- „Erinnerung ist Zukunft“
Frédéric Bußmann, Leiter der Kunstsammlungen Chemnitz, über das Wirken jüdischer Sammler und Mäzene
Der 1974 geborene Kunsthistoriker Frédéric Bußmann ist seit 2018 Generaldirektor der Kunstsammlungen Chemnitz und dort Nachfolger von Ingrid Mössinger. Zuvor war er Kurator am Museum der bildenden Künste Leipzig.
Auf diesem Platz stand er einst, der versteinerte Wald. Das größte Pflanzenfossil Europas, das vor 290 Millionen Jahren nach einem Vulkanausbruch entstanden ist. Mitten in Karl-Marx-Stadt, an der Straße der Nationen, deren Name damals schon mehr versprach, als er halten konnte.
Heute thronen die steinernen Zeugen von Jahrmillionen im Lichthof des Museums für Naturkunde, im ehemaligen Kaufhaus Tietz, einst gegründet vom jüdischen Unternehmer Hermann Tietz, dem Namensgeber von Hertie. Womit sich wieder einer jener – für Chemnitz so typischen – Kreise schließt, die sich um immer die gleiche Geschichte drehen: den über Jahrzehnte unbeachteten Reichtum dieser Stadt. „Aber wie geht man mit dieser Geschichte um?“, fragt Frédéric Bußmann, seit Mai 2018 Direktor der Kunstsammlungen Chemnitz.
Eine Möglichkeit ist diese: Im Mai 2021, zeitgleich zur Eröffnung der Ausstellung „Tu BiShvat – Fest der Bäume“, wurde der ehemalige Standort der versteinerten Bäume in Arthur-Weiner-Platz benannt. Zum Gedenken an einen jüdischen Rechtsanwalt und Kunstsammler. „Ich bin froh“, sagt Frédéric Bußmann, „auf diese Weise an Dr. Arthur Weiner zu erinnern. Er war einer der ersten Bewohner der Stadt, die 1933 von der SA ermordet wurden. Einer der angesehensten Bürger. Ein Kunstsammler, der Werke an die Kunstsammlungen verschenkte, der sozial engagiert war und genauso aktiv in der israelitischen Gemeinde. Für mich steht er prototypisch für das Schicksal der Juden, wobei Schicksal immer so gottgleich klingt, dabei steht sein Tod für die Verbrechen der Deutschen an den jüdischen Mit-bürgern. Ich rechne es der Stadt Chemnitz hoch an, dass die Benennung dieses Platzes so rasch und unkompliziert realisiert wurde.“
Spuren jüdischen Lebens aus dem Stadtbild verdrängt
Es ist Frédéric Bußmann anzumerken, dass es ihm um sehr viel mehr geht als um die Formalität einer Namensgebung: „Mein Wunsch ist es, dass wir diesem Platz Leben verleihen, indem wir Erinnerung in Kultur umsetzen und mit Erinnerung nicht immer nur den Blick in die Vergangenheit verbinden. Denn tatsächlich reden wir doch über die Gegenwart und die Zukunft. Und über allem steht die Frage: Wie wollen wir leben?“ Wilhelm von Humboldt muss Chemnitz gemeint haben, als er den Satz „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“ niederschrieb. Mit der Ausstellung „Tu BiShvat“ gingen Frédéric Bußmann und die Kuratorin Karoline Schmidt einen Schritt in genau diese Richtung. „Letztes Jahr, im Jahr der 30. Tage der jüdischen Kultur, im Jahr der 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, wurde offensichtlich, dass jüdisches Leben in Chemnitz nicht mehr die Bedeutung hat, die es mal hatte. Kleine Stätten hier und da. Neben den Stolpersteinen gibt es einen unscheinbaren Gedenkstein am Ort der 1938 niedergebrannten Synagoge am Stephanplatz. Im Grunde genommen sind Spuren jüdischen Lebens aus dem Stadtbild verdrängt worden. Wobei ich beobachte, dass neues Leben sprießt, wie man an der Neuen Synagoge oder dem Restaurant Schalom gut sehen kann.“
Schnell kommt man mit Frédéric Bußmann auf die in Ost und West unterschiedlich anerzogene Auffassung von Geschichte und Erinnerung zu sprechen: „In Vorbereitung der Ausstellung haben wir uns intensiv mit Bettina Leder, der Enkelin des jüdischen Unternehmerehepaares David und Lola Leder, Eltern des Schriftstellers Stephan Hermlin, ausgetauscht. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass die Shoah im Westen jenen hohen Erinnerungswert hatte, der im Osten dem Antifaschismus gehörte. Im Westen redete man wenig über Antifaschisten und Kommunisten, im Osten weniger über Juden.“ Kurz nachdem Frédéric Bußmann die Leitung der Kunstsammlungen übernommen hatte, ereignete sich am Rande des Stadtfestes ein Tötungsdelikt. In dessen Folge kam es zu Ausschreitungen und zum Angriff auf ein jüdisches Restaurant.
Verweigerung der Anerkennung der Shoah in der DDR
Antisemitismus ebenda, wo Antifaschismus einst Staatsräson gewesen war. Ist das noch mit unterschiedlicher Vermittlung von Geschichte und Erinnerung erklärbar? „Auch wenn es überzogen und pauschalisierend klingt, muss ich es so ausdrücken: In einem bestimmten Element war die offizielle SED-Politik der DDR bis in die 1980er-Jahre hinein antisemitisch. Das muss vom privaten Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger unterschieden werden. Religion war per se schon verdächtig. Und jenseits der Kommunisten sollte es keine weiteren Gruppen für Erinnerung und Würdigung geben. Juden galten als Kapitalisten, ganz im klassischen antisemitischen Bild, und dieses Bild beherrschte natürlich auch die Deutschen hierzulande. Die DDR hatte keine diplomatischen Beziehungen zu Israel, lieferte Waffen an die PLO, unterstützte die RAF, die wiederum Anschläge gemeinsam mit der PLO verübte.
Die DDR tat wenig dafür, dass sich die jüdischen Opfer als Juden regenerieren konnten. Wir reden hier von der Verweigerung der Anerkennung der Shoah mit Blick auf die jüdischen Opfer. Und das hatte politische Gründe.“ Schon in dieser Hinsicht bot die Ausstellung „Tu BiShvat“ eine einzigartige Gelegenheit, Geschichte lebendig und im Kontext zu aktuellem Zeitgeschehen zu erfahren. Sie zeigte die Lebenswege und das Wirken der elf prägendsten jüdischen Kunstsammler und Mäzene der Stadt, ohne die es heute keine Kunstsammlungen Chemnitz in der jetzigen Form gäbe. Dem Vermächtnis jener Förderer im Dialog mit den Künstlern Lovis Corinth, Max Liebermann und Otto Th. W. Stein wurden zudem drei zeitgenössische Kunstschaffende gegenübergestellt: Shira Wachsmann, Eldar Faber und Michal Fuchs, die sich aus ihrer heutigen Perspektive mit dem Themenkomplex Heimat und Identität beschäftigen.
Sophie Scholl als Instagram-Account
Wie groß seine Hoffnung ist, dieses elementare Erfahren von Geschichte lasse die Menschen umdenken, neu denken, Toleranz und Offenheit entwickeln, ist Frédéric Bußmann anzumerken: „Ich will mit meinen Kindern nach Auschwitz fahren. Sie sollen sich damit beschäftigen. Auch in ihrem Alter verstehen sie bereits die Mechanismen von Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt. Sie erleben so etwas auch in ihrem Lebensumfeld. Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die von den Anfängen berichten können. Also sucht man nach neuen Wegen, Geschichte nachfühlbar zu machen. Man nennt einen Instagram-Account ‚Ich bin Sophie Scholl‘, und dann wird dort wild drauflos gepostet. Das ist bisweilen geschichtsverfälschend, und so erfährt eine Rhetorik, die eigentlich gut gemeint ist, eine ganz gefährliche Verflachung.“
Europas Kulturhauptstadt 2025 hat den Titel sicher wegen des guten Programms, des zweiten Bid Book, erhalten. Vielleicht aber auch aus politischen Gründen. Und das sei gut so, findet, wie viele hier, auch Frédéric Bußmann: „Weil die Stadt das Potenzial hat. Die Mitbewerber ebenfalls, aber sie haben nicht die gleiche kreative Energie. Diese erwächst auch aus der Ambiguität aus Leidenschaft für die Stadt und dem Leiden an ihr, aus einer Unzufriedenheit, die über vielem liegt, sodass dann auch was passiert. Andere Städte wabern in Saturiertheit. Der Osten aber ist hungrig. Und das ist gut so.“
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.
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