Zehn Islamisten sollen einen Anschlag im Auftrag des „IS“ geplant haben. Hier wird einer von ihnen abgeführt. / picture alliance

Islamisten in Deutschland - „Einige fangen an zu weinen oder zu zittern“

Nach den vereitelten Anschlägen auf die Düsseldorfer Altstadt ist klar: Auch in Deutschland gibt es gewaltbereite Islamisten. Genau das soll Berna Kurnaz verhindern. Sie deradikalisiert seit 2012 Islamisten und berät deren Angehörige. Der Anteil der radikaleren Fälle sei erschreckend groß und wachse ständig

Autoreninfo

Lena Guntenhöner ist freie Journalistin in Berlin.

So erreichen Sie Lena Guntenhöner:

Cicero: Frau Kurnaz, Salafisten kommen doch bestimmt nicht zu Ihnen, weil sie gerne deradikalisiert werden möchten. Mit wem arbeiten Sie überhaupt?
Berna Kurnaz: Wir arbeiten zu etwa einem Drittel mit direkt betroffenen Jugendlichen, die mit dem Salafismus sympathisieren oder in letzter Konsequenz dazu bereit sind, für ihre Überzeugung zu kämpfen. Das sind junge Menschen zwischen elf und maximal 30 Jahren. Ein Elfjähriger ist zum Beispiel mal auffällig geworden, weil er seine Lehrerin nicht mehr als Autoritätsperson sehen wollte und in ein Poesiealbum bei der Frage ‚Was will ich mal werden?‘ geschrieben hat ‚Mudschaheddin‘. Meistens sind sie aber so zwischen 16 und 19 Jahren alt. Überwiegend arbeiten wir jedoch mit Angehörigen, Sozialpädagogen oder Lehrern zusammen, die Hilfestellung im Umgang mit den Jugendlichen brauchen.

Können Sie einen Fall genauer schildern?
Ich begleite einen jungen Mann, mittlerweile 19 Jahre alt, der, seitdem er 16 ist, zum Islamismus tendiert. Er war in unterschiedlichsten Jugendbewegungen, hat die Nächte durchgetanzt, gekifft, war eine Zeit lang bei den Punks, hat dann nationalistische und faschistische Tendenzen aufgezeigt und letztendlich hat er seinen Platz in der salafistischen Community gefunden.

Was hatte die, was er in den andern Bewegungen nicht gefunden hat?
Er kam aus einer sehr zerrütteten Familie ohne Vaterfigur. Seine Mutter war alleinerziehend. Sie hatte häufig wechselnde Partner, die sehr gewalttätig waren. Er wuchs also mit einem ganz negativen Männerbild auf und erlebte eine sehr schwache und passive Mutter. Im Salafismus fand er einen Familienersatz, er hat sich auf Anhieb dort wohl gefühlt. Er hatte zum Beispiel keine Geschwister und plötzlich hieß es: „Du bist mein Bruder.“ Und er hat stabile und dauerhafte Mann-Frau-Beziehungen kennengelernt. Die Hauptanziehung lag aber sicherlich darin, gottesfürchtige und daher für ihn zwangsläufig gute Männer und damit Rollenvorbilder um sich zu haben, die sich um ihn gekümmert haben.

Wie hat die Mutter darauf reagiert?
Zuerst hat sie sich gefreut, weil er aufgehört hat zu kiffen und nicht mehr nachts um die Häuser gezogen ist. Er hat sich zurückgezogen, viel gelesen und gebetet. Doch dann begann er nach und nach, sie abzuwerten. Für ihn war sie eine „Ungläubige“ und eine „Schlampe“, weil sie sich für wechselnde Partner hergab. Sie hat uns dann kontaktiert, weil sie sich so hilflos in der Situation gefühlt hat.

Wie ist der Fall ausgegangen?
Die Mutter war leider nicht bereit, sich auf einen langfristigen Prozess einzulassen. Sie wollte hören, dass ihr Kind fehlgeleitet und ein „Spinner“ ist. Es ist für Eltern oft nicht einfach, den eigenen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes zu betrachten. Sie fühlen sich plötzlich schuldig und blockieren Prozesse, dabei geht es uns gar nicht um die Schuldfrage. Doch dann hat der Sohn hat das Gespräch gesucht. Das war allerdings nicht so einfach, weil er eigentlich mit Frauen nicht reden wollte oder durfte. Erst konnten wir nur telefonieren. Er hat zunächst gefragt, ob ich Probleme mit Muslimen habe, ob ich mit dem Verfassungsschutz oder mit der Polizei arbeite, hat erstmal gegoogelt, wer ich eigentlich bin und warum ich mache, was ich mache. Als er gemerkt hat, dass es mir nicht um eine Abwertung oder Ablehnung seiner Religiosität geht und ich auch nicht Wörter wie „radikal“ benutzt habe, haben wir schnell über seine Wünsche und Ziele geredet. Es ging gar nicht so sehr um die Religion, sondern um ihn als Individuum.

Haben Sie ihn jemals persönlich getroffen?
Ja, aber wir mussten erstmal herausfinden, wie wir uns begrüßen. Das war dann irgendwann so ein High five, ohne dass man sich berührt. Das fand er lustig und es hat das Eis gebrochen. Bei unserem ersten Treffen war Thema, dass ich kein Kopftuch trage. Als guter Moslem hat er mich erst einmal darauf hingewiesen, dass das keine gute Idee ist, wenn man irgendwann in den Himmel möchte. Aber daraus hat sich dann ein ganz spannendes und auch nettes Gespräch entwickelt.

Und heute ist er nicht mehr radikal?
Er hat mittlerweile einen Ausbildungsplatz, ab und zu ruft er an und erzählt, was gerade so passiert. Er bewegt sich immer wieder in diesen Kreisen, weil das einfach Freunde sind und er sich nicht so richtig davon lösen möchte. Aber er ist jetzt in der Lage, das, was er hört, nicht mehr einfach so hinzunehmen.

Gehen Fälle auch so positiv aus, wenn sie „nur“ mit den Angehörigen in Kontakt sind?
Ja, klar. Wir schauen immer zuerst, welche Funktionen diese Strömung des Salafismus für den Jugendlichen erfüllt. Und dann versuchen wir gemeinsam mit Familie, Freunden oder Lehrern herauszufinden, was an diese Stelle treten könnte. Manchmal reicht auch schon ein Sportverein, um die Familienstrukturen zu ersetzen oder um Dampf abzulassen. Auch wenn eine Schulklasse auf einmal anders miteinander kommuniziert oder Eltern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, ändert das ganz viel. Außerdem schauen wir nach Ausbildungsplätzen oder wie die Noten in der Schule besser werden können.

Wenn Sie Betroffene oder Familien treffen, kommen die dann zu Ihnen ins Büro?
Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das zum letzten Mal benutzt hätten. Meistens fahren wir zu den Familien nach Hause. Denn sie wollen an einem Ort sein, an dem sie sich nicht beobachtet und vor allem sicher fühlen, da es ja auch um Themenbereiche geht, die unter Umständen ihr Kind gefährden können. Der Besuch zu Hause ist aber auch für uns gut, um einen unmittelbaren Einblick in das Familiensystem zu gewinnen.

Sprechen Sie Deutsch in den Beratungen?
Mit den Jugendlichen verläuft das Gespräch hauptsächlich auf Deutsch. Bei Angehörigen versuchen wir zu gewährleisten, dass sie sich in ihrer Muttersprache mit uns unterhalten können. Das Türkische kann ich selbst abdecken, für alles andere kaufen wir Dolmetscher ein, was sehr gerne angenommen wird. Da wir einen sehr hohen Anteil an deutschen Konvertiten ohne muslimischen Hintergrund haben, der etwa bei 50 Prozent liegt, stellt die Sprache in vielen Fällen gar kein Problem dar.

Wie oft besuchen Sie die Familien?
Die Besuche sind zum Glück nicht begrenzt. Wir schauen, wie akut oder dringlich die Lage ist und staffeln entsprechend die Besuche. Es kann also sein, dass wir mit einer Familie schon dreimal in der Woche telefoniert haben, sie aber trotzdem wöchentlich besuchen. Es kann aber auch sein, dass man sich nur in monatlichen Intervallen trifft. Mit zwei halben Stellen in unserem Team, muss die Zahl und Dauer der Treffen leider notgedrungen reduziert werden.

Jemand, der bereit war, für seine Ideologie in Syrien zu sterben, wird aber wohl kaum so schnell davon abrücken, oder?
Eine Einstellung, die lange reifte, ändert sich nicht von heute auf morgen und besonders schwer, wenn sie weiterhin sinnstiftend wirkt. Viele der Rückkehrer sind in der Regel sehr still. Sie ziehen sich häufig stark zurück, vermeiden Kontakte zu alten Freunden, verfallen in Lethargie oder werden depressiv. Die haben Gewalt erlebt, teilweise wurden sie gezwungen, selbst Gewalt auszuüben. Wenn sie traumatisiert sind, ist es wichtig, so schnell wie möglich zu reagieren.

Welche Einflussmöglichkeiten haben Sie, wenn der Betroffene selbst nicht sprechen will?
Es gibt Momente, in denen das Erlebte wieder aufkocht. Wenn sie zum Beispiel im Fernsehen Kriegsbilder sehen oder Propagandavideos auf ihren alten Rechner finden. Die Familienmitglieder beschreiben dann, dass die Jugendlichen sehr unruhig werden, einige fangen an zu weinen oder zu zittern. Die reagieren so, als würden sie die Situation noch einmal erleben. Das sind die Situationen, nach denen die Jugendlichen manchmal aktiv werden, weil sie es – meistens für ihre Mütter – nicht noch schlimmer machen wollen. Die Mütter lernen, wie sie in solchen Situationen Ruhe bewahren und ihre Kinder unterstützen, stabilisieren und ihnen Sicherheit vermitteln können. Denn man muss die Jugendlichen erst wieder sprechfähig machen.

Welchen Anteil haben diese radikaleren Fälle bei Ihnen?
Leider ist das ein erschreckend großer und ständig wachsender Teil. Es gibt sowohl junge Frauen als auch junge Männer, die Deutschland verlassen haben, um zum Beispiel nach Syrien zu gehen. Unsere Arbeit ist bisher gar nicht auf Rückkehrer ausgerichtet. Das wird in Zukunft konzeptuell ergänzt werden, weil es dieses Phänomen früher in dem Ausmaß einfach noch nicht gab.

Auch strafrechtlich können Rückkehrer verfolgt werden. Ist ihnen das bewusst?
Den meisten, ja. Sie sind auch deshalb still, weil sie Angst haben. Einerseits vor der Strafverfolgung, andererseits vor bestimmten Islamisten, für die ihre Erzählungen wie die eines Helden klingen. Sie wollen aber oft gar keiner mehr sein. Frauen droht in der Regel kein Ermittlungsverfahren.

Müssen sie bei einem Ausstieg auch Angst vor Vergeltung aus der islamistischen Community haben?
Im Salafismus ist der Ausstieg weniger schwierig als im Rechtsextremismus mit seinen Kaderstrukturen, weil die Hierarchien hier flacher sind. Hier spielt die soziale Ächtung eine ganz zentrale Rolle. Man ist plötzlich nicht mehr Teil dieser besseren, wahren, elitären Gemeinschaft und das ist unheimlich schwer zu ertragen für die Jugendlichen. Auch wenn man immer mal wieder von Morddrohungen hört, ist die Bedrohung dann doch meistens gar nicht so konkret.

Das Interview führte Lena Guntenhöner.

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