Istanbuler Einkaufsviertel Eminönü
Reges Treiben im Istanbuler Einkaufsviertel Eminönü / dpa

Türkei - Erdogans Wende gen Westen

Mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs sah der türkische Präsident seine Chance gekommen, das Land als Regionalmacht zu etablieren. Doch inzwischen hat Moskau diese Pläne durchkreuzt. Außerdem kommt die türkische Wirtschaft trotz Reformen nicht in Schwung.

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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Geopolitisch besteht der größte Vorteil der Türkei in der Beherrschung von Knotenpunkten. Das Land liegt im Grenzbereich von Europa, Asien und Afrika und kontrolliert die Schiffspassage zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer. In den ersten anderthalb Jahren des russisch-ukrainischen Krieges verschafften diese Eigenschaften der Türkei einen überragenden Einfluss. Umgehend verhinderte Ankara die Durchfahrt von Kriegsschiffen durch die türkischen Meerengen, um den Konflikt einzudämmen. Es fungierte als Vermittler zwischen den Kriegsparteien und später als Garant für den von der Uno vermittelten Getreidekorridor durch das Schwarze Meer. Als der Westen und Russland ihren Wirtschaftskonflikt eskalierten, witterte die Türkei eine Chance, als Transitland für den Warenverkehr zu dienen, und äußerte Ambitionen, sich als Drehscheibe für den Erdgashandel zu etablieren.

Doch mit dem sich hinziehenden Krieg schwinden die Vorteile, die die Türkei genießt, immer mehr. Kurzfristig haben sich die Chancen für eine Vermittlung fast vollständig aufgelöst, während langfristig die positiven Effekte der Türkei durch das Entstehen alternativer Handelsrouten in Frage gestellt werden. Wenn eine relative Neutralität nicht mehr lohnt, könnte dies Ankara dazu veranlassen, Stabilität durch eine engere Anbindung an die Vereinigten Staaten zu suchen.

Traum einer regionalen Führungsrolle

Der Traum der Türkei von einer regionalen Führungsrolle wird nur schwer zu verwirklichen sein, wenn sie gleichzeitig mit der Volatilität der Energiepreise, einer schwachen Wirtschaft, einer instabilen Gesellschaft und der Bedrohung des regionalen Handels durch einen sich verschärfenden Konflikt im Schwarzen Meer zu kämpfen hat. Nach Jahren des Versuchs, den Gesetzen der Ökonomie zu trotzen, hat sich der wiedergewählte Präsident Recep Tayyip Erdogan daher offenbar zu ernsthaften Reformen entschlossen.

Die türkische Wirtschaft wird durch ein erhebliches Handelsbilanzdefizit und eine extrem starke Inflation belastet, die im Oktober 2022 einen Höchststand von 85,5 Prozent erreichte und nach Prognosen der Zentralbank bis Ende 2023 bei 58 Prozent liegen wird. Nachdem er sich im Mai eine weitere fünfjährige Amtszeit gesichert hatte, stellte Erdogan ein neues Wirtschaftsteam zusammen, das die großen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte des Landes verringern, die Haushaltsdisziplin wiederherstellen und vor allem von einer unorthodoxen Geldpolitik abrücken soll. (Trotz des schleichenden Anstiegs der Inflation senkte die türkische Zentralbank Anfang 2021 die Zinssätze von 19 Prozent auf bis zu 8,5 Prozent.)

Der neue Finanzminister Mehmet Simsek, ein gemäßigter Mann, der das Amt bereits von 2009 bis 2015 innehatte, erhöhte die Steuern und bemühte sich, ausländische Investoren und Führungskräfte anzulocken. In der Zwischenzeit machte sich die neue Zentralbankchefin Hafize Gaye Erkan auf den gefährlichen Weg, ein teures Bankensystem abzuschaffen, das Lira-Einlagen vor Währungsabwertungen schützt. Außerdem erhöhte sie zum ersten Mal seit 2021 den türkischen Leitzins; nach einer unerwartet starken Anhebung in der vergangenen Woche liegt er nun bei 25 Prozent (anstatt zuvor bei 8,5 Prozent).

Verbrauchervertrauen gesunken

Bislang hat sich die Normalisierung der türkischen Politik nicht ausgezahlt. Die ersten beiden Zinserhöhungen erwiesen sich als zu schwach, und die Inflation begann sich wieder zu beschleunigen. Im Vergleich zum vorigen Jahr stiegen die Verbraucherpreise im Juni um 38,2 Prozent und im Juli um 47,8 Prozent. Die Immobilienpreise sind weiter in die Höhe geschossen, und das Verbrauchervertrauen ist im August gesunken. Die türkische Lira beschleunigte ihre Talfahrt gegenüber dem Dollar und erreichte ihren Höchststand bei 27,2 pro Dollar. Nach der jüngsten Zinserhöhung stieg sie auf 25,5 Lira pro Dollar, bevor sie am nächsten Tag wieder nachgab.

Neben ergebnislosen Reformen droht Ankara der plötzliche Verlust seines regionalen Einflusses und seines Status als Transitstaat. Erstens ist der Bosporus nicht mehr Russlands einziger Warmwasserausgang für Fracht. Im August erreichte der erste russische Zug mit kommerzieller Fracht den Iran über den Grenzübergang Incheh-Borun zu Turkmenistan, von wo aus er zum Hafen von Bandar Abbas und weiter nach Saudi-Arabien fuhr. Die Strecke, die Teil des internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridors ist, ermöglicht es Russland, Waren zu knapp der Hälfte der üblichen Zollkosten nach Saudi-Arabien zu exportieren. Unabhängig davon hat sich die Ausfuhr von russischem Öl und Ölprodukten vom Asowschen, Kaspischen und Schwarzen Meer auf Häfen an der Ostsee und im Fernen Osten verlagert.

Ende des Getreideabkommens

Die zweite Herausforderung für den regionalen Status der Türkei ergibt sich aus der Beendigung des Schwarzmeergetreideabkommens im Juli, das den sicheren Transport ukrainischen Getreides durch die umstrittenen Gewässer des Meeres ermöglichte und die Bedeutung der Türkei als Transitland für Getreide aus Eurasien in die Entwicklungsländer erhöhte. Erdogan hat nichts vorzuweisen, was seine Bemühungen um eine Wiederbelebung des Abkommens betrifft, wird aber Anfang September nach Russland reisen, um es erneut zu versuchen. In der Zwischenzeit hat Kiew die Gewässer um sechs russische Schwarzmeerhäfen zum Kriegsgebiet erklärt. Moskau hat wiederholt Raketen und Drohnen auf die ukrainischen Seehäfen sowie auf die Hafeninfrastruktur an der Donau abgefeuert, auf die die Ukraine und der Westen als Ersatz für die Schwarzmeerrouten angewiesen sind. Die Bemühungen der Ukraine und der EU, alternative Routen einzurichten, können die Bedeutung der Türkei für den Getreidehandel nur noch weiter schmälern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der vorübergehende Aufschwung, den die Türkei durch die Überbrückung der Kluft zwischen Russland und dem Westen erfahren hat, nachlässt und die allmähliche Rückkehr zur wirtschaftlichen Orthodoxie nur wenige unmittelbare Vorteile mit sich bringt. Selbst wenn die politische Kehrtwende die Inflation senkt und die Lira stabilisiert, ist es unwahrscheinlich, dass sie das chronische Handelsdefizit der Türkei beseitigen wird. Auch die türkische Staatsverschuldung (etwa 31,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) oder die Schulden der Zentralbank, die sich zur Verteidigung der Lira tonnenweise Devisen von inländischen Banken und anderen Regierungen geliehen hat, werden dadurch nicht gelöst. Um die Reparaturen an der Wirtschaft zu beschleunigen, wird die Türkei daher ausländische Investitionen anziehen müssen.

Eher geringes Investoreninteresse

Doch der Kreis der Investoren, die bereit sind, ihr Geld in der Türkei anzulegen, ist begrenzt. Russland ist wegen der Sanktionen, der schwachen russischen Wirtschaft und der Unbeständigkeit der Handelsströme keine Option. Finanzminister Simsek sagte, die Türkei wolle die EU-Beitrittsgespräche wieder aufnehmen, aber die Europäische Union habe ihre eigenen Probleme mit der Inflation und der schleppenden Wirtschaft; außerdem werde der Beitrittsprozess in Jahren gemessen und könnte vor großen Reformen stehen.

 

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Ankara hat mit seinen neuen Bemühungen um die Golfstaaten mehr Erfolg gehabt. Im Juli fädelte Erdogan während einer dreitägigen Reise an den Persischen Golf Geschäfte im Volumen von umgerechnet 46 Milliarden Euro ein. Die Türkei und Saudi-Arabien haben jüngst einen Plan zur Steigerung des bilateralen Handels umgesetzt und eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit beim Abbau wichtiger Mineralien vereinbart. Wie viele dieser Abkommen zustande kommen werden, ist allerdings fraglich. Die Golfstaaten werden von den türkischen Wirtschaftsreformen Ergebnisse erwarten.

Die zunehmende Feindseligkeit der Türken gegenüber arabischen Migranten könnte ebenfalls zu einem Problem werden; das Land beherbergt immer noch etwa vier Millionen syrische Flüchtlinge und mehr als eine halbe Million Iraker. Die türkischen Behörden haben damit begonnen, die arabische Sprache von Geschäftsschildern zu entfernen, und der Innenminister kündigte an, dass alle arabischen Ladenschilder bis Ende des Jahres ersetzt würden. Schließlich sind die regionalen Ambitionen der Türkei bei den arabischen Staaten nicht immer beliebt. Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien zum Beispiel sind misstrauisch gegenüber den wirtschaftlichen Interessen der Türkei im Sudan und ihrer verstärkten Präsenz am strategisch wichtigen Horn von Afrika im Allgemeinen.

Die Rolle der USA

Das Land, das vielleicht am meisten zu bieten hat, sind die Vereinigten Staaten. Die USA sind nach Deutschland das zweitgrößte Exportziel der Türkei. Die USA sind bereit zu investieren, insbesondere in einem Land, das wichtige US-Militärstützpunkte beherbergt und in der laufenden Konfrontation mit Russland eine zentrale Rolle spielt. Darüber hinaus verfügt die Türkei über gut ausgebildete Arbeitskräfte und eine starke industrielle Basis, könnte aber Hilfe bei der Umstellung auf eine hochwertigere Produktion gebrauchen (mehr als die Hälfte der türkischen Hersteller sind in der Low-Tech-Produktion tätig) – etwas, das auch den Interessen der USA entgegenkommt.

Das Haupthindernis für größere US-Investitionen in der Türkei ist der schlechte Zustand der bilateralen Beziehungen. Einen Monat vor den türkischen Wahlen im Mai beschuldigte Ankara Washington, einen kurdischen Terrorstaat in der Nähe der türkischen Grenzen schaffen zu wollen, und Erdogan war wütend, als sich der US-Botschafter im Land mit seinem politischen Hauptkonkurrenten und Chef der Oppositionskoalition traf. Beide Seiten scheinen jedoch bereit zu sein, dieses Kapitel der Beziehungen hinter sich zu lassen. Vor kurzem hielten sie ihre größten gemeinsamen Militärübungen seit sieben Jahren ab, an denen Kriegsschiffe, türkische F-16 und amerikanische F-18 beteiligt waren. Außerdem besichtigte Selcuk Bayraktar, der Chef des türkischen Drohnenherstellers, auf Einladung des US-Botschafters die USS Gerald R. Ford, als der Flugzeugträger im Hafen von Antalya lag.

Reformen bringen keine Wunder

Die Türkei hat ihr Ziel, eine bedeutende Mittelmeermacht zu werden, nicht aufgegeben, aber es wurde zu schwierig, ihren bisherigen Kurs beizubehalten. Unter dem starken Druck des Westens wendet sich Russland Asien und den BRICS-Staaten zu, baut Handelsrouten, die die Türkei umgehen, und wird in Fragen von gemeinsamem Interesse wie dem gescheiterten Getreidehandel weniger konziliant. In der Zwischenzeit führt das neue türkische Wirtschaftsteam zwar Reformen durch, kann aber keine Wunder vollbringen. Das Land braucht ausländische Investitionen, und die Investoren warten auf Klarheit – auch über die strategische Ausrichtung der Türkei.

Auf die eine oder andere Weise wird die Türkei die Dinge nicht nur innenpolitisch, sondern auch ihre internationalen Beziehungen, insbesondere zu den Vereinigten Staaten, in Ordnung bringen müssen.

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Gerhard Lenz | Do., 31. August 2023 - 09:02

stoßen dann an ihre Grenzen, wenn er es mit einer Großmacht (wie Rußland) oder einer internationalen Organisation (wie die NATO) zu tun hat.
Erdogan hat die geostrategische Position der Türkei machtvoll ausgenutzt. Da tanzt er schon mal der NATO auf der Nase herum (so wie Orban der EU), wissend, dass die Kontrolle über Bosporus und der Zugang zum Schwarzen Meer für die NATO von ungeheuerer Wichtigkeit sind. Andererseits musste er im Falle von Schwedens NATO-Beitritt Zurückhaltung üben; für welchen Preis auch immer.
Aber Orban dürfte kapiert haben, dass ein irrlichtender Putin, der gerade seinen Wahn auslebt, Russland zu neuer Größe zu verhelfen, ein wenig hilfreicher Bündnispartner ist. Russland, das nur militärisch eine wirkliche Macht darstellt, sonst aber ein durch und durch failed-state ist, der von einer korrupten, machtgierigen und offensichtlich zunehmend durchgeknallten Führungselite regiert wird, kann kein Ersatz für die NATO sein.
Das glaubt sonst höchst noch ein Hoecke!

Ernst-Günther Konrad | Do., 31. August 2023 - 14:28

Das ist typisch Erdogan. Er versucht mit allen Mitteln, mal bei der einen und mal bei der anderen Seite seine Vorteile zu suchen, zu finden und nutzt dann jede Form und jedes Mittel seine Macht zu stabilisieren und vor allem Geld zu generieren. (Migrationszahlungen) Nein, nicht für das türkische Volk, sondern vor allem für sich selber und seine Helfershelfer. Insofern unterscheidet er sich nicht von vielen anderen Staatenlenker dieser Erde und auch nicht von der deutschen Regierung. Auch denen geht es nur um Machterhalt, persönliche Besitzstandswahrung und auch nicht um den eigentlich Souverän, nämlich das eigene Volk. Auch wenn wir uns Demokratie nennen, große Unterscheidungen sehe ich da nicht mehr. Erdogan transformiert die Türkei zu einer islamischen Diktatur und die links-grünen zu einer ökofaschistischen DDR 2.0. Ob das am Ende Bestand haben wird, bezweifle ich. Jedes Volk hat seine Belastungsgrenzen. Bei uns scheinen die noch nicht ausgereizt zu sein oder doch? Mal sehen.

Henri Lassalle | Do., 31. August 2023 - 15:44

eine klare Sicht auf Dinge und Verhältnisse, auch gemessen an Probabilitäten hinsichtlich der künftigen Entwicklung. Ansonsten würden sich die USA als noch immer dominante Welt-Wirtschaftsmacht als Investor anbieten. Die Schwäche der politischen Führung der Türkei: Sie ist oder war bisher emotionsgetrieben, statt kühl analytisch zu kalkulieren und sich nach bewährten Modellen zu orientieren - so musste die Wirtschaft nahezu implodieren. Auch die anachronistische Phantasie von der Restitution eines osmanischen Reiches ist eine emotionsgeladene Wunschprojektion. Die Türkei könnte das Steuer in eine besser Richtung lenken, wenn es endlich logisch-vernünftig denken würde.

Dorothee Sehrt-Irrek | Do., 31. August 2023 - 15:49

Ich habe immer gedacht, dass es sich um "Turkvölker" handelt, auch wenn dort Arabisch gesprochen wird.
Ägypten zähle ich zu Afrika.
Ich vermute, die Leute wissen es zumeist selbst nicht?
Wie auch könnte man es wissen?
Ich weiss nur, dass ich mich mächtig irren kann, aber ich würde der Türkei dennoch zum Turk/Arabisch-Muslimischen Raum raten und eher nicht zu den USA.
Muss aber jeder Staat selbst entscheiden.
Ich fühle mich jedenfalls sehr viel wohler, seit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA die EU geschaltet ist.
Nicht böse sein, liebe US-Amerikaner.
Die EU ist doch ein adäquaterer Handelspartner als einzelne kleine europäische Staaten.
Multilateralität kann auch Manches für die USA erleichtern, sofern sich gemeinsam organisierte Staaten eben mit den USA einigen können.
Die Türkei kann sich ihre Position nicht aussuchen, auch wenn sie das evtl. unter Erdogan in bezug auf Syrien ff. versucht haben könnte?
Das Desaster der Türkei ist ein zerbombtes Syrien? Kurzsichtig?