- Boris Johnsons Rasputin in Bedrängnis
Der Chefberater von Boris Johnson hat die von der Regierung festgelegten Maßnahmen gegen das Coronavirus eklatant missachtet. Die von der Pandemie erschöpften Briten finden das nicht amüsant, aber der Premier stellt sich hinter Dominic Cummings.
Selbst die Bischöfe gehen auf die Barrikaden. „Viele Menschen konnten nicht einmal zum Begräbnis ihrer Familienangehörigen gehen“, sagt Nick Baines, Bischof von Leeds, „und jetzt erfahren wir, dass es für das Volk andere Regeln gibt als für die politische Elite?“ „Johnson hat den Kreis zu Trump geschlossen“, wettert Peter Broadbent, Bischof von Willesden, auf Twitter. Und Emma Ineson, Bischöfin in Penrith,moniert: „Du lieber Himmel, Dominic Cummings muss Boris Johnson wirklich, wirklich viel wert sein, wenn er sogar das Vertrauen der Briten auf Spiel setzt.“
Da hat Dominic Cummings, der wichtigste Berater des britischen Premierministers Boris Johnson, seinem Chef ein richtig dickes Ei gelegt. Wie die Tageszeitungen Guardian und Mirror seit drei Tagen Stück für Stück enthüllen, hat Cummings den coronavirusbedingten Lockdown, der in Großbritannien seit dem 23. März herrscht und der bisher nur ein bisschen gelockert wurde, Ende März eklatant gebrochen. Man durfte damals das Haus nur einmal pro Tag zur körperlichen Ertüchtigung verlassen. Sonst nur für dringend notwendige Einkäufe. Vor allem sollten jene strikt zu Hause bleiben, die Symptome von Convid-19 aufwiesen.„Bleiben Sie zu Hause, retten Sie Leben“ – diesen Slogan hatte Dominic Cummings in Downing Street selbst erfunden.
Unerlaubte Ausflüge zu den Eltern – im kranken Zustand
Was aber tat er selbst? Seine Ehefrau Mary Wakefield zeigte bereits Symptome von Covid-19. Trotzdem fuhr das Paar mit dem vierjährigen Sohn zu Cummings’ Eltern, die 400 Kilometer entfernt in Durham leben. Am Geburtstag seiner Frau machte man dann auch noch einen schönen Ausflug in der Gegend. Deshalb ermittelt nun nach Recherchen des Guardian auch die Polizei gegen Cummings und Ehefrau.
Im kranken Zustand quer durchs Land ausgerechnet zur Risikogruppe fahren? Es klingt wie Hohn und zieht viel Häme nach sich. „Waren Sie auf dem Weg vielleicht auch noch in einer öffentlichen Toilette pinkeln?“, riefen wartende Reporter Cummings vor seinem Londoner Haus zu. „The Cummings and goings“ (The Sun) von Johnsons Chefberater sind für die Lockdown-geplagten Briten eine Provokation.
Champagner kalt gestellt für den Rücktritt
Der Skandal kommt für Boris Johnson zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Nachdem die Regierung erst sehr spät strikte Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie beschlossen hatte, ist das Vereinigte Königreich längst das europäische Land mit der höchsten Todesrate – 36.793 Covid-19-Opfer, Stand 25. Mai. Großbritannien wird auch einer der letzten Staaten sein, der den Lockdown wieder aufheben und die Wirtschaft wieder ankurbeln wird können. Ab 8. Juni wird eine Quarantäne-Pflicht für Einreisende ins Vereinigte Königreich verhängt. Erst ab 1. Juli dürfen – wenn die Reproduktionszahl unter Eins bleibt – die Friseure und Restaurants wieder aufsperren. Unter strikten Auflagen natürlich.
Am Sonntag nachmittag hatten viele schon den Champagner kalt gestellt, weil Dominic Cummings Rücktritt erwartet wurde. Dann aber blieben die Korken in der Flasche. Denn Boris Johnson stellte sich beim täglichen Corona-Pressebriefing vor seinen Berater: „Er hat verantwortlich, legal und mit Integrität gehandelt”, befand der Premierminister. Cummings habe gefürchtet, dass er und seine Frau sich im erkrankten Zustand nicht um den vierjährigen Sohn kümmern hätten können und habe daher in Durham bei der Familie Hilfe gesucht.
Abgeordnete fordern Cummings' Rücktritt
Die Volkswut aber ließ sich mit dieser Stellungnahme nicht abdrehen. „Ich bin Alleinerziehrin, hatte Covid-19 und habe mich trotzdem um meine Kinder gekümmert”, rief eine Frau Cummings zu, als er aus Downing Street in sein Haus im Londoner Islington zurückkehrte.
Obwohl Großbritannien am Montag einen Feiertag mit hochsommerlichen Temperaturen beging und die Briten mit Picknickkörben bewaffnet in Parks und an die Küste strömten, schlug Johnson und Cummings im Internet ein Sturm der Empörung entgegen. Auf einem Liveblog der konservativen Webseite Conservative Home sprachen sich Montag Mittag bereits sechzehn Tory-Abgeordnete für Cummings' Rücktritt aus.
Allianz der Außenseiter
Boris Johnson selbst musste seinen Ministern bei einer virtuellen Kabinettssitzung Rede und Antwort stehen. Die Meuterei der konservativen Regierungsmitglieder konnte nur mit Mühe unterdrückt werden. Es geht dabei nicht allein um die Frage des Vertrauensverlusts, den der Regierungschef gegenüber einer ohnehin schon von Coronavirus und Lockdown geschwächten und gereizten Bevölkerung riskiert, indem er einen Mann weiter beschäftigt, der in der Sun nur noch als „Heuchler“ bezeichnet wird. Es ist auch so, dass Dominic Cummings vor allem bei jenen, die mit ihm zusammenarbeiten müssen, ein äußerst umstrittener Mann ist.
Boris Johnson und Dominic Cummings formen eine seltsame Allianz. Beide sind auf Eliteschulen erzogen worden – Johnson in Eton und Oxford, Cummings „nur” in Oxford. Dennoch gelten beide als Außenseiter in der britischen Politelite. Johnson hatte erst als Journalist für den Daily Telegraph semi-erfundene Stories publiziert und ist erst später in die Politik eingestiegen. Als Londoner Bürgermeister wurde er mit seinem blondem Wuschelkopf das Enfant Terrible der konservativen Reichshälfte.
Genialische Qualitäten als Spindoktor
Dominic Cummings ist sein Alter ego. Besticht Frontmann Johnson mit 55 Jahren immer noch mit bubenhaftem Charme, gilt Cummings als rüder Einzelgänger, der nur deshalb in Downing Street toleriert wird, weil er genialische Qualitäten als Spindoktor besitzt. Er erfand „Take Back Control“ als zentralen Brexitschlager vor dem EU-Referendum vor vier Jahren. Die nationalen Wahlen gewann das Team Johnson-Cummings mit dem Slogan „Get Brexit Done“. Die Briten gaben den Konservativen eine dicke Mehrheit im Parlament, und Großbritannien trat am 31. Januar 2020 aus der EU aus.
Das Dreamteam Johnson-Cummings galt Anfang des Jahres noch als unbesiegbar. Mit dicker Mehrheit auf fünf Jahre gewählt, freute Cummings sich darauf, seine radikalen Pläne für eine Umgestaltung des britischen Staatswesen umzusetzen. Er wollte den Regierungsbezirk Whitehall neu organisieren, das Staatswesen dezentralisieren, die ungeschriebene Verfassung reformieren. Und die Sparpolitik kippen. Was genau aus all diesen radikalen, disruptiven Ideen werden soll, kann man mitten im Coronachaos gar nicht sagen. Klar aber scheint, dass Johnson an seinem Chefberater festhalten will, koste es, was es wolle.
Auch Beamte rebellieren
Ob das klappt? „Auf welchem Planeten lebt ihr eigenlich?“ titelte am Montag das schlagende Herz der rechen Brexitpresse, die Daily Mail. In allen gesellschaftlichen Sektoren formiert sich der Widerstand. Nicht nur die Bischöfe empören sich gegen Cummings unmoralische Reisen. Die Beamtenschaft ist ebenfalls in Aufruhr. Auf dem offiziellen Twitteraccount „UK Civil Service“ erschien nach Johnons Parteinahme für Cummings kurzfristig der folgende Tweet: „Arrogant und offensiv. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, mit diesen Wahrheitsverdrehern arbeiten zu müssen?“ Der Tweet wurde inzwischen gelöscht.
Doch die Wut gegen Johnsons Rasputin wird man nicht so einfach abdrehen können. Auch die Polizei in Durham hat trotz Johnsons Loyalitätsdeklaration am Montag Vormittag angekündigt, Cummings wegen Rechtsbruch untersuchen zu wollen.
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