- „Frankreichs Wort muss zählen“
Nicolas Sarkozys sozialistischer Herausforderer François Hollande will im Mai als Präsident in den Élysée-Palast einziehen – in den Umfragen liegt er vor dem Amtsinhaber. Für welche Politik steht er?
Was für ein Deutschlandbild hatten Sie in Ihrer Jugend? Und welcher Begriff fällt Ihnen beim Gedanken an dieses Land als Erstes ein?
Ich bin ein Kind der Nachkriegszeit. Meine Eltern haben mich im Geist der Wiederversöhnung erzogen, und meine Generation ist die Generation der deutsch-französischen Freundschaft. Deshalb kommt mir auch dieser Begriff spontan in den Sinn.
Haben Sie auch private Reisen nach Deutschland unternommen?
Ja, schon sehr früh. Ich habe an Schüleraustauschprogrammen teilgenommen und hatte als Jugendlicher das Glück, nach Marburg eingeladen zu werden, wo ich an der Sanierung eines Parks mitgearbeitet habe. Diese Zeit ist mir in sehr schöner Erinnerung. Anschließend war ich häufig in Deutschland, in Bonn, später in Berlin, im Zusammenhang mit meiner politischen Tätigkeit.
[video:Frankreichs Angst vor Deutschland]
Wer war Ihre Inspiration bei der Annäherung an das „Projekt Europa“?
Victor Hugo, der schon Mitte des 19. Jahrhunderts über die Vereinigten Staaten von Europa geschrieben hat. Und nach wie vor sind François Mitterrand und Jacques Delors meine Vorbilder.
Die Skepsis gegenüber Europa wird immer größer. Wie gedenken Sie, das europäische Ideal wiederzubeleben?
Gewiss sind viele Menschen ratlos angesichts der aktuellen europäischen Situation; Sorgen bereiten zum einen die Lage der griechischen Bevölkerung und die Ergebnisse einer ausschließlichen Sparpolitik, zum anderen herrscht Unmut über die Ohnmacht der europäischen Behörden und der Regierungen, die mit ihren vielen Gipfeln und Rettungsplänen vermutlich eher den Eindruck erwecken, auf einer permanenten Flucht nach vorne zu sein. Deshalb muss man den Menschen das Vertrauen in Europa zurückgeben.
Und wie soll das geschehen?
Dies wird gelingen, wenn Europa sich ganz konkret als Instrument zur Überwindung der Krise erweist. Hierfür muss das richtige Gleichgewicht zwischen Solidarität sowie einem durchaus notwendigen und vernünftigen Umgang mit den öffentlichen Finanzen gefunden werden. Derzeit aber scheint Haushaltsdisziplin das allein maßgebende Prinzip zu sein. Das mag dazu geführt haben, dass man Europa heute nur mit Strenge verbindet, was nicht gerade hoffnungsfroh stimmt. Meine Absicht ist es deshalb, eine neue Perspektive für Europa zu entwickeln, mittels einer ausgewogenen Verbindung von Haushaltsdisziplin – deren Notwendigkeit ich keineswegs leugne – und wachstums- und beschäftigungsorientierter Politik.
Präsident Sarkozy verweist ständig auf das deutsche Vorbild. Stört das die Franzosen? Man hat den Eindruck, es machen sich wieder deutschfeindliche Gefühle breit ...
Das deutsch-französische Verhältnis darf nicht auf einen bloßen Nachahmungsreflex reduziert werden. Noch vor kurzem haben derselbe Präsident und dieselbe Regierung genau das kritisiert, was sie selbst als „deutsches Modell“ bezeichneten. Ich sehe darin ein Risiko: Bei den französischen Bürgern könnte der Eindruck entstehen, man wolle ihnen ein „Modell“ aufzwingen, an dem sogar bekannte deutsche Ökonomen gewisse Aspekte kritisieren, etwa die Zunahme sozialer Unsicherheit und das Anwachsen der Ungleichheiten. So kommt es zu den von Ihnen angesprochenen Gefühlen, die aber glücklicherweise nur eine Minderheit empfindet. Jedes Land hat seine Geschichte und seine Tradition, seine Stärken und seine Schwächen. Gleichwohl sollte man auf einigen Gebieten Übereinstimmung anstreben, etwa in der Steuerpolitik.
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Beabsichtigen Sie, im Falle eines Wahlsiegs die besonderen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland aufrechtzuerhalten?
Die deutsch-französischen Beziehungen müssen weiterhin im Zentrum des Projekts Europa stehen, ohne jedoch ausschließlich zu sein. Sie wirken als treibende Kraft, nicht nur aufgrund der Geschichte unseres Kontinents, sondern ganz einfach weil Frankreich und Deutschland 48 Prozent des Bruttosozialprodukts der Eurozone erwirtschaften, 36 Prozent des EU-Budgets finanzieren und im Rat der Europäischen Union 31 Prozent der Stimmen haben. Dieser Realität muss sich jeder französische Staatspräsident stellen. Ich möchte nicht nur den regelmäßigen Austausch fortsetzen, sondern die deutsch-französischen Beziehungen mit neuem Leben erfüllen, indem ich eine Modernisierung und einen Ausbau des Élysée-Vertrags vom 22. Januar 1963 vorschlage. Eine neue, aktualisierte Version könnte anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum dieses Vertrags im Jahr 2013 präsentiert werden.
Wichtig für die deutsch-französischen Beziehungen scheint mir noch ein zweiter Punkt: dass die Partner zu einem Gleichgewicht zurückfinden. Denn gegenwärtig bildet das deutsch-französische Tandem kein ausgewogenes Gespann, was hauptsächlich an Frankreichs wirtschaftlichem Rückstand liegt, ein Phänomen, das sich in den vergangenen Jahren verstärkt hat. Neben diesem partnerschaftlichen Gleichgewicht brauchen die deutsch-französischen Beziehungen vor allem Stabilität und Beständigkeit. Wenn Nicolas Sarkozy nun am Vorabend der Präsidentschaftswahlen den bedenklichen Versuch unternimmt, die deutsch-französischen Beziehungen zu instrumentalisieren, sollte man sich an das Unbehagen der Jahre 2007 und 2008 erinnern, als der französische Präsident bei der Planung einer Mittelmeerunion Deutschland ins Abseits zu drängen versuchte, oder auch an die Spannungen im Sommer 2011. Mit den deutsch-französischen Beziehungen spielt man nicht. Dafür sind sie zu wichtig.
Die Betonung des deutsch-französischen „Paares“ empfinden andere Länder, besonders im Osten, als irritierend, gar als beunruhigend. Wie werden Sie diesen Befürchtungen begegnen?
Eine der Stärken der deutsch-französischen Beziehungen ist ihre Fähigkeit, andere mitzuziehen, was aber keinesfalls die Einrichtung eines Direktoriums bedeutet. Mitziehen heißt auch, den anderen europäischen Partnern, insbesondere den östlichen, zuzuhören. Ich glaube, wir könnten zum Beispiel gemeinsame trilaterale Foren wiederbeleben, wie etwa das Weimarer Dreieck, in dem Frankreich, Deutschland und Polen sich austauschen.
Sie unterhalten enge Verbindungen zur SPD. Doch derzeit ist in Deutschland eine andere Mehrheit an der Regierung. Wie wollen Sie Frau Merkel davon überzeugen, den zur Ratifizierung vorliegenden Stabilitätspakt neu zu verhandeln und trotz der geplanten Sparmaßnahmen die Wirtschaft anzukurbeln?
Die Verbindung zur SPD ist wichtig: Unsere beiden Parteien tauschen sich regelmäßig aus, wie es auch die konservativen Parteien tun. Und ich habe mich im Übrigen sehr geehrt gefühlt, dass die SPD mich als Ehrengast zu ihrem Parteitag im Dezember 2011 eingeladen hat. Angesichts eines konservativen Europas finde ich es wichtig, ein fortschrittliches Europa zu entwerfen, vor allem in Verbindung mit der SPD. Doch sollte ich zum französischen Staatspräsidenten gewählt werden, wäre meine Partnerin ab dem 7. Mai die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit der ich die großen europäischen Themen in Angriff zu nehmen hätte, darunter auch den europäischen Stabilitätspakt. Was Letzteren betrifft, geht es mir nicht darum, bereits Erarbeitetes zu zerstören, sondern den vorliegenden Text durch einen gezielt auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichteten Teil zu ergänzen. Etwas neu zu verhandeln, bedeutet nicht, es zu vernichten, sondern es zu verbessern. Frankreichs Wort muss zählen.
Wie wird die griechische Tragödie Ihrer Meinung nach ausgehen?
Die Lage Griechenlands ist keine Tragödie, da eine Tragödie zwangsläufig ein schlechtes Ende nimmt. Was Griechenland durchlebt, ist vielmehr eine Krise, eine schwere Krise, die ganz Europa betrifft und für die eine rasche Lösung gefunden werden muss. Mehrere Punkte im Hilfsplan der vergangenen Woche zielen in die richtige Richtung und greifen sogar Vorschläge auf, die schon vor langer Zeit von der Linken formuliert wurden: Griechenlands private Gläubiger werden stark herangezogen, die Banken zahlen. Im Übrigen konnte man ja sehen, dass sich durch das indirekte Eingreifen der Europäischen Zentralbank Ende Dezember die Märkte für europäische Staatsanleihen ein wenig beruhigt haben. Bei dem von mir geplanten europäischen Pakt für Verantwortung, Governance und Wachstum wird es auch um Griechenland gehen. Die neue europäische Solidarität, die dieser Pakt impliziert, wird für Griechenland ebenso wie für die anderen Länder an der europäischen Peripherie konkrete europäische Hilfe zur Reindustrialisierung bedeuten, damit sie ihre Produktionskapazitäten neu aufbauen können. Natürlich wird dies nicht ohne Gegenleistungen vonstatten gehen: Griechenland muss die Entschuldung vorantreiben und seine ausgedehnte Schattenwirtschaft wieder unter staatliche Kontrolle bringen.
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Sollten die europäischen Institutionen eine stärkere Rolle spielen oder werden Sie die in den vergangenen Jahren verfolgte Linie beibehalten, bei der die intergouvernementale Methode den Vorrang hatte?
All jene, die meinen, sie hätten etwas davon, die EU-Institutionen – Europäische Kommission, Europäisches Parlament und EU-Ministerrat – zu schwächen, irren. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben dies bewiesen. Die Einrichtungen der EU müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und die Initiative ergreifen. Und bei unserer wachstumsorientierten Europapolitik werden wir sie stärker berücksichtigen müssen.
In mehreren Ländern begünstigt die Krise das Wiedererstarken extremistischer Kräfte. Doch auch bis hinein in die traditionellen Parteien beobachtet man ein Aufleben nationalistischer Gefühle.
Jegliche Form von Extremismus muss unermüdlich bekämpft werden. Ich bin sehr besorgt über das Auftauchen populistischer Tendenzen in Europa und über die Infragestellung europäischer Grundprinzipien, wie dies in Ungarn der Fall ist. Das europäische Versprechen basiert auf Frieden und Demokratie sowie auf wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung. Die Wirtschaftskrise, unter der ganz Europa leidet und die nach dringenden Antworten verlangt, darf nicht als Vorwand für eine Infragestellung der demokratischen Rechte der Völker, von Werten wie Offenheit und Respekt dienen. Ganz im Gegenteil. Um mit dieser Krise fertig zu werden, brauchen die Europäer mehr denn je Demokratie, Solidarität und gegenseitiges Verständnis. In Frankreich bekämpfe ich mit aller Macht den Front National; denn Abschottung nach außen ist eine tödliche Gefahr, und ich werde nicht zulassen, dass sie in meinem Land um sich greift.
Frankreichs Freunden in Europa fällt der „monarchische“ Charakter Ihres Landes auf, der in der Machtfülle seines Präsidenten begründet liegt. Werden Sie wie die bisherigen Amtsinhaber eine Art „republikanischer König“ sein?
Die französische Verfassung hat ihre speziellen Eigenarten, und diese treten durch die Art der Machtausübung von Nicolas Sarkozy erst recht zum Vorschein. Deshalb habe ich diese Präsidentschaft auch als „unnormal“ bezeichnet. Sarkozy allerdings scheint dieses „Monarchentum“ nicht zu stören; man denke an seinen Vorschlag, ein Referendum über die Schuldenbremse abhalten zu lassen, um auf diese Weise den Arbeitslosen Schuldgefühle einzureden, oder an den Verdacht, er habe sich für die Nominierung seines früheren Umweltministers Jean-Louis Borloo an die Spitze des Umweltkonzerns Veolia starkgemacht.
Falls ich das Vertrauen der Franzosen gewinne, will ich diese Art der Amtsführung ändern. Ich wehre mich dagegen, dass alles von einer einzigen Person, einer einzigen Denkweise, einer einzigen Partei ausgeht. Deshalb werde ich mich nicht nur für eine Stärkung der Rechte zur Gesetzesinitiative und der Kontrollrechte des Parlaments einsetzen – insbesondere was Ernennungen in die höchsten Staatsposten betrifft –, sondern auch vorschlagen, den strafrechtlichen Status des Staatschefs zu reformieren. Im Übrigen wünsche ich mir, dass der Premierminister tatsächlich in der Lage ist, die Regierung zu lenken – was unter dem gegenwärtigen Präsidenten nicht der Fall ist –, und möchte eine andere Form des Regierens einführen, gestützt auf ein neues Dezentralisierungsgesetz und eine stärkere Rolle der Sozialpartner.
Werden Sie mit dem 180 Millionen Euro teuren Flugzeug von Präsident Sarkozy fliegen?
Zunächst sei auf einen parlamentarischen Bericht hingewiesen, wonach dieses Flugzeug 259 Millionen Euro gekostet hat, also weit mehr als die angekündigten 180 Millionen. In Krisenzeiten standen wohl dringendere und nützlichere Ausgaben an. Aber da diese Summe nun mal investiert ist, wird man vor allem auf die Betriebskosten der Maschine schauen müssen. Dies gilt übrigens für sämtliche laufenden Kosten, Reisekosten und Kosten für den Empfang hochgestellter Persönlichkeiten. Falls die Sozialisten im Mai an die Macht kommen, werden sie da ein Beispiel geben müssen.
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Die sozialistische Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen von 2007 hat zur „partizipativen Demokratie“ aufgerufen. Bedeutet dieser Begriff etwas für Sie?
Partizipative Demokratie geht von einer realen Forderung aus, der jeder auf lokaler Ebene gewählte Politiker vor Ort begegnet: Die Bürger wollen eine Beteiligung an den sie betreffenden Entscheidungen. Über die Modalitäten dieser Beteiligung, die auch die Mittlerorganisationen beziehungsweise Interessenverbände mit einschließen muss, wird zu diskutieren sein. Man muss sich überlegen, wie man die Menschen besser an Schlichtungen beteiligen und ihnen die Möglichkeit geben kann, politische Entscheidungsfindungen mitzuverfolgen. Dabei können die neuen Medien helfen. Zu einem neuen Regierungsstil muss auch das gehören.
Sie üben heftige Kritik an dem bisherigen Umgang von Regierungen und europäischen Institutionen mit der europäischen Krise. Sehen Sie auch Grund zur Hoffnung?
Meine Hoffnung gilt den von mir entwickelten Plänen für einen europäischen Aufschwung. Ich will den aus dem Abkommen vom 9. Dezember 2011 hervorgegangenen Stabilitätsvertrag neu verhandeln, nicht um ihn abzuschaffen, sondern um ihn zu ergänzen und zu verbessern. Dabei will ich nicht die Haushaltsdisziplin infrage stellen, eine notwendige und vordringliche Antwort auf die aktuelle Krise, sondern dafür sorgen, die Europapolitik im Hinblick auf die Krisenbewältigung anders zu gewichten und neu auszurichten. Wir stehen heute vor unerfüllten Erwartungen: Wir brauchen ein wachstumsorientiertes Europa, ein beschäftigungsorientiertes Europa. Darauf richten sich meine Hoffnungen.
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