragenen treffenden Spitzen hätte ich noch seitenlang weiterlesen können. Der beste Satz lautet: »Tatsächlich ist die Blindheit des Bürgertums vor den politischen Konsequenzen seiner eigenen Haltungen und Handlungsweisen eine der Hauptursachen des rapiden Niedergangs demokratischer Werte und ihrer Delegitimierung.« Oder kürzer gefasst: Das »Wir-sind-die-Guten«-Narrativ frisst seine Kinder. Ich würde mich nur nicht auf den Sinkflug verlassen: die Strömung an den Tragflächen kann nämlich auch kurz vor dem Aufsetzen noch abreißen. Zum Beispiel, wenn der »lauwarmen Betroffenheit« ein neues Existenzial wie »Kriegstüchtigkeit« aufgedrückt wird, weil sich bei einigen Politiker das Gefühl einstellt, dass ihnen Krieg und Krise bekommt wie eine Badekur. Wenn der brave Bürger dann nämlich vor lauter uneingestandener Verzweiflung in einen falschen Heroismus abbiegt, sind wir unversehens wieder im August 1914.

Reinhold Schramm | Mo., 1. Juli 2024 - 08:54

Die am Privateigentum von Produktionsmitteln und von deren Aktienbesitz eigentumslose Mehrheit der Erwerbsbevölkerung, etwa 70 % aller Deutschen, ob ohne und mit Migrationshintergrund und Doppelpass, bleibt von alldem ausgeschlossen.
Sie leisten die materielle Wertschöpfung für die sozialökonomische Existenz der Gesamtgesellschaft. Für den Reichtum der differenzierten deutschen Bourgeoisie und dem vorhandenen Wohlstand der akademischen Eliten, ebenso wie für die persönlich leistungslosen Erben der hohen Beamtenschaft, der abgehobenen Parlaments- und weltfremden Ministerial- und Regierungsbourgeoisie. Für die Übernahme der großen Privatvermögen an Produktionsmitteln der Großunternehmen, Konzerne und deren multinationalen Wirtschaftsmonopole.

Es gibt es keine sozioökonomische Interessenvertretung für die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland. Allenfalls erschöpft sich deren medial gesteuerte Hinwendung dem WM- und EM-Fußballspiel der Multimillionäre auf dem Spielfeld.

Teil II.

Reinhold Schramm | Mo., 1. Juli 2024 - 08:57

{...}
Es gibt keine sozioökonomische Interessenvertretung für die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland. Allenfalls erschöpft sich deren medial gesteuerte Hinwendung dem WM- und EM-Fußballspiel der Multimillionäre auf dem Spielfeld.
Ideologisch haben die antiken römischen Gladiatorenspiele und der feudal-religiöse Wahn und Aberglauben bis heute nicht im Massenbewusstsein abgedankt.

PS: Der deutsche Bauernkrieg und die Französische Revolution bleiben auch im 21. Jahrhundert unvollendet.

Maria Arenz | Mo., 1. Juli 2024 - 09:21

So sieht sie in der Tat aus, die Blase, die diesmal für den Absturz verantwortich ist. Golf-und Bridge-Clubs, die mit Hermes-Tüchern um den Hals und in Todds-Slippern geschlossen "gegen Rechts" demonstrieren gehen, nicht zu vergessen. Die Sorte gibt es zwar auch in allen anderen westlichen Ländern, nur in Deutschland sitzen sie aber in der Regierung und nutzen die Zeit nach Kräften um ihrer edlen Gesinnung unumkehrbare Denkmäler zu setzen. Daß das böse enden wird? Ach wo, auch vom Sturz aus höchster Höhe fühlen sich die vorletzten Meter doch einfach noch prima an und diese Non Valeurs, die sich in Medien, Politik, Kultur und Bildungsbestrieb die Plätze an den Töpfen mit den größten Kellen gesichert haben, haben vorsorgen können und werden sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen wissen. Wenn sich der rechte Pöbel dann mit all den nicht Abschiebbaren um die letzen Reste kloppt, die die Bagage hier lassen musste, werden sie sich rühmen daß sie ja "vor Rechts" gewarnt haben..

S. Kaiser | Mo., 1. Juli 2024 - 10:12

„Wer sich selbst in einem geschlossenen Kreis bewegt, sollte zumindest in der Lage sein, die direkten und indirekten Praktiken der Ausgrenzung, Diskriminierung und Hierarchisierung auch bei anderen wiederzuerkennen.“
Wie soll das gehen, wenn man sich zeitlebens in einem geschlossenen System bewegt hat? Die Segregation in der Gesellschaft führt doch just zu diesem Effekt. Gerade die beschriebene Klasse hat doch null Überlappung mit sozial schwächer gestellten. Rechtzeitig, bevor die Kinder eingeschult werden, sucht man sich die entsprechende Nachbarschaft, auf dem Gymnasium und an der Uni ist man unter sich, ebenso später im Beruf. Lediglich in medizinischen und teilw in juristischen Berufsfeldern wird man mit anderen Milieus konfrontiert.
Es wird zwar lautstark Diversität und Vielfalt proklamiert, aber leben tut man im Endeffekt in Parallelstrukturen.
Und btw: Die Verwendung von „übelriechend“ iZsh mit „Populismus“ deutet auch auf eine gewisse innere Verfasstheit des Autors hin …

Karl-Heinz Weiß | Mo., 1. Juli 2024 - 10:18

"Die Blindheit des Bürgertums vor den politischen Konsequenzen seiner eigenen Haltungen und Handlungsweisen": in Deutschland perfekt verkörpert durch Angela Merkel und Robert Habeck. Und die Claquere waren bis vor kurzem auch weit im konservativen Teil der Gesellschaft zu finden. Aus der politischen Entwicklung zwischen 1929-1933 wurden keinerlei Schlussfolgerungen gezogen.

Walter Bühler | Mo., 1. Juli 2024 - 10:28

... das sich in Deutschland im Wesentlichen aus Uni-Absolventen zusammensetzt, wirkt auf mich etwas seltsam, obwohl viel Richtiges auftaucht.

Sie erwecken nämlich dabei den Eindruck, Sie würden sich selbst nicht zu diesem Milieu zählen, während Ihre Biographie das Gegenteil sagt.

Ihre Kritik gerät in gefährliche Nähe zu den wirren antibürgerlichen Haltungen, wie sie in grün-rot gefüllten Köpfen der Jusos oder der Antifa herumspuken.

Der Bürger, der in seiner Familie und an seinem Arbeitsplatz Verantwortung übernimmt und verantwortlich arbeitet, kann jedoch nicht in der primitiven Weise als Spießbürger diffamiert werden, wie Sie es tun.

Im Gegensatz zum rot-grünen juste milieu, wie es vor allem in den "Geisteswissenschaften" und in den Medien kultiviert wird, hat das ECHTE Bürgertum nur einen geringen Einfluss auf die Krise unserer Demokratie.

Unsere politische und mediale Elite wird falsch ausgebildet und falsch ausgewählt - das ist in Wirklichkeit das größte Problem.

Markus Michaelis | Mo., 1. Juli 2024 - 12:17

Ich sehe es in Einigem ähnlich wie dieser Artikel. Ich glaube, dass es so eine soziale Gruppe gibt, ich denke, das ist auch meine Gruppe und die Menschen mag ich und ich will eigentlich auch dazugehören.

Womit ich aber auch meine tiefen Schwierigkeiten bekommen habe, ist das Konzept der Weltoffenheit und der offenen Gesellschaft. Natürlich kann es Beispiele geben (und gab es wohl), wo diese Begriffe angemessen sind - heute sind sie es aber zunehmend nicht mehr.

Verbohrte Verschlossenheit im eigenen kleinsten Kreis ist oft nicht das prägende Problem. Dafür gibt es in einer immer offeneren Welt viele Gegensätze, die auch den Toleranzbereich der Weltoffenen weit sprengen.

Das Konzept der Weltoffenheit reagiert auf diese Gegensätze damit, dass man inständig hofft von den anderen akzeptiert zu werden (Lula-Brasilien, viele afrikanische Gesellschaften, Migranten etc.) oder man verachtet Andere tief als Menschenfeinde. Das eine ist mir zu geträumt, das andere zu abwertend.

Markus Michaelis | Mo., 1. Juli 2024 - 12:20

Ich empfinde es so, dass dieses (mein) Milieu unfähig ist die gegensätzliche Vielfalt in der Welt wahrzunehmen und darauf eine angemessene Antwort zu finden - also zu definieren, wer man selber ist, und wo Grenzen dazu sind. Es gibt nur das Mantra von Offenheit und Universalität, das aber abgekoppelt im Traumland schwebt.

Zumindest komme ich nicht damit zurecht. Auf jeden Fall nicht mit den massiven Abwertungen von Menschen, die nicht denselben Traum haben.

Walter Bühler | Mo., 1. Juli 2024 - 23:15

Antwort auf von Markus Michaelis

Ist der Begriff "Milieu" vielleicht nicht irreführend und unscharf?

Nach meinem Sprachgefühl kann sich ein Individuum vielen verschiedenen Milieus zugehörig fühlen (oder vielen verschiedenen Milieus zugeordnet werden). Ein Individuum kann nicht nur in einem einzigen Milieu leben, sonst wäre es keines mehr. Und ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass man es als Summe (oder Integral) aller seiner Milieus erschöpfend begreifen und exakt definieren könnte.

Ich bin Chorsänger, Großvater, Konzertbesucher, Staatsbürger, nehme Ehrenämter wahr, ..., aber ich bin kein Kleintierzüchter, kein Segler, kein Soziologe, ... usw.

Im "Milieu" (im "Kreis"? in der "Blase"?) der Berliner Politik-, Sozial-, Kommunikations- und Gender-Wissenschaften mag man "eine geballte Mischung aus Selbstzufriedenheit und Geistesträgheit" finden, aber das gilt keineswegs für das Milieu der Berliner Bürger, in dem ich mich bewege.

Milieu hin oder her: Es kommt auf das Individuum und seine Moral an.

Theodor Lanck | Mo., 1. Juli 2024 - 13:50

"Wer sich selbst in einem geschlossenen Kreis bewegt, sollte zumindest in der Lage sein, die direkten und indirekten Praktiken der Ausgrenzung, Diskriminierung und Hierarchisierung auch bei anderen wiederzuerkennen."

Eben nicht, sonst wäre man ja nicht in seiner Blase gefangen. Fürs Aufrütteln gab es früher die liberale Kunst-, Medien- und Literaturszene, aber gerade die trägt heute wesentlich zur Stabilisierung des selbstzufriedenen Gefühls des Gutmenschentums bei. Daher hat der Populismus als Weckruf der manchmal hässlich-rauhen Realität auch etwas Positives.